Dimensionen der Zeit (eBook)

Die Entschleunigung unseres Lebens
eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
352 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401427-2 (ISBN)

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Dimensionen der Zeit -
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International renommierte Wissernschaftler unterschiedlicher Disziplinen, u.a. Kurt Flasch, Etienne Francois, Ansgar Schmidt und Martin Held, nähern sich dem Thema Zeit an. Aus natur- und geisteswissenschaftlicher Perspektive soll zunächst geklärt werden, was Zeit ist, um dann zu besprechen, wie mit ihr umgegangen wird und werden sollte. Alles läuft auf die Frage hinaus, ob wir fähig sind, entschleunigt zu leben.

Ernst Peter Fischer, Physiker und Biologe und einer der bekanntesten Naturwissenschaftler Deutschlands, unterrichtet Wissenschaftsgeschichte an der Universität Heidelberg. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher, u.a. von dem Bestseller »Die andere Bildung«. Klaus Wiegandt ist Stifter und Vorstand des »Forums für Verantwortung«. Im Fischer Taschenbuch Verlag hat er bereits zahlreiche Bücher zum Thema Nachhaltigkeit herausgegeben.

Ernst Peter Fischer, Physiker und Biologe und einer der bekanntesten Naturwissenschaftler Deutschlands, unterrichtet Wissenschaftsgeschichte an der Universität Heidelberg. Er ist Autor zahlreicher Sachbücher, u.a. von dem Bestseller »Die andere Bildung«. Klaus Wiegandt ist Stifter und Vorstand des »Forums für Verantwortung«. Im Fischer Taschenbuch Verlag hat er bereits zahlreiche Bücher zum Thema Nachhaltigkeit herausgegeben.

Zeiten der Moderne


Die Räder-Uhr, sie wurde am Ende des Mittelalters in einem unbekannten Kloster Oberitaliens erfunden, führte zu einem fundamental neuen Zeitdenken und Zeitbewusstsein und in der Folge dann zu einem radikal veränderten Zeithandeln. Die Menschen Europas begannen, »einen eigenartigen und bislang unerhörten Wunsch zu verspüren. Sie wollten wissen, wie spät es ist« (Adolf Holl). Das war dann der Augenblick, an dem die »Zeit« zu einem Thema wurde. Von da an redete man über Zeit, nicht zuletzt, weil sie in Form großer, mechanischer Uhren an Kirchtürmen und Rathäusern sicht- und hörbar wurde. Man richtete das Zeithandeln nicht mehr nur an den Veränderungen des Wetters, denen der Natur, auch immer seltener am Lauf der Sterne und dem Stand der Sonne aus, man blickte von da an immer häufiger zu den Kirch- und Uhrtürmen, um sich am Stand der Zeiger der dort installierten Zeitmesser darüber zu informieren, was die Stunde geschlagen hat. Nicht mehr die Sterne regierten die Menschen, sie taten das jetzt mit fleißiger Unterstützung der Uhr selbst. Gott verlor die Lufthoheit über die Zeit. Er wurde »zeitlich« enteignet. Mächtige Personen, Landesherren, Fürsten, Regenten aller Art, aber auch einflussreiche Kaufleute übernahmen an seiner Stelle die Herrschaft über die Zeit und die Uhren. In dem Maße, wie der Glaube an die Kräfte im Himmel an Intensität verlor, wuchs der an die Verrechnung von Zeit in Geld. Das Privileg der Zeitgestaltung lag nicht mehr bei Gott, die Menschen nahmen es nun selbst in Anspruch. Dieser radikale Wechsel des Zeitdenkens und der Zeitwahrnehmung öffnete eine Menge neuer Verhaltensmöglichkeiten und Handlungsoptionen. Unter anderem gehörte dazu auch die Wahlmöglichkeit, zu den pünktlichen oder zu den unpünktlichen Menschen zu gehören.

Die an Kirchtürmen, Rathäusern oder eigens gebauten Uhrtürmen installierten mechanischen Uhren regelten den zeitlichen Ablauf des Tags in immer größerem Ausmaß. Es ließen sich erstmalig in der Geschichte des Alltagslebens Terminabsprachen machen, die nicht vom Wetter oder vom Sonnenstand abhängig waren. Zuerst indirekt, später dann offen und problemlos, wird das kirchliche Verbot aufgehoben, die Zeit durch Zinseinnahmen zu »verkaufen«. Die ersten Banken – Institutionen, die bekanntlich ja nichts anderes tun, als mit leerer Zeit Handel zu treiben – wurden gegründet und ebenso – auch dieses Geschäft setzt den Handel mit naturferner, abstrakter Zeit voraus – die ersten Versicherungsgesellschaften. In der Stadt, in der zur gleichen Zeit damals auch die doppelte Buchführung erfunden wurde, in der Handelsmetropole Genua, wird 1407 die erste Aktiengesellschaft der Welt aus der Taufe gehoben. Es ist die Bank des Heiligen Georg. Ab diesem Zeitpunkt hat auch das Geld einen Heiligen. Der Kapitalismus nimmt – nicht nur auf diesem Wege – religiöse Züge an und bekommt durch das Räderwerk der Uhr und deren von allen Qualitäten gereinigter Zeit seine alles entscheidende Starthilfe. Zeit wird durch das Zeit-ist-Geld-Denken zu einer knappen Ressource, mit der es fortan gilt, kalkulatorisch umzugehen. Sie ist nicht mehr länger ein Geschenk des Himmels. Spitzt man es zu, dann war es die mechanische Uhr, die den Handelskapitalismus und später dann auch die Industriegesellschaft so richtig auf Betriebstemperatur gebracht hat.

Vor etwa 250 Jahren, Wirtschaftshistoriker kennzeichnen diese Zeit als die der beginnenden industriellen Revolution, intensivierte sich die wirtschaftliche Aktivität. Die Arbeitswelt, speziell die Organisation der Arbeit, und die sozialen Verhältnisse erfuhren eine tiefgreifende Umgestaltung. Die wiederum führte zu einer breiten Entwicklung von Technologien, die vor allem der Beschleunigung der Arbeitsabläufe dienten. Maschinen übernahmen immer mehr Arbeitsprozesse, so dass die Menschen immer weniger mit und immer häufiger an Maschinen arbeiteten. Mit der Folge, dass sie sich gezwungen sahen, den taktförmigen Zeitvorgaben von Apparaturen zu gehorchen und sich ihnen unterzuordnen.

Ohne die flächendeckende Verbreitung von Uhren und ohne Erziehung zum Uhrzeitgehorsam – dafür sorgten die Schulpflicht und der Militärdienst – wäre dies alles nicht möglich gewesen. Die Uhrzeiger eroberten die Macht über das Zeitleben, sowohl im Arbeits- als auch im Privatleben. Zu Anfang geschah das noch im Stundentakt, später dann im Takt von Minuten, und heute sehen wir uns nicht selten gezwungen, im Sekundentakt zu reagieren und zu organisieren. Strebsamkeit und Pünktlichkeit wurden zu Tugenden erklärt und zogen als »Kopfnoten« in die schulische Leistungsbewertung ein. Dass der wachsende Druck zur Veruhrzeitlichung und zur Verfleißigung nicht von allen Zeitgenossen gleichermaßen euphorisch willkommen geheißen wurde, zeigt die Fabel, die Paul Scheerbart vor 100 Jahren, als die Industriegesellschaft an ihrem Höhepunkt angelangt war, eingefallen ist:

Bei den fleißigen Ameisen herrscht eine sonderbare Sitte: Die Ameise, die in acht Tagen am meisten gearbeitet hat, wird am neunten Tag feierlich gebraten und von den Ameisen ihres Stammes gemeinschaftlich verspeist. Die Ameisen glauben, dass durch dieses Gericht der Arbeitsgeist der Fleißigsten auf die Essenden übergehe.

Und es ist für eine Ameise eine ganz außerordentliche Ehre, feierlich am neunten Tag gebraten und verspeist zu werden. Aber trotzdem ist es einmal vorgekommen, dass eine der fleißigsten Ameisen kurz vorm Gebratenwerden noch folgende kleine Rede hielt:

»Meine lieben Brüder und Schwestern! Es ist mir ja ungemein angenehm, dass Ihr mich so ehren wollt! Ich muss Euch aber gestehen, dass es mir noch angenehmer sein würde, wenn ich nicht die Fleißigste gewesen wäre. Man lebt doch nicht bloß, um sich tot zu schuften!«

»Wozu denn?« schrien die Ameisen ihres Stammes – und sie schmissen die große Rednerin schnell in die Bratpfanne – sonst hätte dieses dumme Tier noch mehr geredet.

Z eitdisziplin, genauer: Uhrzeitdisziplin, galt politisch, ökonomisch, aber auch privat als der Königsweg zu mehr Güterwohlstand, höherem Einkommen und rascherem Fortschritt. Inzwischen wissen wir, dass dieser Weg erfolgreich war, dass er aber nicht ohne Opfer und problematische Folgen beschritten bzw. befahren wurde. Für ihre »Veruhrzeitlichung« haben die Menschen auch ihren Preis zahlen müssen. Der heißt vor allem Zeitnot, Hetze, innere sowie äußere Unruhe, Einsamkeit, Orientierungs- und Heimatlosigkeit. Im signifikant wichtigsten Objekt der modernen Anbetung, dem Auto, konzentrieren sich die Vor- und auch die Nachteile der epochalen Errungenschaften der Industriegesellschaft. Carl von Ossietzky, ein prominentes Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungsdiktatur, hat sehr früh bereits Zweifel angemeldet, ob es sich beim Fortschritt »Auto« wirklich nur um einen handelt, der allseits begrüßenswert ist. 1926 notierte er:

Wie die Ägypter die Krokodile anbeteten, die sie fraßen, beten wir die Automobile an, die uns totfahren.

Versehen wir die revolutionären Veränderungen unserer zeitlichen Lebenswelt mit einem pauschalierenden Etikett, dann eignete sich dafür die Formel: »Vom heiligen zum eiligen Geist.« Solider formuliert lautet sie: »Von der lebensorientierten Arbeitszeit zur arbeitsorientierten Lebenszeit.« Die Folge: Das ganze Leben, nicht nur das Arbeitsleben, hat sich dem Maß und dem Takt der Uhrzeit zu unterwerfen. Dass die Menschen mit der mechanisierten Zeit der Uhr leben können, das wissen wir heute. Ob sie jedoch gut damit leben können, das ist immer noch ungewiss. Und weil es das ist, steht es immer wieder neu, auch heute wieder, zur Debatte. Nicht zuletzt ist das auch der Grund, weshalb stets neue Regeln für den Umgang mit Zeit gefunden und für verbindlich erklärt werden müssen.

Staatliche Arbeitszeitgesetze und in regelmäßigen Abständen neu auszuhandelnde Tarifverträge sind daher notwendige Folgen der Veruhrzeitlichung unseres Alltagslebens. Ergänzt werden müssen sie von mehr oder weniger formellen und informellen institutionellen und organisatorischen Regelungen. Ein originelles Beispiel dafür findet man in einer schon etwas älteren Kirchenordnung aus dem Baltikum. In ihr werden leidenschaftliche Prediger zu zeitlicher Rücksichtnahme gegenüber ihrer Gemeinde ermahnt. Sie werden gebeten, es bei ihren Predigten, was deren Dauer angeht, nicht allzu sehr zu übertreiben, »damit die Zuhörer nicht überschüttet, die Schwangeren nicht beschwert, die schlecht Gekleideten nicht frieren und die Armen ihr Essen richten können«. Ein Hinweis, der an Aktualität nichts eingebüßt hat.

Die kontinuierlich wachsende Vertaktung des individuellen und des sozialen Zeithandelns vollzieht sich nicht von selbst. Auch wird sie nicht von einer mehr oder weniger unsichtbaren Hand gesteuert. Sie wurde – und das geschieht auch noch heute, nur mit anderen Methoden – von breitangelegten Erziehungs- und Umerziehungsmaßnahmen flankiert. Die pädagogischen Grundlagen dafür legte unter anderem der in Halle an der Saale wirkende Theologe August Hermann Francke. In seiner Glauchauer Neujahrspredigt von 1713, der er den programmatischen Titel: »Vom rechten Gebrauch der Zeit« verliehen hatte, verkündete er ein umfassendes Programm zur Zeiterziehung. Sie gipfelt in der Forderung, aller lebenspraktische Umgang mit Zeit müsse sich am Gang der Uhrzeiger ausrichten. Die Aufforderung Luthers: »Schicket Euch in die Zeit« radikalisierte er zu der Verpflichtung: »Erkauffet die Zeit.« Eine Formel, die nur wenig später vom Amerikaner Benjamin Franklin in das bekannte Schlagwort: »Time is money« umformuliert...

Erscheint lt. Verlag 8.3.2012
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Ansgar Schmidt • Beschleunigung • Chronotyp • Entschleunigung • Etienne Francois • Forum • für • Kurt Flasch • lebenstempo • Martin Held • Michael Maar • Sachbuch • Stephan Rammler • Verantwortung • Weissenberger-Eibl • Zeitforschung • Zeitpfeil • Zeitsymmetrie • Zeitwahrnehmung
ISBN-10 3-10-401427-2 / 3104014272
ISBN-13 978-3-10-401427-2 / 9783104014272
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