Frauen vor Gericht (eBook)

20 Reportagen
eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
208 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-214-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Frauen vor Gericht - Brigitte Biermann
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Sandra K. ist 21 Jahre alt. So wie sie im Gerichtssaal sitzt, würde man ihr nicht mal einen Ladendiebstahl zutrauen. Doch sie hat ihren 28-jährigen Freund mit Küchenmesser und Schere ermordet. 150-mal stieß sie voller Wut zu. Was hat sie dazu gebracht, wo liegen die tieferen Ursachen?
Brigitte Biermann besucht seit Jahren im Auftrag der Frauenzeitschrift 'Brigitte' Gerichtsverfahren gegen Frauen in allen Teilen der Republik. Sie beobachtet tagelang das Verhalten der Angeklagten, spricht mit den Anwälten, analysiert die Gutachten. Zwanzig ihrer so entstandenen Reportagen sind in diesem Band zusammengestellt, die das ganze Spektrum weiblicher Kriminalität umfassen: von Betrug und Erpressung über Heiratsschwindelei und Drogenhehlerei bis hin zu schwerem Raub und Mord. Immer geht es der Autorin um die Motive für die kriminellen Handlungen, um die Spezifik weiblichen Handelns.

Brigitte Biermann war 15 Jahre lang als Korrespondentin und Gerichtsreporterin für die Brigitte tätig, lebt als freie Journalistin und Autorin in Berlin.

Ein Akt der Verzweiflung

Tatvorwurf: Mord

Alter der Täterin: 37 Jahre

Verhandlungsdauer: 4 Tage


Am Tag vor der Hochzeit trat Hartmut Grahm seiner Braut Martina vor versammelter Verwandtschaft und Bekanntschaft in den Hintern, weil ihm irgendwas mit dem Kuchen nicht paßte. Das war sofort Gesprächsstoff im Dorf.

17 Jahre später erschlug Martina Grahm ihren Mann mit einer Axt, weil sie seine Demütigungen, Drohungen, sexuellen Nötigungen nicht mehr ertragen konnte.

Sie ist 37 Jahre alt, und vor ihr liegen laut Urteil des Schwurgerichts Ravensburg zwölf Jahre Haft.

»Jetzt, in der Vollzugsanstalt, fühle ich mich frei. Es gibt niemanden mehr, für den ich die Beine breit machen muß, niemanden, der mich beschimpft. Der Einzige, den ich vermisse, ist mein Junge.«

Das zitiert der Vorsitzende Richter in der Hauptverhandlung aus einem Brief der Angeklagten. Und er fragt Martina Grahms’ Schwester Dagmar Leibold, die als Zeugin auftritt: »Warum hat sie diesen Mann überhaupt geheiratet?«

»Weil sie immer Probleme mit ihrem Aussehen hatte, mit ihrer krummen Nase, den vorstehenden Zähnen, den Sommersprossen. Ich hab ihr gleich von Grahm abgeraten, hab ihr gesagt, du kriegst immer einen. Aber sie hatte Torschlußpanik.«

Martina Grahm sitzt im Gerichtssaal ohne Anzeichen von Anspannung oder gar Müdigkeit, sechs, sieben Stunden lang. Sie ist gewohnt zu tun, was von ihr verlangt wird. Sie gibt sachlich Auskunft, spricht ein schnelles, für Zugereiste schwer verständliches Schwäbisch.

»Meine Leute sind sehr nette Menschen, es gab zwar wenig Geld, aber wir hatten ein harmonisches Familienleben«, schildert sie ihr Elternhaus. Sie ist das jüngste von vier Kindern. Pferdewirtin wollte sie werden, Textilverkäuferin wurde sie. Eine andere Lehrstelle gab es nicht. Mit 18 lernte sie den zwei Jahre älteren Hartmut Grahm kennen, »ein gestandenes Mannsbild«, gebaut wie ein Schrank, Automateneinrichter. Die Ehe war von Anfang an ein Desaster. Das sagt sie zwar nicht, sie ist weit entfernt von Larmoyanz oder Selbstmitleid, doch die Zeichen sind nicht zu überhören.

»Zwei Kinder konnte ich nicht austragen«, sagt sie. Nicht der Hauch eines Vorwurfs an den toten Mann, der sie behandelt hat wie seine Magd. Selbst als sie schwanger war, ließ er sie schwere Arbeiten in Haus und Wald verrichten. Sie wollte kein Kind mehr mit ihm, doch dann bekam sie Sebastian.

Weiblichen Prozeßbeobachtern krampft sich das Herz zusammen angesichts der Zärtlichkeit, mit der Martina Grahm und ihr Sohn während der Verhandlungspausen miteinander schmusen. Die verständnis­vollen Justizbeamten lassen die beiden gewähren. Daß ein 14-Jähriger in aller Öffentlichkeit derart an seiner Mutter klebt, macht seine emotionalen Defi­zite überdeutlich.

Der schmale Junge sagt unter Ausschluß der Öffentlichkeit aus. Aber von Dagmar Leibold, in deren Familie er jetzt lebt, hört man: »Warum soll er seinen Vater vermissen? Der hat ihn doch ebenso schlecht behandelt und beschimpft wie seine Mutter: Sie war die Drecksau, die Schlampe, er der Depp, der Wichser, ein blöder Mensch ...«

In einer kurzen Affäre mit dem Mann ihrer Schwägerin erlebte Martina Grahm einen hauch von Zuwendung und Zärtlichkeit. »Als Petko zurück ist zu seiner Frau, wollte ich mich umbringen, ich konnte das kaum verkraften. Meine Schwägerin liebt ihn über alles, hat ihm Briefe geschrieben, wie ich sie von Hartmut nie bekommen habe«, sagt sie.

Petko mag sich vor Gericht nicht erinnern. Nicht an die Prügel von seinem Schwager Grahm, nicht an die dabei zu Bruch gegangene Lampe. »Hartmut war immer fair, hat mir die Geschichte nie nachgetragen.«

Martina Grahm erinnert sich umso besser. An das Messer in der Hand ihres Mannes und an sein Getöse, er würde »ihr damit die Unterwäsche am Leib zerfetzen und da unten alles wegschneiden.«

Sie floh mit ihrem damals vierjährigen Sohn in ein Frauenhaus. Beantragte die Scheidung. Ihre Verwandten boten Hilfe an bei Wohnungs- und Arbeitssuche.

»Warum haben Sie Martina nicht bei sich aufgenommen?« fragt der Vorsitzende Richter Dagmar Leibold.

»Weil unsere Wohnung zu klein ist. So sehr ich meine Schwester liebe – hätt’ der Grahm die Hand gehoben, wär’ ich an die Wand geflogen. Ich hatte auch Angst um meine beiden kleinen Kinder«, sagt die couragiert wirkende Vierzigjährige. »Der hätte Martina nie gehen lassen«, setzt sie nach, »sie war sein Eigentum.«

Hartmut Grahm hatte Frau und Kind im Frauenhaus ausfindig gemacht und sie angefleht zurückzukommen, er würde sich ändern. Bestimmt. Martina sah keine Chance. »Er hätte uns überall gefunden. Und er hat oft genug gedroht, ich könne abhauen, aber ohne Sebastian.«

Also kehrte sie zurück zu ihm. »Die erste Zeit war das okay, ich konnte sogar mal eine Freundin besuchen. Aber bald kontrollierte er mich wieder, tauchte im Café auf, in dem ich mit Kolleginnen saß. Er wuß­te immer, wo ich war.«

Das Paar kaufte ein altes Bauernhaus, setzte es in der Freizeit selbst instand. Bald war »sein Haus« das schönste im Dorf. Martina Grahm arbeitete als Aushilfe bei einem Metzger, bediente sonntags in einer Gaststätte, schlug Holz im Wald, »half beim Bauen schwer mit«, wie ein Zeuge bestätigt. Und mußte allabendlich ihrem Mann zur Verfügung liegen. Einmal hat sie sich bei ihrer Schwester ausgeheult.

»Stell dir vor, du bist ne Nutte und laß ihn halt rüberrutschen«, hat die ihr geraten.

Sie suchte eine Eheberatung auf. Hartmut Grahm kam mit. Nicht, um zu erfahren, was er zur Verbesserung der Ehe beitragen könne, sondern »er wollte hören, was ich sage.« Sie sagte wenig.

Ob er sie geschlagen habe, fragt der Richter.

»Hab mal ’nen Arschtritt oder eine geklatscht gekriegt, aber zugeschlagen hat er nie.« Als ob eine Ohrfeige kein Schlag wäre.

Ein einziges Mal hat sie sich nach so einem Tritt umgedreht und ihm eine gescheuert – und die Welt drehte sich weiter. Aber kaum, daß sich beide von ­ihrem Erstaunen erholt hatten, fielen sie zurück in ihr gewohntes Rollenmuster. Hartmut Grahm pumpte sich nach dieser Niederlage wortlos wieder auf; und Martina Grahm wußte mit ihrer kurzen Herrenrolle nichts anzufangen. Es passe wieder wie der Schlüssel ins Schloß.

Im Sommer vor dem Ende erlebte sie noch einmal so etwas wie eine zarte Liebe. Ein Kumpel ihres Mannes, Wolfgang Born, arbeitete oft allein mit ihr im Wald. Dabei kamen sie sich näher. Einmal schenkte er ihr eine selbstgebrannte CD.

Er geht zum Zeugenstuhl, ein schlanker Arbeiter Mitte Vierzig, nicht der Schnellste im Denken, aber gutmütig.

»Sie hat nie geklagt, doch ich hab mitgekriegt, wie er sie behandelt hat«, sagt er langsam. »Wie den letzten Dreck. Das hat mir halt immer weh getan.«

Es dauerte Wochen, bis Martina und der Wolfi sich küßten, bis sie miteinander Sex hatten. Wolfgang Born bot ihr an, zu ihr zu ziehen. Da war sie schon so müde, »psychisch und physisch fertig, ganz unten«, sagt ihre Schwester.

Noch einmal suchte Martina Grahm professionelle Hilfe. Der Psychologe baute sie auf: Lassen Sie sich nicht alles gefallen. Sie sind eine Frau mit Rechten!

»Ich bin da rausgegangen und war drei Meter groß«, erzählt sie. »Bin zu Wolfi gefahren, habe mein Auto frech vor seinem Haus geparkt, hab zu Wolfi gesagt: Ich pack das jetzt, ich laß mich scheiden.« Ihr Sohn war in einem Zeltlager, ihn würde sie später holen.

Kaum zu Hause, schrumpfte sie auf die gewohnte Dackelgröße. Hartmut, dem bei seiner Kontrollfahrt ihr geparktes Auto nicht entgangen war, brüllte, daß die Wände wackelten: »Du bleibst jetzt ein halbes Jahr im Haus, danach kannst du machen, was du willst!« Wieder fuchtelte er mit einem Messer herum. Es flogen Flaschen und die Salatschüssel, er holte die Kettensäge, ließ den Motor dröhnen und brüllte: »Wolfgang, diesen Penner, werde ich filetieren und dann mich umbringen, damit du siehst, was du wieder angerichtet hast!«

Martina Grahm rief ihren Geliebten an: »Wir müssen Schluß machen. Du hast genug Probleme durch mich.« Ihre Selbstachtung war in den Minusbereich gerutscht.

Wolfgang Born sagt aus, er habe gefühlt, daß Hartmut mit einem Messer neben ihr stand. »Ich hab damit gelebt, daß ich irgendwann fällig bin.« ­Hatte Grahm ihm doch schon »jesusmäßig einen eingeschenkt, als noch gar nix war mit Martina«.

In den drei langen Zuschauerreihen sitzen, Schenkel an Schenkel, die Vertreter beider Familien und des Dorfes – mit zwei sehr klaren Meinungen. Die Aussagen von Bruder, Kumpel und einstigem Vorgesetzten des Ermordeten klingen wie ein Refrain: Ja, der Hartmut Grahm habe seine Ziele gehabt im Leben. Ja, er habe seine Meinung durchgesetzt. Nein, er sei nie gewalttätig geworden. Ja, er habe seiner Frau häufig Aufträge gegeben. Habe sie auch angeschrien, aber nicht beleidigend. Er habe sie ja geliebt.

»Mein Gott, sag doch endlich, was los war und sitz nicht da wie ein Wicht!« Dagmar Leibold hält das Schweigen nicht mehr länger aus. Und der Vorsit­zende Richter fragt diesen Zeugen: »Es ehrt Sie, daß Sie einem Toten nichts Schlechtes nachsagen. Aber haben Sie sich nicht auch mal gestritten?«

»Nein. Er war doch halt größer und stärker.«

Die Mutter des Toten, eine einfach gekleidete Frau mit weißen Haaren, sitzt in der ersten Reihe wie eine indianische Squaw – unbewegt, mit starrem Blick, ohne Minenspiel. Es geht das Gerücht, Hartmut, ihr Ältester, sei sehr nach ihrem verstorbenen Mann geraten....

Erscheint lt. Verlag 2.4.2013
Reihe/Serie Literarische Publizistik
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Anklage • Gerichtspsychologie • Kriminalität • Mord • Schicksal
ISBN-10 3-86284-214-2 / 3862842142
ISBN-13 978-3-86284-214-8 / 9783862842148
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