Ach du dickes B (eBook)

Eine Berliner Pleitengeschichte
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
224 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-7637-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ach du dickes B -  Cornelia Tomerius
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In keiner anderen Stadt führen große Projekte so zielsicher in die große Pleite wie in Berlin, versickern Träume mit den Millionen. Das Flughafendesaster hat eine lange Tradition: Berlins Geschichte ist geprägt von Flops und Luftnummern. Cornelia Tomerius hat sie alle versammelt: die schönsten Blamagen der letzten 775 Jahre - eine fröhliche Berliner Pleitenchronik! Schuld an der Misere sind nicht immer die anderen: Zwar war Berlin oft vom Schicksal gebeutelt und Spielball anderer Mächte. Doch vieles, was schiefläuft, ist hausgemacht und wurzelt im Größenwahn, der die Stadt von jeher regiert. Wer nichts zu verlieren hat, wird mutig. Wer kein Geld hat, gibt erst recht gern aus. Dass man immer wieder krachen geht, scheint den Berliner indes kaum noch zu jucken. In Berlin wird das Scheitern zur Tugend, hier zieht man seine Kraft aus Niederlagen und Rückschlägen. »Ach du dickes B« beschreibt Berlins Pleiten, Blasen und Blamagen, erzählt von prominenten Nieten und erfolglosen Sportclubs, von gescheiterten Olympiaträumen und dem Flughafendesaster, von Bausünden und Konstruktionsfehlern, von S-Bahn-Entgleisungen und omnipräsenten Gehwegschäden. Es zeigt, was das permanente Scheitern mit der Stadt und ihren Menschen macht - und ergründet auf diese Weise das rätselhafte Wesen der Hauptstädter.

Cornelia Tomerius, geboren 1974 in Dessau, studierte Soziologie, Journalistik und Anglistik in Göttingen und Leipzig und schreibt als freie Autorin mit Schwerpunkt Gesellschafts- und Reisethemen u. a. für Merian, Frank¬furter Rundschau und Berliner Zeitung. Zuletzt erschien Ein Jahr in Istanbul. Reise in den Alltag (2008). Cornelia Tomerius lebt seit 2001 in Berlin.

Cornelia Tomerius, geboren 1974 in Dessau, studierte Soziologie, Journalistik und Anglistik in Göttingen und Leipzig und schreibt als freie Autorin mit Schwerpunkt Gesellschafts- und Reisethemen u. a. für Merian, Frank¬furter Rundschau und Berliner Zeitung. Zuletzt erschien Ein Jahr in Istanbul. Reise in den Alltag (2008). Cornelia Tomerius lebt seit 2001 in Berlin.

Aufschwung West Knut und das Riesenrad Der Himmel über Berlin tat alles dafür, dass niemand ihm zu nahe kommen wollte. Kühl und bedeckt gab er sich, schauerte und schüttete und verbreitete eine ziemlich miese Stimmung. Der Regierende Bürgermeister ließ sich davon nicht beirren. Wie immer, wenn es aufwärtsging in Berlin, war Klaus Wowereit bester Laune. Und aufwärts ging es, diesmal sogar messbar. 185 Meter hoch sollte das Riesenrad werden, für dessen ersten Spatenstich man sich an jenem regnerischen 3. Dezember 2007 an dessen künftigem Standort einfand. Als »neues Wahrzeichen « beschwor Wowereit im Baustellenzelt das gigantische Fahrgeschäft, »denn es wird als zweithöchstes Gebäude nach dem Fernsehturm von keinem Punkt der Stadt aus zu übersehen sein«. Auch das Ausland würde es nicht ignorieren können, wäre es doch sogar das höchste Riesenrad in ganz Europa. Das stand vorerst aber noch in London. 135 Meter misst das London Eye, es hat 32 Gondeln für je 25 Passagiere und bewegt sich mit 16 Metern pro Minute viermal so schnell wie ein Faultier im Baum. In dreißig bis vierzig Minuten fährt man einmal rundum und kann bei guter Sicht 40 Kilometer weit bis zum Windsor Castle blicken. Seit seiner Eröffnung im März 2000 hat das Riesenrad nicht nur die Silhouette der Stadt um eine hübsche Rundung bereichert, sondern London um eine Attraktion: Weit über drei Millionen Leute fahren pro Jahr mit dem London Eye, so viele Besucher zählt noch nicht mal das Taj Mahal. Als im Jahr 2003 ein paar Investoren anboten, auch in Berlin ein solches Rad zu bauen, musste man nicht lange überlegen. Die Silhouette war gewiss ausbaufähig, das Symbol stimmig: Zusammen mit dem Fernsehturm, einer Art Diskokugel am Dönerspieß, würde das Riesenrad klare Zeichen setzen in einer Stadt, die nun mal kein Big Business hat, das die Skyline mit Wolkenkratzern bestückt. Aber dafür einen Bürgermeister, der sich gern vergnügt. Außerdem bot das Rad eine gute Gelegenheit, gegenüber London - mit seinen fast acht Millionen Einwohnern im Gegensatz zu Berlin wahrlich eine Weltstadt - endlich mal Größe zu zeigen. Dass das Megarad von der Spree höher werden würde als sein Konkurrent an der Themse, verstand sich von selbst: Um gleich fünfzig Meter sollte es das London Eye überragen. Es waren 36 Kapseln für je 40 Personen geplant, und für eine Runde bräuchten sie höchstens eine halbe Stunde. Offen blieb die Standortfrage. Eine Fläche neben dem Technikmuseum am Tempelhofer Ufer unweit des Potsdamer Platzes wurde ausgewählt. Plötzlich tauchte ein Mäzen aus England auf und wollte dem Museum einen Anbau spendieren - allerdings nur unter der Bedingung, dass dieser nicht unter das Rad käme. Der Investor ging vor: Die Stadt erwarb das Grundstück, damit der Brite es bebauen konnte, und versprach zudem, dass ihm kein Riesenrad in die Quere käme. Leider hat man danach vom Mäzen nichts mehr gehört. Dafür vom Riesenrad. Ein Jahr später hatte die Great Berlin Wheel GmbH für 25 Millionen Euro ein Grundstück am Zoologischen Garten erworben. Von der Hälfte der Kaufsumme sollte der Tierpark einen neuen Wirtschaftshof erhalten, denn der alte stand dem Rad im Weg und musste weichen. Ärger mit dem Nachbarn hatte man hier nicht, bekam Zoodirektor Bernhard Blaszkiewitz doch zum neuen Gebäude auch gleich eine Riesenattraktion vor die Tür, die zusätzliche Besucher anlocken würde. Auch die Stadtplaner waren glücklich mit der Wahl des Standorts - das Riesenrad versprach eine Art Aufschwung West. Die Gegend am Kurfürstendamm hatte ihre glänzenden Zeiten nämlich schon lange hinter sich. In den Zwanzigern kamen sie noch alle her, damals warf man sich in Schale für einen Bummel an den Schaufenstern vorbei, sah man Literaten und Leute vom Film im Romanischen Café an der Gedächtniskirche sitzen. Später fanden die Bewohner der ummauerten Halbstadt hier zwischen Ku'damm, Zoo und KaDeWe ihre Mitte. Unter dem rotierenden Mercedes-Stern auf dem Europacenter pulsierte das Leben, reihten sich Boutiquen an der Haupt- und Bordelle in den Nebenstraßen aneinander, strahlten die Geschmeide der Damen mit den Goldkettchen der Zuhälter um die Wette. Zuletzt hatte der Ku'damm wohl im Herbst 1989 für Glanz gesorgt, nämlich in den Augen derer, die nach dem Mauerfall aus dem Osten nur zum Gucken rüberkamen und zwischen KaDeWe und Beate Uhse den goldenen Westen suchten. Doch im wiedervereinten Berlin lag die Mitte im Osten. Die City West, nun der »alte Westen« genannt, rutschte an den Rand und damit in eine Identitätskrise, in die sonst eher Diven geraten, die plötzlich feststellen, dass man sie nicht mehr begehrt. Jahrelang blieb eine Baugrube am Bahnhof Zoo sichtbar - wie eine Zahnlücke, für die sich kein Implantat mehr lohnt, weil der Patient ohnehin bald ins Gras beißt. Von der Gedächtniskirche, seit dem Krieg sowieso kaputt, bröckelten nun sogar die restlichen Trümmer ab. Als das neue Verkehrskonzept den einst legendären Bahnhof Zoo dann auch noch zum Regionalbahnhof degradierte, fühlte sich die City West vollends abgehängt vom Rest der Welt. Das Riesenrad indes gab Hoffnung. Wenn der neue Touristenmagnet wie geplant 2009 fertig wäre, so stellte ein Gutachten fest, würde er fünfhunderttausend Besucher zusätzlich pro Jahr in den Westen locken. Doch bereits 2007 sollten Millionen Menschen Richtung Zoo strömen: nicht eines riesigen Rades, sondern eines kleinen Bären wegen. Als Knut am 5. Dezember 2006 das Licht der Welt erblickte, ahnte niemand, was für Superlative in ihm schlummerten. Man konnte noch nicht mal ahnen, dass es tatsächlich ein Eisbär würde, so nackt und winzig, wie er war. Rein körperlich verhielt er sich zu einem ausgewachsenen Exemplar (in Gramm) wie halb Berlin zu ganz Deutschland (in Quadratkilometern). Unklar war auch, ob er und sein Zwilling überhaupt überleben würden, nachdem die Mutter sie verstoßen hatte. Knuts Bruder schaffte es leider nicht, Knut schon. In einem Brutkasten für Papageien wurde der Bär in den ersten Wochen bei molligen 36 Grad gewärmt und mit Milch aus der Pipette gepäppelt. Danach sorgte Ziehvater Thomas Dörflein für die nö- tige Nestwärme. Der Pfleger mit dem Pferdeschwanz und dem Ring im Ohr stellte sein Feldbett neben Knuts Kiste auf, reichte dem Bären das Fläschchen und spielte ihm manchmal sogar einen Elvis-Song auf der Gitarre vor. Dörflein gab dem Eisbären auch seinen Namen. Knut, weil das kurz war und nordisch. Und binnen weniger Wochen entwickelte sich Knut zu einem Wonneproppen in Wollweiß, zum niedlichsten Eisbären der Welt, einem Medienstar, Fotomodell, Klimabotschafter - und Berlin entdeckte den Bären in sich. Es war die ungewöhnlichste Karriere, die je ein Eisbär hingelegt hat: Kaum gelangten die ersten Bilder von Knut in die Öffentlichkeit, war diese aus dem Häuschen. Jedes neue Foto des kleinen Bären landete auf den Titelblättern der Zeitungen, die Realitysoap aus der Babybärenkrippe war ein Quotenhit, und aus der ganzen Welt reisten Kamerateams an, um Knut und Dörflein zu filmen. Frank Zander sang »Hier kommt Knut«, Tom Kummer führte ein langes Interview mit ihm, Umweltminister Sigmar Gabriel adoptierte den Bären und Starfotografin Annie Leibovitz flog eigens aus Amerika ein und lichtete Knut ab - für das Cover des Promimagazins »Vanity Fair«. Spätestens als Berlinale-Chef Dieter Kosslick auf dem Potsdamer Platz mehrfach »Welcome Knut« sprühen ließ, gab es keinen Zweifel mehr: Berlin hatte nach Marlene Dietrich und Hildegard Knef endlich wieder einen waschechten Weltstar. Zu seinem ersten öffentlichen Auftritt am 23. März 2007 strömten 500 Journalisten aus aller Welt in den Zoo. Gleich drei Fernsehsender berichteten live. Danach wurde sein Gehege zu einer Art Pilgerstätte für eine neue Religionsgemeinschaft, die Knutianer. Sie hatten ihre Kinder und ihre Kameras dabei, und - als Knut nicht mehr an der Flasche hing - auch Croissants für den Bären. An den Kassen summierten sich die Mehreinnahmen bald auf Millionen. In nur wenigen Monaten hatte Eisbär Knut mehr Leute in den Westen Berlins gelockt, als man für das Riesenrad je zu träumen wagte. Das drehte sich derweil vorerst auch nur als Modell auf der Expo Real in München. Im Oktober 2007 konnte man hier sehen, wie die Idee konkrete Formen annahm. Als »Abflughalle « hatte der Architekt Ingo Pott ein dreigeschossiges Gebäude in Wellenform entworfen, das außen zum Teil begrünt werden sollte und innen Platz bot für Cafés, Ticketschalter und Geschäfte. Wie eine gewachsene Hügellandschaft sollte es sich aus dem Stadtraum erheben und die Unnatürlichkeit, mit der sich das gigantische Stahlskelett daraus emporschwang, optisch abfedern. Doch an seinem zukünftigen Standort tat sich derweil nichts. Bereits im Mai 2007 hatten die Investoren eingeräumt, dass alles länger dauern würde. Erst im Herbst sollten sie die Baugenehmigung bekommen. Dann erfolgte auch endlich der erste Spatenstich, bei dem Wowereit & Co. bekanntlich im Regen standen. Der Akt war zwar nur symbolisch, und gebaut wurde danach so wenig wie vorher - doch er setzte ein Zeichen in einer Zeit, da der Zoo nach der ersten Knut-Euphorie plötzlich ein gewichtiges Problem bekam. Der Tierpark Neumünster erhob nämlich Anspruch auf Knut, war er doch der Sohn von Lars, dem von dort zur Begattung ausgeliehenen Eisbären. Laut Vertrag gehörte das erste überlebende Neugeborene dem Tierpark in Schleswig- Holstein, wie übrigens auch jedes dritte, fünfte, siebte und neunte, kurz: jeder ungerade Eisbär. Die Norddeutschen wollten aber gar nicht Knut, für den hatten sie noch nicht mal Platz, sie wollten Knete. Ein Teil der Mehreinnahmen, für die der Bär gesorgt hatte, stünde ihnen zu, meinten die Neumünsteraner. Zoodirektor Bernhard Blaszkiewitz sah das anders: »Die bekommen ein paar Pinguine, und dann ist die Sache in Ordnung.« Damit hatte sich Blaszkiewitz zwar keine Freunde gemacht, aber das war ohnehin noch nie seine Stärke. In Berlin genoss der Zoodirektor etwa den Sympathiewert eines Truthahngeiers. Immer wieder sorgte er für Schlagzeilen. Entweder, weil er Mitarbeiter zusammenbrüllte, kleinen Katzen das Genick brach - auf »artgerechte Weise«, wie er fand -, oder gar Tiger an chinesische Potenzmittelhersteller verkauft haben soll. Dass der Mann kein Herz haben konnte, war den Berlinern spätestens dann klar, als ihn die geballte Niedlichkeit von Knut - die Kulleraugen, das Kuschelfell, die knuddelige Art - einfach kaltließ. Knut sei nur eins von 140 000 Tieren für ihn, stellte er klar, und nichts Besonderes. Der Story von Knut tat er dennoch gut. Denn der grobschlächtige Zoodirektor hatte ihr gerade noch gefehlt, um filmreif zu werden, für Disney etwa oder für Regina Ziegler: Blaszkiewitz war der Bösewicht. Dörflein der Gute. Und Knut - eben Knut. Nur das Happy End wollte sich nicht einstellen. Im September 2008 starb der 44-jährige Thomas Dörflein überraschend an einem Herzinfarkt, und ganz Berlin trauerte mit seiner Familie, vor allem aber mit Knut. Zwar waren der Pfleger und sein Ziehsohn schon im Juli 2007 voneinander getrennt worden, weil Knut damals bereits 50 Kilo auf die Waage brachte. Eine zärtliche Rangelei unter Freunden konnte da schnell zu einer lebensgefährlichen Angelegenheit werden. Doch Dörflein besuchte Knut regelmäßig. Noch am Samstag vor seinem Tod war er bei ihm. Wie immer streckte er seine Hand durch das Gitter und wie immer leckte Knut sie zärtlich ab. Doch jetzt würde Dörflein nicht mehr kommen und der Bär war ganz allein auf der Welt. Da halfen auch die vielen Fans nichts, die sich täglich vor seinem Gehege trafen, nahm Knut, kurzsichtig wie alle Eisbären, diese doch nur als große Duftwolke wahr, aus der es ab und an Croissants regnete - in diesen schweren Tagen natürlich noch viel mehr als sonst. »Mit Dörflein haben die Berliner einen Sympathieträger verloren«, sagte Klaus Wowereit. Doch der Tierpfleger war mehr als das: Er war die fleischgewordene Liebe zwischen Mensch und Tier. Er war ein Vorbild für eine ganze Generation verunsicherter Männer, denen er bewies, wie man männlich und zärtlich zugleich sein konnte und dabei sogar noch cool rüberkam - und das pünktlich zur Einführung des Elterngeldes, das ab 2007 die Väter stärker als bisher in die Kindererziehung einband. Dörflein war zudem Träger des Landesverdienstordens, der einzigen Auszeichnung, die der bescheidene Tierpfleger je angenommen hat. Als nach seinem Tod einige von Dörfleins Habseligkeiten im Internet versteigert wurden, ging sein Schlafsack, in dem er neben Knut nächtigte, für stolze 1431 Euro weg, sein Elvis-Buch brachte 221 Euro. In diesen traurigen Tagen interessierte sich kaum noch jemand für das Riesenrad. So ging es fast ein bisschen unter, als die Investoren des Projekts im Oktober verkündeten, dass sie das Rad aufgrund der weltweit explodierten Stahlpreise zehn Meter niedriger bauen würden als geplant: statt 185 also nur 175 Meter, womit es aber immer noch die Londoner Version überragte. Ferner habe man auf der ganzen Welt niemanden gefunden, der die Pott'sche Abflughalle maschinell zu fertigen in der Lage sei, weshalb diese nur in Handarbeit und für die doppelten Kosten hergestellt werden könne. Die daraufhin neu entworfene Halle, ein asymmetrisches Fünfeck mit drei Etagen, war zwar maschinell machbar, erforderte allerdings eine neue Baugenehmigung. Damit war klar, dass sich das Projekt erneut verzögern würde: Auf die alte Genehmigung hatte man schließlich auch lange warten müssen. Doch an Zeit sollte es bald nicht mangeln: Als der alte Wirtschaftshof endlich abgerissen werden konnte, weil der neue fertig war, fand man nämlich nicht nur Asbest in alten Rohren, sondern auch Granaten und Brandbomben in der Erde. Das hieß Gutachten erstellen, Arbeiten ausschreiben, abwarten. An dem Eröffnungstermin hielten die Investoren dennoch eisern fest: Im Jahr 2010, so hieß es bei der Great Berlin Wheel GmbH, würde sich auf dem Areal am Zoo das Rad drehen. 2009 war hier aber weder die Abflughalle noch das Riesenrad gewachsen, dafür ein paar Meter weiter Knut. Der kleine Knuddelbär hatte sich über die Jahre in ein wahres Raubtier verwandelt. Das Kindchenschema hatte sich zur groben Eisbärschnauze verzogen. Das Fell war nicht mehr strahlend weiß, sondern oft so dunkel vom Dreck, dass sogar die »Süddeutsche Zeitung« irritiert fragte, ob es sich bei Knuts Vater nicht doch um einen Braunbären gehandelt haben könnte. Seine Unschuld hatte Knut in den Augen seiner Anhänger spätestens in dem Moment verloren, als diese fassungslos beobachten mussten, wie sich der Bär die zehn Karpfen, die man in seinem Teich als tierische Putzkolonne ausgesetzt hatte, genüsslich in den Rachen schob. Es kamen immer weniger Menschen zu Knut in den Zoo. Ein paar Tierschützer waren darunter und betrachteten den Bären mit wachsender Sorge. Einer von ihnen diagnostizierte aus der Ferne gar eine »erhebliche Störung«. Knut bewege sich stereotyp, strecke etwa 200 Mal am Tag die Zunge raus und winke ständig. Langsam wurde es wirklich Zeit für das Riesenrad. Im Frühjahr 2010, als sich das Rad eigentlich längst drehen sollte, hofften die Investoren, endlich mit dem Bau beginnen zu können. Allerdings gab es noch ein kleines Problem: Es fehlte das Geld. Das Projekt sollte mit Krediten aus dem 2006 aufgelegten Fonds Global View finanziert werden. Doch ohne Baugenehmigung, so erklärte die Great Berlin Wheel GmbH, hatten sich kaum Kreditgeber gefunden. In Berlin blieb man zunächst gelassen. Kommt Zeit, kommt Rad. Und kommt es nicht, dann hätte Berlin zumindest keinen großen Schaden davon. Immerhin war das Grundstück bezahlt und von der Hälfte der Kaufsumme hatte der Zoo bereits einen nagelneuen Wirtschaftshof bekommen. Den konnte ihm niemand mehr wegnehmen. Genauso wenig wie Knut übrigens, den die Berliner inzwischen in Neumünster bezahlt hatten - nicht mit »ein paar Pinguinen«, wie der Zoodirektor vorgeschlagen hatte, sondern mit 430 000 Euro, was ebenfalls zu verschmerzen war, soll Knut doch allein in seinem ersten Lebensjahr ein Plus von fünf Millionen eingespielt haben. Auch in Sachen Riesenrad hatte die Stadt zunächst tatsächlich nicht zu leiden. Dafür andere. Mehrere tausend Anleger hatten gut 200 Millionen Euro in den Fonds Global View eingezahlt, der neben dem Rad in Berlin auch eines in Peking und ein weiteres in Orlando plante und den die Stiftung Warentest bereits 2007 als »riskant« eingestuft hatte. Im Februar 2010 erfuhren die Anleger, dass das Rad in China, das eigentlich 2008 eröffnet werden sollte, mitten im Insolvenzverfahren steckte. Immerhin hatte man dort schon das Fundament geschaffen. In Orlando stand hingegen so wenig wie in Berlin.

Erscheint lt. Verlag 16.4.2013
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alex • Berlin • Böß • Garski • Hauptbahnhof • Katzen • Kleinstadt • Knut • Olympia 2000 • Plänterwald • Pleiten • Poesie • Rixdorf • S-Bahn • Tasmania 1900 • Tempodrom • Wowereit
ISBN-10 3-8270-7637-4 / 3827076374
ISBN-13 978-3-8270-7637-3 / 9783827076373
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