Alter Glaube und moderne Welt (eBook)
544 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-402248-2 (ISBN)
Rudolf Schlögl, geboren 1955, ist seit 1996 Ordinarius der Neueren Geschichte an der Universität Konstanz. Er initiierte dort im Jahr 2000 einen Sonderforschungsbereich, den er bis 2009 erfolgreich leitete und in dem er zur Politik der vormodernen Stadt forschte. Seit 2006 ist er Sprecher des ersten deutschen geisteswissenschaftlichen Exzellenz-Clusters »Kulturelle Grundlagen von Integration«. 2009 wurde ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Reinhart-Koselleck Risikoprojekt zu den medialen Voraussetzungen der Vergesellschaftung in der europäischen Frühneuzeit zugesprochen.
Rudolf Schlögl, geboren 1955, ist seit 1996 Ordinarius der Neueren Geschichte an der Universität Konstanz. Er initiierte dort im Jahr 2000 einen Sonderforschungsbereich, den er bis 2009 erfolgreich leitete und in dem er zur Politik der vormodernen Stadt forschte. Seit 2006 ist er Sprecher des ersten deutschen geisteswissenschaftlichen Exzellenz-Clusters »Kulturelle Grundlagen von Integration«. 2009 wurde ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Reinhart-Koselleck Risikoprojekt zu den medialen Voraussetzungen der Vergesellschaftung in der europäischen Frühneuzeit zugesprochen. Wolfgang Benz, 1941 in Ellwangen/Jagst geboren, Dr. phil., Historiker, war bis 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte und von 1990 bis 2011 Professor und Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Zudem war er Herausgeber der im Fischer Taschenbuch erschienenen Buchreihe »Europäische Geschichte«.
Einsichten und Formulierungen von brillanter Klarheit
Einleitung:
Das Christentum als Religion der Gesellschaft
Zwischen 1750 und 1850 vollzog sich in den Gesellschaften Mittel- und Westeuropas ein tiefgreifender Umbruch, der nicht nur die Institutionen der politischen Ordnung betraf, sondern auch die Grundmuster im Prozess der Vergesellschaftung. In Amerika emanzipierten sich die britischen Kolonien und gaben sich eine Verfassung. Davon angestoßen, wurden in Europa in einer Revolution und weiteren zwei Jahrzehnten der Staatenkriege die institutionellen Gerüste des feudalen Ancien Régime in Trümmer geschlagen, damit eine neue »bürgerliche« Gesellschaft mit den ihr entsprechenden politischen und sozialen Einrichtungen an ihre Stelle treten konnte. Das europäische Christentum war in einem doppelten Sinn an diesem Umbruch und der nachfolgenden Suche nach neuen Ordnungsmustern beteiligt. Es unterlag in seinen sozialen Formen selbst einem tiefgreifenden Wandel, der sich aus der Umstellung der gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien ergab, und wirkte dabei wiederum zurück auf die Prozesse der Vergesellschaftung und ihre Institutionen. Von dieser Umgestaltung der sozialen Form des europäischen Christentums zwischen 1750 und 1850 handelt das vorliegende Buch.
Nicht die Geschichte der europäischen Christentümer ist Thema[1], sondern die Geschichte des europäischen Christentums als Religion der europäischen Gesellschaft am Beginn der Moderne. Darin liegt eine doppelte Festlegung: Es soll der Begriff der Gesellschaft jenseits eines bloßen Synonyms für staatlich gegliederte Sozialität ernst genommen und Religion als ein soziales Phänomen begriffen werden, das nur im Kontext von Gesellschaft als einer Struktur angemessen zu verstehen ist.
Die Forschung hält eine Vielzahl von Einzeluntersuchungen zu den christlichen Kirchen, zur Frömmigkeitsgeschichte und auch zur Diskussion über Religion bereit, auf die hier zurückgegriffen werden konnte. Für das Konzept und die Ausarbeitung der Fragestellung bot diese Literatur allerdings kaum Hilfestellung.[2]
Die Kirchengeschichte und die Profangeschichte, soweit sie sich mit dem Thema Religion beschäftigt, haben bislang andere Perspektiven eingenommen. Die Kirchengeschichte konzentriert sich im Regelfall auf die institutionell-kirchliche Gestaltung – schon die Frömmigkeitsgeschichte wird meist abgespalten –, so dass Gesellschaft in ihren Darstellungen allenfalls noch als das andere von Religion vorkommt, das man dann thematisiert, wenn soziale Problemlagen in kirchlichen Institutionen bearbeitet werden oder Politik sich mit der Gestaltung des religiösen Lebens befasst. Kirchengeschichte bleibt darüber hinaus stets so weit Theologie, dass sie ihren Blickwinkel konfessionell verengt und die jeweils anderen Konfessionen gar nicht oder allenfalls in pauschalisierender Form vorkommen.[3] Die Profangeschichte tendiert umgekehrt auffälligerweise gerade dann, wenn sie Gesellschaftsgeschichte sein will, dazu, Religion ebenfalls als Teil der »kulturellen Entwicklung« zu thematisieren, sie also als Sondersphäre der sozialen Wirklichkeit, als »Provinz des Lebens« zu marginalisieren und zu isolieren.[4] Weit weniger hilfreich als erhofft für die methodische und konzeptionelle Gestaltung meines Vorhabens erwies sich auch die Religionswissenschaft. Ihre Forschungen sind nach wie vor geprägt durch die Anstrengung, sich einen von anderen gesellschaftlichen Phänomenen unterscheidbaren Gegenstand durch die vergleichende Betrachtung seiner Merkmale oder »Dimensionen« zu sichern. Seit ihren Gründungsvätern Max Miller und Edward B. Taylor entwirft die Religionswissenschaft deswegen Typologien von Religionen und religiösen Phänomenen, die entweder enthistorisiert und auf eine immanente Entwicklungslogik hin untersucht oder auf zivilisationsgeschichtliche Entwicklungsschemata bezogen und damit in ein normativ bestimmtes Raster eingeordnet werden. Religion wird auf diese Weise ebenfalls von den sie umgebenden gesellschaftlichen und historischen Kontexten abgegrenzt, statt sie aus ihnen heraus begreifen zu wollen. Religionswissenschaftler, die es vorziehen, einzelne Religionen in konkreten historischen Konstellationen zu untersuchen, verzichten entsprechend auf einen allgemeinen Begriff von Religion.[5]
Aus Gründen, die weit über das hinausgehen, was in dieser Einleitung zu erörtern ist, habe ich mich daher dafür entschieden, das Konzept auf einer kommunikations- und medientheoretischen Grundlage zu entwickeln, wie sie die Systemtheorie bietet. Mir scheint zur Zeit kein weiterer sozialtheoretischer Begriffsapparat von vergleichbarer Klarheit verfügbar, der sich dem Kernproblem der sozialen Welt stellt, ihre Ordnung über Differenzbildungen des Sinns selbst hervorzubringen und die Stabilität dieser Ordnungsmuster selbst zu garantieren. Die Systemtheorie rechnet mit der zirkulären Emergenz sozialer Phänomene. Sie entbindet damit von der schon bei kurzer Selbstbeobachtung unplausibel werdenden Notwendigkeit, gesellschaftliche Ordnungsmuster in ihrer Stabilität und Reproduktion auf die Motive und Aufmerksamkeitsressourcen von einzelnen Menschen zurückzuführen. Sie berücksichtigt andererseits, dass Individuen, Gruppen und Institutionen aller Art in der sozialen Welt nicht isoliert vorkommen, sondern in ihrer jeweiligen Eigenheit und ihren Handlungsmöglichkeiten bestimmt sind durch Beziehungen zu anderen Menschen, Gruppen und Einrichtungen. Diese relationalen Verhältnisse sind beschreibbar, und sie sind in einer bestimmten historischen Konstellation nicht beliebig. Daraus ergeben sich überzeugende Argumente, an einem substantiellen und theoretisch ausgearbeiteten Gesellschaftsbegriff festzuhalten.
Hinzu kommt, dass die Systemtheorie Wirklichkeit ausdrücklich als Resultat von Beobachtungen fasst. Niemand weiß zu sagen, wie die Welt jenseits unserer Beobachtungen beschaffen ist. Die wissenschaftliche Beobachtung von Welt macht dabei keine Ausnahme. Sie muss sich daher bewusst sein, dass ihr Gegenstand nicht einfach eine gegebene soziale Welt ist; vielmehr beobachtet Wissenschaft, wie diese soziale Wirklichkeit in Beobachtungen und Kommunikationen für die Beteiligten zur strukturierten Realität wird. In genau diesem Sinn will ich mich damit befassen, wie das Christentum als Religion der Gesellschaft hervorgebracht und »in Form gesetzt« wird. Dazu ist ein Begriffsinstrumentarium notwendig, das mit seinen Unterscheidungen auf die Hervorbringung einer sinnhaften, strukturierten sozialen Wirklichkeit zielt. Sinn, Kommunikation, Beobachtung, Medien, System, Umwelt, Semantik, Selbst- und Fremdbeschreibung, Differenzierung und Komplexität sind solche Begriffe. Meine Darstellung wird sich an den mit ihnen verbundenen Konzepten orientieren, ohne sich allerdings in ihrer umfänglichen Erörterung zu verlieren und sich die Freiheit der sprachlichen Variation nehmen zu lassen.[6]
In einem zweiten Schritt braucht eine Wissenschaft, die sich für die Konstitution und Geschichte sozialer Ordnungsmuster interessiert, Begriffe, die eine Vorstellung von den sozialen Gegenstandsbereichen vermitteln, um die es ihr zu tun ist. Sie müssen nicht mit denen identisch sein, mit denen die von Wissenschaftlern beobachteten Menschen ihre soziale Welt ordnen und strukturieren, können es gar nicht, weil – jedenfalls bei historischen Untersuchungen – sich die Welt inzwischen geändert hat, vor allem aber, weil die Beobachtungen erster und zweiter Ordnung mit jeweils unterschiedlichen Zielen verbunden sind. Für Akteure, die in sozialen Figurationen kommunizieren und beobachten und auf diese Weise die Figuration reproduzieren, geht es um den Erfolg von Handlungen und Kommunikationen. Erwartungen müssen erwartbar werden, und die Welt wird daher mit Unterscheidungen beobachtet, die dazu einen Beitrag leisten. Man schreibt deswegen beispielsweise Kausalitäten in den Lauf der Dinge ein und kreiert damit »Akteure«, wie sie Bruno Latour identifiziert. Den Wissenschaftler interessiert dann, auf welche Weise dies geschieht. Er fragt nach der semantischen Logik von Unterscheidungen und den semiotischen Strategien in Beobachtungen erster Ordnung.[7] Deswegen schlägt die Systemtheorie auch eine funktionale Analyse sozialer Konstellationen und Phänomene vor. Das tut sie gerade nicht, um, wie häufig unterstellt, soziale Ereignisse an Interessen zu binden, sondern weil sie damit rechnet, dass die Funktion nicht in Absichten und Interessen aufgeht, im Extremfall gar nicht dort in Erscheinung treten muss. Soziale Figurationen – von Paarbeziehungen angefangen, bis hin zu Gesellschaften – sind auch deswegen stabil, weil sie sich selbst als Ganzes und erst recht aus der Perspektive einzelner Beteiligter undurchsichtig bleiben. Seit dem 19. Jahrhundert ist das Wissen darum in Sozialtheorien unter dem Stichwort »Ideologie« festgehalten.
Die funktionsorientierte Beschreibung und Analyse sozialer Ereignisse und Figurationen hat den weiteren Vorteil, dass sie soziale Phänomene als Lösung von Problemlagen identifiziert und damit die Suche nach äquivalenten Lösungsmöglichkeiten anregt, um diese dann in ihren Folgen vergleichen zu können. Das macht die Varietät sozialer Phänomene verständlich und die unterschiedlichen Entwicklungslogiken, denen sie häufig bei gleichen Ausgangskonstellationen folgen. Im Unterschied zum normativ aufgeladenen Konzept der Ideologie befreit die funktionsbezogene Analyse von der Teleologie.
Religion erscheint zunächst als ein individuelles Phänomen. Das protestantische Christentum gestaltet...
Erscheint lt. Verlag | 7.3.2013 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Neuzeit bis 1918 |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Neuzeit (bis 1918) | |
Schlagworte | Berlin • Caritas • Christentum • Deismus • Diffusion • England • Frankfurt • Frankreich • friedrich julius stahl • Friedrich Wilhelm IV. • Frömmigkeit • Giambattista Vico • Gottesverehrung • Katholische Kirche • Konfession • München • Paris • Sachbuch • Säkularisation • Säkularisierung • Vergesellschaftung • Vormoderne • William Warburton |
ISBN-10 | 3-10-402248-8 / 3104022488 |
ISBN-13 | 978-3-10-402248-2 / 9783104022482 |
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