Es war einmal im Ringgau

Oma Christines nordhessische Sagen und Rezepte

(Autor)

Buch | Hardcover
176 Seiten
2013
Größenwahn Verlag
978-3-942223-24-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Es war einmal im Ringgau - Edit Engelmann
9,90 inkl. MwSt
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Zwischen Eschwege und Eisenach, mit einem Ausläufer im Werra-Meißner-Kreis und mit dem anderen im Wartburgkreis, liegt der Ringgau. Ritter, Grafen, edle Jungfrauen, Minnesänger, Wichtelmänner, Könige und Heilige: Alle haben sie hier gelebt oder sind zumindest einmal vorbeigekommen. Neben Kaiser Barbarossa und der Heiligen Elisabeth hat auch Oma Christine ihre Spuren hinterlassen, in Form von Geschichten und Rezepten.
'Gebannt saßen wir auf der wackeligen, lehnenlosen Bank unter dem kleinen Fenster am hölzernen Tisch ...', berichtet Edit Engelmann, die Jahre später das alte Kochheft ihrer Oma wiederentdeckt, 'und lauschten Omas Geschichten, während sie auf dem riesigen Kohleherd mit den vielen eisernen weißen Klappen das Essen für uns alle zubereitete. Zwischendurch durften wir probieren und naschten mit dem Finger die Reste aus so mancher Schüssel, in der gerade Kuchen, Pudding oder andere Süßigkeiten zubereitet wurden. Wenn nichts Derartiges für uns Kinder zu ergattern war, bekamen wir eine dicke Scheibe Rotwurst - oder einen Runken 'Ahle Worscht', wie Oma es nannte.'
In Erinnerung an ihre Kindertage beschloss die Autorin, das Kochbuch der Oma Christine neu aufzuschreiben - und zwar so lebendig, wie es bei ihrer Oma in der Küche zugegangen ist: Gerichte und Geschichten - abwechselnd und im Einklang miteinander. Das vorliegende Buch ist ein nostalgischer Streifzug durch die Geschichten- und Sagenwelt Nordhessens. Bilder und Illustrationen schaffen das entsprechende Ambiente und zeigen Ausschnitte aus dem Leben von anno dazumal. Und die alten Rezepte - bestechend in ihrer Einfachheit, original, ohne Geschmacksverstärker, genau so naturbelassen, wie es bei Oma immer geschmeckt hat - laden dazu ein, in eine scheinbar vergessene Zeit einzutauchen. Es war einmal im Ringgau ...

Edit Engelmann, 1957 in der Nähe von Kassel geboren, absolvierte ein Marketingstudium. Im Rahmen ihrer beruflichen Laufbahn bei verschiedenen nationalen und internationalen Konzernen reiste sie viel und verbrachte einige Jahre im europäischen und nichteuropäischen Ausland. Heute lebt sie in Athen, sie übernimmt Übersetzungsarbeiten und Marketing- und Kommunikationsprojekte auf freiberuflicher Basis. Publikationen: 'KRISE! KRISE! Schulden am Olymp - Tagebuch eines Frosches' Vlg. Größenwahn / Juli 2011; 'Zitronen aus Hellas – Geschichten und Rezepte von einer, die auszog um griechisch zu leben' Vlg. Größenwahn / Oktober 2011; 'Griechische Einladung – Erzählungen, Geheimnisse und Rezepte' Anthologie. Edit Engelmann ist die Herausgeberin mit zwei eigenen Kurzgeschichten und Rezepten, Vlg. Größenwahn / April 2013; 'Xenos in Griechenland – Erzählungen deutschsprachiger Immigranten' Beim Kurzgeschichtenwettbewerb ›Xenos in Griechenland‹, organisiert vom Goethe Institut Thessaloniki und dem Größenwahn Verlag, wurde ihre Geschichte 'Verkehr' ausgewählt und erschien in der Anthologie. Vlg. Größenwahn / Oktober 2011.

EINLEITUNG
SUPPEN
JUNKER JÖRG AUF DER WARTBURG
WIE DIE WARTBURG ERBAUT WURDE
DER SÄNGERKRIEG AUF DER WARTBURG
DIE BRENNENDEN BUCHSTABEN
WIE DIE HEILIGE ELISABETH NACH THÜRINGEN KAM
WIE DER RÄUBERHAUPTMANN HENNING GEFANGEN WURDE
DIE GÄNSEKERLE
SALATE
DER TOD DES POSTILLIONS
DIE BLUTIGE KIRMES
DIE AAPDRÖCKERSCHE IN MÖHRA
BEILAGEN
DIE WILDE JAGD
DIE SAGE VOM RITTER TANNHÄUSER IM HÖRSELBERG
DIE BLINDEN HESSEN
GUTES VOM BLECH
DA ALSO LIEGT DER HUND BEGRABEN
AUS EINEM TOPF
DER TAPFERE RITTER WALTMANN VON SÄTTELSTÄTT
BESONDERHEITEN AUS OMAS KÜCHE
DER SAGE VON DEN FORELLEN UND DEN AALEN
GERICHTE MIT GEHACKTEM
DER ELBEL
DIE WICHTEL UND DER BAUER VON DANKMARSHAUSEN
FLEISCHGERICHTE
DER AUSZUG DER WICHTEL
DIE WICHTELMÄNNCHEN UND DIE BERGKIRCHE
KURZGEBRATENES
DER SCHUSTER JOBST UND DIE WICHTEL
SÜSSE SPEISEN
DER LETZTE TRAUERRITTER
OTTO DER QUADE VOR ESCHWEGE
NACHSPEISEN
DER SCHÄFER VOM RENDAER TAL
DIE BLUMEN AUF DEM RITTERSHÄUSER GRAB
DER HOCHHÄUSER HIRTE
OMAS BACKBUCH
DER SCHATZ DER BOYNEBURG
DER ARME SCHÄFER UND DIE JUNGFRAU
OMAS KAFFEETORTEN
DER BURGGEIST AUF DER BOYNEBURG
OMAS PLÄTZCHENDOSE
BROT BACKEN
DAS FRÄULEIN VON DER BOYNEBURG
EINGEMACHTES UND EINGELEGTES
DAS HOHE KREUZ
DAS SPINNRAD AM SIECHENRAIN
ANMERKUNGEN
LITERATURVERZEICHNIS
LANDKARTE RINGGAU
BIOGRAPHISCHES

Unsere Vorfahren, so erzählte mir Oma Christine, waren Marketender. Im eigentlichen Sinne waren das eine Art Handlungsreisende, die während des 17. Jahrhunderts mit den kämpfenden Heeren reisten und diese mit allem Lebensnotwendigen versorgten. Es waren zum Teil ganze Familien, die schwer in ihren vollgestopften Planwagen arbeiteten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Es gab natürlich auch etliche Frauen, die nur zur Belustigung der Soldaten mitreisten und diese anderweitig schadlos hielten. Und so hat im Laufe der Jahre der Begriff Marketender etwas gelitten und einen Beigeschmack erhalten, der den ursprünglichen Sinn und Zweck dieses Berufsstandes nicht mehr korrekt widerspiegelt. Unsere Vorfahren jedenfalls haben wohl das Heer der Schweden begleitet, das gegen Wallenstein und Tilly durch die deutschen Lande zog. Wer übrigens denkt, dass der Dreißigjährige Krieg ein einziger, 30 Jahre andauernder Krieg gewesen ist, liegt falsch. Jeder kämpfte quasi gegen jeden, Protestanten gegen Katholiken, Schweden gegen Deutsche, die deutschen Fürsten waren mit ihrem Kaiserreich nicht mehr einverstanden und ganz Europa sah eine willkommene Gelegenheit, die Balance der Macht wieder einmal komplett neu zu mischen. Und so war eigentlich jeder auf die eine oder andere Weise beteiligt an diesem Krieg, der sich in zahlreiche Unterkriege aufteilte. Im Laufe der andauernden Auseinandersetzungen ließ die Disziplin der verschiedenen Heere und Soldaten immer mehr nach, die Sitten wurden rauer und das Geld knapper. Sehr zum Unwillen der Bevölkerung verpflegten die Soldaten sich nunmehr über Plünderungen, was den Berufsstand der Marketender – bis eben auf jene gewisse Damen – überflüssig machte. Und so blieben unsere Vorfahren inmitten dieses Tohuwabohus irgendwo in einem kleinen Tal im Nordhessischen hängen – im Ringgau. Sie wurden als Bauern sesshaft. Wann und wie das genau geschehen ist, ist nicht mehr nachzuvollziehen, aber so um 1770 herum können sie in der dortigen Ortschaft Datterode nachgewiesen werden. Der Ringgau liegt südlich von Eschwege zwischen dem Meißner und dem Thüringer Wald. Im Jahr 993 wurde die Region erstmals unter dem Namen 'Reinichgooue' erwähnt. Im Jahr 1436, am Ende des hessisch-thüringischen Erbfolgekrieges, kam das ehemals thüringische Gebiet endgültig zu Hessen. Nur ein ganz kleiner Zipfel verblieb im Thüringischen und gehört auch heute noch zum Wartburgkreis. Malerisch liegen die kleinen Orte in den romantischen Tälern der nordhessischen Bergwelt, gerade so, als hätte ein Riese beim Wandern ab und zu ein paar bunte Häuschen aus seinem Reisesack verloren. Dunkle Wälder ruhen auf den Anhöhen, die sich je nach Jahreszeit mit den farbigen Würfeln der Felder ablösen. Hier findet man noch Orchideenarten, Versteinerungen im Muschelkalk, und mitunter sieht man auch den einen oder anderen inzwischen schon selten gewordenen Greifvogel in freier Natur. Viele der kleinen Ortschaften hier lassen sich als 'regellos gebaute Haufendörfer' klassifizieren, was wohl heißt, dass jeder dort sein Haus hinsetzte, wie er sich das vorstellte, ohne sich an irgendwelche Be-bauungspläne zu halten oder Dachgiebel auszurichten. Dadurch haben sich die Dörflein allerdings auch einen Charme geschaffen, der sich bis in die heutige Zeit bewahrt hat. Wen wundert es da, dass die Orte noch heute beliebte Ausflugsziele und Luftkurorte sind? Jeder, der sich für Märchen interessiert, fühlt sich von dieser Gegend magisch angezogen. Sollte irgendwo ein Mittelalter par excellence stattgefunden haben, dann hier. Ritter, Grafen, edle Jungfrauen, Minnesänger, Wichtelmänner, Könige und Heilige: Alle haben sie hier gelebt oder sind zumindest einmal vorbeigekommen. Obgleich die einzelnen Dörfer eher klein und unbedeutend ihr Dasein fristeten, wurden sie zum Beispiel von Kaiser Barbarossa durchreist, und in einem von ihnen, nämlich Eisenach, lebte die Heilige Elisabeth mitten unter ihnen. Sie alle haben einen unglaublichen Reichtum an Legenden, Sagen und Geschichten hinterlassen, die gerade diese Region zu einer wahren Inspirationsquelle für die Brüder Grimm werden ließ. Dabei war das Land mit seinem kargen Mengelboden schon damals für die Landwirtschaft nicht besonders gut geeignet. Dementsprechend war das Leben der Bewohner von Mangel und Armut geprägt. Von den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges und dem Einfall des kroatischen Heeres unter Isolani 1637, wodurch quasi der gesamte Landstrich und alle Dörfer bis auf die Grundmauern verwüstet wurden, erholten sie sich nur mühsam. Auch die folgenden beinahe 300 Jahre waren mehr ein Leben von der Hand in den Mund. Ein mittelständischer Wohlstand kam erst auf, als sich in der Umgebung die ersten Industrien niederließen. Eschwege und Eisenach boten plötzlich Arbeitsplätze, mehr Menschen siedelten sich an und die Gegend schaffte sich vor dem Krieg einen bescheidenen Luxus. Oma Christine, um 1880 in eine wirklich turbulente Zeit geboren, machte alles mit: die Anfänge der industriellen Revolution, die Umstel-lung von Pferden auf Automobile, zwei Weltkriege, die Anfänge des Wirtschaftswunders und die ersten Flugzeuge. Zum Schluss sah sie sich sogar mit Weltraumflügen konfrontiert; die allerdings erschienen ihr bis an ihr Lebensende höchst suspekt und unglaubwürdig. Aufgewachsen war Oma auf einem mittelgroßen Bauernhof in einem kleinen Ort nordöstlich von Eschwege, während Datterode im Südosten der Kreisstadt liegt. Wie und wann sie Opa begegnete, hat sie uns leider nicht verraten. Bekannt wurde aber wohl, dass die Ehe mit Opa Fritz eine ausgesprochene Liebesheirat gewesen war. Man munkelte sogar, sie habe sich die Ehe ertrotzt und ihre Liebe durchgesetzt; eine beachtliche Leistung für eine junge, gut erzogene Bauerstochter, war doch die Einflussnahme der Eltern auf die künftige Eheschließung gerade in diesen Kreisen seinerzeit noch recht groß. Wenn ich mir Fotos von Opa in späteren Jahren anschaute und ihn mir dann als jungen Mann vorstellte, konnte ich Omas Trotzkopf nachvollziehen. In seinen jungen Jahren muss Opa einen gewissen Schalk im Nacken gehabt haben. Außerdem sah er recht gut aus und verfügte über einen trockenen Humor im passenden Moment, der sich erfreulicherweise als erblich herausgestellt hat. Kurz nach der Jahrhundertwende haben die beiden den Bund der Ehe geschlossen, aus der drei Kinder hervorgingen: mein Onkel, der im Krieg gefallen ist, meine Tante und, als Nachzügler, beinahe zwei Jahrzehnte später mein Vater. Diese verspätete Ankunft meines Vaters hat die nachfolgenden Generationen ziemlich durcheinandergewirbelt, denen heute das Nachrechnen schwer fällt: Dann ist der Sohn von deiner Cousine gar nicht mein Onkel? Und diese Tante ist dann ja auch nicht meine Tante? Und was sind dann die Kinder von diesem Onkel im Verhältnis zu mir? – Verwandte. Lassen wir es dabei. Das Leben auf einem mittleren Bauernhof anfangs des 20. Jahrhun-derts war in dieser Gegend durchaus noch an überlebensstrategische Fähigkeiten gekoppelt. Opa Fritz war Bauer mit Leib und Seele und übte keine weitere Berufstätigkeit aus, hatte aber als Hoferbe eine stattliche Anzahl Geschwister auszuzahlen. Das bedeutete für Opa - in Zeiten von Inflation und Krieg - eine wirtschaftlich nicht unbedingt beschwerdefreie Zeit und hatte für Oma also zur Folge, dass Schmalhans oftmals der Küchenmeister war und sie ihren kreativen Kochideen freien Lauf lassen musste. Glücklicherweise lieferten Hühner und Gänse, Schweine und Kühe genauso ihren Beitrag wie die Ernte von Feldern und Wäldern, so dass der echte, strenge Hunger nie Einzug hielt. Opas Leben spielte sich hauptsächlich im Freien ab: Pflügen, Säen, Ernten und die Versorgung der Tiere; und das mit Pferde- und Ochsen-karren. Damals gab es noch keine Aussiedlerhöfe, und die Tiere - von der Anzahl her recht überschaubar - lebten mit der Familie zusammen auf dem Hof. Opas Hof war im Stil der dortigen Gegend im Fachwerk gebaut. Gegenüber eines doppelstöckigen und verhältnismäßig geräumigen Wohnhauses befand sich der Kuh- und Pferdestall, vor dem ein riesiger Misthafen in die Höhe wucherte – um nicht zu sagen: sich stinkend aufbäumte. Im richten Winkel zum Wohnhaus stand die große Scheune mit ei-nem riesigen Tor, wo Heu und Stroh gelagert sowie die damals gebräuchlichen Landmaschinen aufbewahrt wurden; um die Jahrhundertwende waren das hauptsächlich Körbe und Leiterwagen. Erst nach dem zweiten Weltkrieg wurde, voller Stolz, der erste Traktor in die Scheune gefahren. Der Boden eignete sich wie alle Heu- und Strohböden hervorragend, um auf die Balken zu klettern und sich jauchzend ins eingelagerte Heu fallen zu lassen; eine Aktivität, die wir als Kinder liebten und die unseren Eltern immer wieder Schweißperlen in den Nacken trieb, weil sie sich sorgten, wir könnten an irgendeinem Balken mit dem Kopf oder Nacken aufprallen. Deshalb wurde uns diese sportliche Betätigung schlichtweg untersagt – und von uns heimlich ausgeführt. Zwischen Scheune und Wohnhaus lag der Schweinestall mit vier oder fünf Boxen, in denen Ferkel und Säue fröhlich durcheinander quiekten und täglich aus dem Schweineeimer gefüttert wurden, der in Omas Küche neben dem Herd stand und die Küchenabfälle sammelte. Schweine sind eben Allesfresser aus Leidenschaft. Der Hof innerhalb dieses U-förmigen Quaders war mit Kopfsteinpflaster und runden Steinen so großflächig ausgelegt, dass für alle Kinder genügend Pfützen übrig blieben, in denen wir uns suhlen und so richtig eindrecken konnten. Neben den Stallungen angebaut war eine kleinere Scheune mit Tier-futter und den Ställen für das Geflügel. In einem Bretterverhau der unter einer Stalltreppe eingelassen und mit einer Holztür verschlossen war, befand sich auch die Toilette, die natürlich ein – wie Oma es nannte – Plumpsklo war. Ich konnte wirklich nicht verstehen, wieso meine Cousine da drin Schlittschuhlaufen konnte. Immer wenn ich nämlich auf dem Hof gerufen habe: 'Cousinchen, wo bist du?', hat sie zurückgerufen: 'Auf dem Häuschen, fahr’ Schlittschuh.' - Da mach dir als Fünfjährige mal einen Reim drauf. Ich dachte damals, das ginge wirklich. Opa hatte seine Mannschaft fest im Griff. Ich selbst erinnere mich an ihn nur als einen alten Mann über siebzig, klein und rundlich mit einer Glatze, einem silbergrauen Haarkranz und einem riesengroßen gezwirbelten Oberlippenbart. Er strahlte Gemütlichkeit aus, hatte raue feste Hände, und auf seinem Schoß ließ es sich herrlich sicher und bequem sitzen. Mit all der unerschütterlichen Ruhe, die er in sich trug, wusste er sein Reich zu regieren und zu dirigieren. Alle, die alt genug waren, mussten in Haus und Hof mit anpacken. Im Wesentlichen betraf das meine Eltern und Tante sowie Cousins und Cousinen, die erheblich älter waren und schon unter Pubertätskrankheiten litten, als ich gerade das Laufen lernte. Kleine und größere Fehlverhalten büßten sie mit Stallmisten. Wer saufen kann, kann auch den Stall ausmisten, war das Motto meines Großvaters, wenn er meinen Vater am Kirmes-Sonntag früh am Morgen wecken kam. Aber auch das Melken und die Feldarbeit gehörten zu den Aufgaben. Mein Bruder und ich als Hofküken hingegen durften die Hühner füttern, Eier holen und Oma in der Küche helfen. Als ich schon ein Fahrrad mit Stützrädern mein eigen nannte und in Anlehnung an den erfolgreichsten deutschen Automobilrennfahrer der Vorkriegszeit Rudolf Karratsch auf den Namen 'Carraciola' hörte, war ich dafür verantwortlich, sowohl Nachrichten als auch Kleinteile vom Hof zu den dorfnahe gelegenen Feldern zu bringen. Dafür raste ich dann so 27 bis 38 mal pro Tag mit dem Rädchen vom Hof zum Feld hin und wieder zurück, um Bonbons zu holen, eine Schraube, einen Strick oder was auch immer meine lieben Verwandten zur Feldarbeit unbedingt nötig hatten. Oma verließ Haus und Hof zu dieser Zeit nur noch selten. Vor dem Krieg allerdings war sie regelmäßig zu den Markttagen gegangen, um ihre landwirtschaftlichen Produkte anzubieten. Zu diesem Zweck packte sie ihre Kötze - einen großen viereckigen Rückenkorb - mit allen möglichen Produkten frisch vom Bauernhof und machte sich früh morgens auf den Fußmarsch nach Eschwege. Die Wälder und Bergkuppen, die Oma auf diesen Marktwanderungen durchquert hatte, waren dieselben, die dereinst auch die Gebrüder Grimm auf ihrer Märchensuche bewanderten. Denn die Gegend hier war schon seit alters bekannt dafür, dass Elfen, Kobolde, Wichtelmänner und Zwerge ihr Unwesen trieben. Darüberhinaus gab es eine Vielzahl an Sagen, die ihren Eingang in die Märchenwelt nicht gefunden haben. Sie erzählen von Grafen und Jungfrauen, von Rittern und Mönchen, von verborgenen Schätzen und alten Geheimnissen. Genau davon handelten die Geschichten, mit denen Oma Christine uns Kinder unterhielt, wenn wir bei ihr in der Küche waren. Fernseher gab es nämlich noch nicht - jedenfalls bei uns - und auch keine Kindergärten. Omas Erzählungen waren für uns die Comics, die Krimis, die Seifenopern und die Serien unserer Kindheit. Gebannt saßen wir auf der wackeligen, lehnenlosen Bank unter dem kleinen Fenster am hölzernen Tisch und lauschten Omas Geschichten, während sie auf dem riesigen Kohleherd mit den vielen eisernen weißen Klappen das Essen für uns alle zubereitete. Wenn wir zu Besuch kamen, waren das doch immerhin stattliche zehn Mann, und mitunter kamen noch Erntehelfer, Knechte und Mägde hinzu. Wenn nicht gerade ein besonderer Festtag war, wo sie sich etwas Ruhe gönnte und im Sonntagsstaat auf der Bank saß, dann fielen ihr die Sagen und Berichte während des Zusammenrührens der Zutaten in ihren Eisenpfannen und Töpfen ein. Zwischendurch durften wir probieren und naschten mit dem Finger die Reste aus so mancher Schüssel, in der gerade Kuchen, Pudding oder andere Süßigkeiten zubereitet wurden. Wenn nichts Derartiges für uns Kinder zu ergattern war, bekamen wir eine dicke Scheibe Rotwurst – oder einen Runken 'Ahle Worscht' wie Oma es nannte. Die schmeckte, wie es so schön heißt, auch in der allergrößten Not ausgezeichnet ohne Brot. Omas Gerichte waren bestechend in ihrer Einfachheit. Exotische Ge-würze und dergleichen gab es nicht. Pfeffer und Salz, etwas Majoran und Senf, des Sommers noch frische Gartenkräuter, und daraus wurde etwas gebrutzelt. Das Allerbeste daran: Alles war original und ohne Ge-schmacksverstärker, chemische Zusatzprodukte und anderweitige Stoffe, die den Halbundganzundgarfixundfertig-Produkten von heute beige-mischt sind. Bei Oma schmeckte alles so, wie es von Natur aus zu schmecken hatte. Ich war schon erwachsen und stark mit meiner Karriere beschäftigt, als meine Mutter eines Tages mit einem kleinen schwarzen Schulheft auftauchte. Der Rücken war vom vielen Gebrauch gebrochen und abge-schabt, innen sammelten sich Eselsohren, Fettflecke und lose Zetteleinlagen: Oma Christines Kochbuch, wie meine Mutter mir voller Stolz erzählte. Sie hatte es von meinem Cousin bekommen, der es als altes Erbstück auf dem Hof gefunden hatte, aber das Sütterlin nicht mehr lesen konnte, in dem es geschrieben war. Mama sollte es abtippen und fragte mich, ob ich auch eine Kopie haben wolle. Als frischgebackene Managerin, heftig auf Reisen, ständig unterwegs in Hotels und mit kaum Zeit für Kochen oder Haushalt hätte ich nicht weniger interessiert sein können, stimmte aber zu, als ich Mamas sehnsüchtigen Blick sah. Traditionen und Erbstücke soll man in Ehre halten, teilten mir ihre Augen stumm mit – und welchen Gefallen sie mir damit getan hat, sollte ich erst viele Jahre später merken. Das erste Mal so richtig bewusst fiel mir Omas – inzwischen abgetipptes – Kochbüchlein in die Hände, als ich selbst sesshaft geworden war, Mann und Kind hatte und die gesammelten Kochbücher ordentlich ins Regal räumen wollte. Ich begann darin zu lesen – und die Erinnerungen kamen zurück. Wie es schmeckte. Wie wir alle um den alten Küchentisch oder abends bei spärlichem Licht im Wohnzimmer saßen. Wie wir vom Hof aufbrachen, um am Himmelfahrtstag das Boyneburgsbrot in Empfang zu nehmen und wie Oma uns die Geschichte dazu erzählte. Und beim Lesen kam mir so manche Sage wieder in den Sinn, die mir damals erzählt worden war. Ich begann, einige Rezepte auszuprobieren und hatte durchschlagenden Erfolg, bei Familie wie Freunden. So entschloss ich mich, in Erinnerung an meine Kindertage, Omas Kochbuch noch einmal aufzuschreiben – und zwar so, wie es bei ihr in der Küche zugegangen ist: Gerichte und Geschichten – abwechselnd und im Einklang miteinander. Generell habe ich Omas Worte im Original stehen lassen – sofern sie die Zubereitung beschrieb. Bei vielen Zutaten hat sie allerdings nur Listen hinterlassen, so dass ich die Zubereitungsweise durch Eigenversuche herausfinden musste. Diese Anweisungen habe ich dann nach meiner eigenen Erfahrung abgefasst. Viele der Geschichten habe ich natürlich noch einmal nachgeschlagen – aber ich versuche sie so spannend und lustig einzufügen, wie Oma es gemacht hat, während sie in ihren Töpfen rührte. Bevor wir richtig beginnen, möchte ich noch auf den Anhang verweisen. Dort findet sich eine Karte vom Ringgau und Umgebung, damit sich die erzählten Sagen und Geschichten auch örtlich zuordnen lassen. Außerdem ist Omas Originalliste beigefügt mit ihrer Umrechnungstabelle Löffel/Gramm sowie weiteren Erklärungen zu den verwendeten Zutaten.

Unsere Vorfahren, so erzählte mir Oma Christine, waren Marketender. Im eigentlichen Sinne waren das eine Art Handlungsreisende, die während des 17. Jahrhunderts mit den kämpfenden Heeren reisten und diese mit allem Lebensnotwendigen versorgten. Es waren zum Teil ganze Familien, die schwer in ihren vollgestopften Planwagen arbeiteten, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Es gab natürlich auch etliche Frauen, die nur zur Belustigung der Soldaten mitreisten und diese anderweitig schadlos hielten. Und so hat im Laufe der Jahre der Begriff Marketender etwas gelitten und einen Beigeschmack erhalten, der den ursprünglichen Sinn und Zweck dieses Berufsstandes nicht mehr korrekt widerspiegelt.
Unsere Vorfahren jedenfalls haben wohl das Heer der Schweden begleitet, das gegen Wallenstein und Tilly durch die deutschen Lande zog. Wer übrigens denkt, dass der Dreißigjährige Krieg ein einziger, 30 Jahre andauernder Krieg gewesen ist, liegt falsch. Jeder kämpfte quasi gegen jeden, Protestanten gegen Katholiken, Schweden gegen Deutsche, die deutschen Fürsten waren mit ihrem Kaiserreich nicht mehr einverstanden und ganz Europa sah eine willkommene Gelegenheit, die Balance der Macht wieder einmal komplett neu zu mischen. Und so war eigentlich jeder auf die eine oder andere Weise beteiligt an diesem Krieg, der sich in zahlreiche Unterkriege aufteilte. Im Laufe der andauernden Auseinandersetzungen ließ die Disziplin der verschiedenen Heere und Soldaten immer mehr nach, die Sitten wurden rauer und das Geld knapper. Sehr zum Unwillen der Bevölkerung verpflegten die Soldaten sich nunmehr über Plünderungen, was den Berufsstand der Marketender - bis eben auf jene gewisse Damen - überflüssig machte. Und so blieben unsere Vorfahren inmitten dieses Tohuwabohus irgendwo in einem kleinen Tal im Nordhessischen hängen - im Ringgau. Sie wurden als Bauern sesshaft. Wann und wie das genau geschehen ist, ist nicht mehr nachzuvollziehen, aber so um 1770 herum können sie in der dortigen Ortschaft Datterode nachgewiesen werden.
Der Ringgau liegt südlich von Eschwege zwischen dem Meißner und dem Thüringer Wald. Im Jahr 993 wurde die Region erstmals unter dem Namen 'Reinichgooue' erwähnt. Im Jahr 1436, am Ende des hessisch-thüringischen Erbfolgekrieges, kam das ehemals thüringische Gebiet endgültig zu Hessen. Nur ein ganz kleiner Zipfel verblieb im Thüringischen und gehört auch heute noch zum Wartburgkreis.
Malerisch liegen die kleinen Orte in den romantischen Tälern der nordhessischen Bergwelt, gerade so, als hätte ein Riese beim Wandern ab und zu ein paar bunte Häuschen aus seinem Reisesack verloren. Dunkle Wälder ruhen auf den Anhöhen, die sich je nach Jahreszeit mit den farbigen Würfeln der Felder ablösen. Hier findet man noch Orchideenarten, Versteinerungen im Muschelkalk, und mitunter sieht man auch den einen oder anderen inzwischen schon selten gewordenen Greifvogel in freier Natur.
Viele der kleinen Ortschaften hier lassen sich als 'regellos gebaute Haufendörfer' klassifizieren, was wohl heißt, dass jeder dort sein Haus hinsetzte, wie er sich das vorstellte, ohne sich an irgendwelche Be-bauungspläne zu halten oder Dachgiebel auszurichten. Dadurch haben sich die Dörflein allerdings auch einen Charme geschaffen, der sich bis in die heutige Zeit bewahrt hat. Wen wundert es da, dass die Orte noch heute beliebte Ausflugsziele und Luftkurorte sind?
Jeder, der sich für Märchen interessiert, fühlt sich von dieser Gegend magisch angezogen. Sollte irgendwo ein Mittelalter par excellence stattgefunden haben, dann hier. Ritter, Grafen, edle Jungfrauen, Minnesänger, Wichtelmänner, Könige und Heilige: Alle haben sie hier gelebt oder sind zumindest einmal vorbeigekommen. Obgleich die einzelnen Dörfer eher klein und unbedeutend ihr Dasein fristeten, wurden sie zum Beispiel von Kaiser Barbarossa durchreist, und in einem von ihnen, nämlich Eisenach, lebte die Heilige Elisabeth mitten unter ihnen. Sie alle haben einen ung

Erscheint lt. Verlag 28.6.2013
Reihe/Serie GASTRONOMIA
Verlagsort Fankfurt am Main
Sprache deutsch
Maße 154 x 216 mm
Gewicht 64 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Literatur Historische Romane
Literatur Märchen / Sagen
Sachbuch/Ratgeber Essen / Trinken Grundkochbücher
Sachbuch/Ratgeber Essen / Trinken Themenkochbücher
Schlagworte Erzählungen • Frauen, Männer, Nordhessen, Hessen, Kochen, Trinken, Märchen, Legenden,Sagen, Heimatgeschichte, Deutschland Geschichte, Tradition, Kochbuch, Rezepte, Ringgau • Heimatgeschichte • Kochbuch • Kochen/Kochbuch; Nordhessen • Nordhessen; Küche • Nordhessen, Literatur; Sagen • Omas Rezepte • Ringau • Ringgau, Literatur; Sagen • Sagen Hessen
ISBN-10 3-942223-24-4 / 3942223244
ISBN-13 978-3-942223-24-9 / 9783942223249
Zustand Neuware
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