Epigenetik (eBook)

Wie Erfahrungen vererbt werden
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2013 | 1. Auflage
368 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8733-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Epigenetik -  Bernhard Kegel
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An Universitäten wie an Stammtischen wird hitzig debattiert, ob Umwelt und Erfahrungen den Menschen prägen oder allein seine Gene. Die noch junge Wissenschaft der Epigenetik zeigt nun, dass beides zutrifft: Nicht nur die Gene werden vererbt, sondern auch die lebenswichtige Information, ob die Zelle diese Gene benutzen soll oder nicht. Die Steuerung erfolgt über biochemische Schalter, die nicht zuletzt durch die Einflüsse der Umwelt programmiert werden. Erfahrungen verändern die Hardware des Genoms. Unser Schicksal - und das unserer Kinder und Enkel - liegt also nicht allein in den Genen. Spannend und kompetent schildert der promovierte Biologe die weitreichenden Konsequenzen der Epigenetik für Medizin, Evolutionsbiologie und unser alltägliches Verhalten. Wir werden Zeugen eines dramatischen Paradigmenwechsels in der Biologie.

BERNHARD KEGEL, geboren 1953 in Berlin, studierte Chemie und Biologie an der Freien Universität Berlin, danach Forschungstätigkeit, Arbeit als ökologischer Gutachter und Lehrbeauftragter. Seit 1993 veröffentlichte er zahlreiche Romane und Sachbücher. Bernhard Kegels Bücher wurden mit mehreren Publizistikpreisen ausgezeichnet. Zuletzt erschienen bei DuMont >Ausgestorben, um zu bleiben< (2018) und >Die Natur der Zukunft< (2021). Der Autor lebt in Berlin.

2. Das Monster

Für Drehbuchautoren gilt bekanntlich Billy Wilders einfache Grundregel: Beginne mit einem Erdbeben – zur Not tut es auch, wie in unserem Fall, eine sensationelle Enthüllung –, und steigere dich langsam. Deshalb wartet die zweite Geschichte nun mit einem veritablen Monster auf. Es handelt sich zwar nur um eine harmlose Pflanze, besser gesagt ein Pflänzchen, aber immerhin. Sie wird uns helfen zu verstehen, was hinter den Vorgängen in Överkalix stecken könnte. Wenn man so will, hatte die Entdeckung dieses »Pflanzenmonsters« vor über 250 Jahren tatsächlich kleinere Beben zur Folge, deren Erschütterungen bis in unsere Tage zu spüren sind. Unterbrochen von langen Phasen der Ruhe, scheint ihre Intensität sogar zuzunehmen.

Die Geschichte spielt einige Hundert Kilometer südlich von Överkalix und beginnt im Jahr 1742, als der Student Magnus Ziöberg seinen Geburtsort auf einer Insel des Roslagen-Archipels nördlich von Stockholm besuchte. Wir bleiben also in Schweden.

Eigentlich war Ziöberg angehender Jurist, der später eine glänzende Karriere als Richter machen sollte, aber er interessierte sich auch für Botanik und nutzte die Gelegenheit, um durch die Inselnatur zu streifen und Pflanzen zu sammeln. Dabei stieß er auf ein unscheinbares Gewächs, das dem Gemeinen Leinkraut ähnelte, aber vollkommen anders gestaltete Blüten besaß. Ziöberg wunderte sich, presste und trocknete die seltsame Pflanze und zeigte sie Professor Olof Celsius in Uppsala. Der Professor fand, das sei in der Tat etwas Bemerkenswertes, und reichte das Herbarblatt sogleich an einen Spezialisten weiter, seinen berühmten Landsmann Carolus Linnaeus. Dieser glaubte zunächst an einen Scherz. Offenbar hatte jemand fremde Blüten an ein ordinäres Leinkraut geklebt, um ihn und seine Kollegen an der Nase herumzuführen.[1]

Aber Pflanze und Blüten gehörten tatsächlich zusammen. Linnaeus griff zum Präparierbesteck und fand im Inneren der Blüten derart ungewöhnliche Strukturen, dass er glaubte, die Pflanze müsse von weit her stammen, vom Kap der Guten Hoffnung, aus Japan oder Peru. Sie konnte unmöglich in Roslagen wachsen, quasi vor der eigenen Haustür, wo Linnaeus, der bald darauf eine Flora Schwedens veröffentlichen sollte, jeden Grashalm kannte.

Carolus Linnaeus, oder Carl von Linné, wie er sich ab 1761, nach der Verleihung des Adelstitels, nennen durfte, war die ordnende Hand, die endlich System in das Durcheinander der Pflanzen- und Tierarten brachte. Ein Jahr bevor Magnus Ziöberg die seltsame Pflanze fand, war Linnaeus an der Universität Uppsala zum Direktor des Botanischen Gartens ernannt worden und trat gleichzeitig eine Professur für Theoretische Medizin an. Seine wichtigsten Arbeiten hatte er allerdings schon Jahre zuvor als kaum Dreißigjähriger in Holland veröffentlicht. Als er nach Uppsala, in die Stadt seiner Studentenjahre, zurückkehrte, war er im Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit bereits ein Star, der interessierte Bürger und Studenten aller Fakultäten scharenweise in die Vorlesungen lockte, nicht zuletzt durch seine verfängliche Sprache, mit der er die pflanzliche Sexualität beschrieb. In einem konkreten Fall, der Mohnblüte, hörte sich das so an: »In den Blütenkelchen finden sich die gleiche Zahl von Ehemännern und -frauen in unbeschwerter Freiheit«, schrieb Linné, »aber auch zwanzig Männer oder mehr im selben Bett mit einer Frau.« Oh, là, là … Ganz allgemein gelte: »Die Blütenblätter dienen als Hochzeitsbetten, die der große Schöpfer so herrlich hergerichtet, mit so edlen Vorhängen und Düften versehen, damit das Paar dort seine Hochzeit mit einer erhöhten Feierlichkeit begehen kann.«[2]

Aus heutiger Sicht erscheint diese Seite Linnés erstaunlich modern. Denn mithilfe von Zweideutigkeiten und gezielten Provokationen die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich und die eigene Forschung zu lenken ist eine Methode, die sich bei Wissenschaftlern noch heute großer Beliebtheit erfreut, auch wenn, wie wir sehen werden, im 20. und 21. Jahrhundert weniger mit Anzüglichkeiten als mit vollmundigen Ankündigungen, gewagten Versprechungen und provokanten Thesen gearbeitet wird. Man pflegt das eigene Ego, lockt talentierten Nachwuchs an und positioniert sich im Kampf um Forschungsmittel. Auch Linné versuchte Helfer zu gewinnen. Als seine »Apostel« – die Bezeichnung stammt von ihm selbst – schwärmten einige zu gefahrvollen Reisen in die ganze Welt aus, um neue Pflanzen- und Tierarten zu sammeln.[3] Noch heute besitzt Linnés Name eine bemerkenswerte Anziehungskraft. Zu den Feierlichkeiten anlässlich seines 300. Geburtstags reiste 2007 sogar das japanische Kaiserpaar nach Uppsala. Kaiser Akihito, selbst Meeresbiologe und bekennender Verehrer des großen Schweden, traf dort unter anderem auf den ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan, den britischen Naturfilmer David Attenborough und die Schimpansenforscherin Jane Goodall.

Seit Linné fassen die Biologen Pflanzen- und Tierarten in immer größeren Gruppen[4] zusammen, beginnend mit den Arten, die zu Gattungen gruppiert werden, diese zu Ordnungen und Ordnungen wiederum zu Klassen: Systema Naturae, das wunderbare Schöpfungswerk Gottes. Seit Linné (genauer gesagt, seit 1753 für Pflanzen und seit 1758 für Tiere) benennen Botaniker und Zoologen ihre Schützlinge mit zwei lateinischen, oft grotesk unaussprechlichen Namen, was ihnen in den Augen vieler Menschen einen unausrottbaren Ruf als elitär verschrobene Blütenblatt- und Fliegenbeinzähler eingetragen hat. Aber die altsprachliche Nomenklatur ist sinnvoll, bis heute.[5] Wie könnten sich ein Schwede und ein Spanier oder Japaner sicher sein, dass sie über dieselbe Pflanzen- oder Tierart reden, wenn jede Sprache eine eigene Bezeichnung bereithielte? Der erste Name benennt die Gattung, Homo, der zweite die Art, sapiens (manchmal kommt noch ein dritter Name für die Unterart hinzu): Homo sapiens sapiens. Oder eben Linaria vulgaris, Gemeines Leinkraut. Linné, mit gesundem Selbstbewusstsein ausgestattet, brachte seine Lebensleistung auf den Punkt: »Gott schuf die Welt, Linnaeus gab ihr eine Ordnung.«[6] Im göttlichen Schöpfungsplan sollte jede Art ihren Platz und ihren Namen haben. Man musste sie nur entdecken.

[1]  Die Kleidung, in der Carl von Linné hier posiert, hatte er für seine Reise nach Lappland erworben. Ausschnitt eines Porträts von Hendrik Hollander, 1853.

War diese seltsame Pflanze, die aussah wie ein verunglücktes Leinkraut, eine neue, unbekannte Art? Linné wollte unbedingt frische Exemplare sehen und beauftragte Magnus Ziöberg, am Originalfundort in Roslagen weitere Pflanzen mit Wurzeln und Stielen zu sammeln. Was der Student mitbrachte, versetzte Linné in große Aufregung. Diese Pflanze gehörte zu den bemerkenswertesten, die ihm je unter die Augen gekommen waren. »Nichts kann fantastischer sein als das, was hier geschehen ist«, schrieb er in einer berühmten Abhandlung, die zwei Jahre später erschien, »nämlich, dass ein missgebildeter Nachkomme einer Pflanze, die zuvor immer irreguläre Blüten hervorgebracht hat, nun reguläre Blüten produziert. (…) Das ist ein Beispiel für etwas, das in der Botanik ohne Parallele ist. (…) Es ist sicher nicht weniger bemerkenswert, als wenn eine Kuh ein Kalb mit einem Wolfskopf gebären würde.«[7]

Peloria nannte er die in seinen Augen sensationelle Pflanze – Monster (aus dem Altgriechischen). Um Linnés Aufregung zu verstehen, muss man wissen, dass die von ihm vorgenommene Einteilung der Gefäßpflanzen in 24 Klassen auf der Anatomie ihrer Blüten beruhte. Und nun hatte er ein Gewächs vor sich, das in seinen vegetativen Teilen, den Blättern, Trieben und Wurzeln, in allen Einzelheiten dem bekannten Leinkraut entsprach, aber völlig anders gebaute Blüten besaß. Diese abweichende Blütenanatomie würde die Pflanze in Linnés System nicht nur aus der Gattung Linaria hinaus-, sondern in eine völlig andere Klasse hineinkatapultieren, daher das Bild vom Kalb mit dem Wolfskopf. (Obwohl dieses Kalb eher einen Wolfspenis oder -uterus aufweisen müsste, da es sich bei den Blüten um die Sexualorgane der Pflanzen handelt – aber lassen wir das.)

In seiner Peloria-Abhandlung begnügte sich Linné nicht mit einer bloßen Beschreibung der ungewöhnlichen Pflanze, sondern er lieferte auch eine Erklärung für ihre Existenz. Welche Konflikte er dabei mit sich selbst auszutragen hatte, kann man heute nur noch erahnen. Schon in der Namensgebung – Monster – steckt ja eine gehörige Portion Erschrecken. So hässlich oder monströs sah diese Pflanze nun wirklich nicht aus. Das Ungeheuerliche bestand darin, dass es sie überhaupt gab.

Obwohl Carl von Linné ein wissenschaftlicher Pionier war, stand er doch felsenfest auf dem Boden des christlichen Weltbildes und sah seine Lebensaufgabe in der Erhellung des göttlichen Schöpfungsplans. Alles, was auf Erden lebte, war für ihn und seine Zeitgenossen unveränderlich und gottgegeben. »Es gibt so viele Arten, wie das Unendliche Wesen von Anfang an verschiedene Formen geschaffen hat«, schrieb er in einem seiner bedeutendsten Werke. »Diese Formen haben dann gemäß den der Schöpfung innewohnenden Gesetzen immer Nachkommen wie sie selbst erzeugt, sodass wir heute nicht mehr Arten finden, als früher existiert haben.«[8]

In dieses fest gefügte und statische Weltbild schlug Peloria ein wie eine Bombe. Wenn die Zahl der Arten konstant ist und sie immer nur Kopien ihrer selbst hervorbringen...

Erscheint lt. Verlag 21.2.2013
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Technik
Schlagworte Biologie • Chromosom • Code • Darwin • Entwicklung • Epigenetik • Erbgut • Evolution • Evolutionstheorie • Gen • Genom • Mensch • Organismen • Organismus • Proteine • Revolution • Umdenken • Umwelt • Umwelteinflüsse • Vererbung • Wissenschaft
ISBN-10 3-8321-8733-2 / 3832187332
ISBN-13 978-3-8321-8733-0 / 9783832187330
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