Dein kompetentes Kind (eBook)
288 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01571-5 (ISBN)
Jesper Juul, 1948 in Dänemark geboren, war Lehrer, Gruppen- und Familientherapeut, Konfliktberater und Buchautor. Er war «gelernter Vater» eines Sohnes und lebte in Kopenhagen und Zagreb. Nach dem Studium der Geschichte, Religionspädagogik und europäischen Geistesgeschichte arbeitete er als Heimerzieher und später als Sozialarbeiter; in Kroatien und Bosnien leistete er therapeutische Arbeit in Flüchtlingslagern. Er entwickelte eine eigenständige Therapie- und Beratungsform, handlungsorientiert und praxisnah, und leitete bis 2004 das von ihm gegründete «Kempler Institute of Scandinavia». Am 25. Juli 2019 starb Juul im Alter von 71 Jahren in Odder nahe Aarhus.
Jesper Juul, 1948 in Dänemark geboren, war Lehrer, Gruppen- und Familientherapeut, Konfliktberater und Buchautor. Er war «gelernter Vater» eines Sohnes und lebte in Kopenhagen und Zagreb. Nach dem Studium der Geschichte, Religionspädagogik und europäischen Geistesgeschichte arbeitete er als Heimerzieher und später als Sozialarbeiter; in Kroatien und Bosnien leistete er therapeutische Arbeit in Flüchtlingslagern. Er entwickelte eine eigenständige Therapie- und Beratungsform, handlungsorientiert und praxisnah, und leitete bis 2004 das von ihm gegründete «Kempler Institute of Scandinavia». Am 25. Juli 2019 starb Juul im Alter von 71 Jahren in Odder nahe Aarhus.
Einleitung
Wie so viele meiner Generation wusste ich vor fünfundzwanzig bis dreißig Jahren, dass an der Art und Weise, wie unsere Eltern (und die Generationen vor ihnen) über Familie und Kindererziehung dachten, etwas grundlegend falsch war. Dass sich unser konkretes Wissen durchaus in Grenzen hielt, tat unseren Überzeugungen keinen Abbruch.
In den folgenden zehn Jahren, in denen ich mich zum Familientherapeuten ausbilden ließ – während ich mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen sowie mit Gruppen alleinerziehender Mütter arbeitete –, wurde mir allmählich klar, dass meine Ansichten weder besser noch schlechter als diejenigen waren, die sie ersetzen sollten. Denn über einen Mangel an ethischer Substanz konnten auch sie nicht hinwegtäuschen. Vielmehr polarisierten sie durch die unbeirrbare Überzeugung, dass manche Menschen sich richtig verhielten, weil sie die richtigen Ansichten vertraten, während andere sich falsch verhielten, weil ihre Ansichten falsch waren.
Das Feedback, das ich von Kollegen und Klienten bekam, spiegelte diese Polarisierung. Einige waren voll des Lobes, andere kritisierten mich, und in meiner Naivität dachte ich lange, ich sei auf der sicheren Seite, solange die Erstgenannten in der Überzahl waren. Erst sehr spät begriff ich, dass ich auf die anderen hätte hören sollen. Erst als ich meine eigene Unzulänglichkeit als Vater erlebte, wurde mein theoretisches Wissen durch praktische Erfahrung ergänzt.
Bis dahin hatte ich geglaubt, dass die Beziehung zwischen Eltern und Kindern vor allem von Verständnis, Toleranz und demokratischen Spielregeln geprägt sein sollte – im Gegensatz zur moralisierenden, intoleranten und bevormundenden Art der Erziehung, die Kindern das Selbstbewusstsein raubt und ihre Vitalität beeinträchtigt. Doch je besser ich meinen Sohn und die Familien kennenlernte, mit denen ich zusammenarbeitete, desto mehr begriff ich die Oberflächlichkeit meiner Überzeugung. Obwohl sich die Situation der Kinder in Familie und Gesellschaft in vieler Hinsicht verbessert hatte, waren es zwei Probleme, die mich umtrieben.
Als Lehrer und Familientherapeut habe ich erlebt, wie schwierig es für Eltern ist, «auf Augenhöhe» mit einem Psychologen zu kommunizieren. Allzu oft scheinen sie durch die Gespräche an Selbstvertrauen zu verlieren und am Ende orientierungsloser zu sein als vorher. Beim Psychologen löst dies verständlicherweise Gefühle der Hilflosigkeit und Inkompetenz aus, und so klammert er sich gern an eine traditionelle Form der Psychologie, die mehr darauf aus ist, Fehler zu finden, als nach Möglichkeiten zu suchen.
Als Familientherapeut habe ich erlebt, dass Kinder und Jugendliche stets den Preis dafür bezahlen. Auch wenn das pädagogische Verständnis der Erwachsenen differenzierter, ihre Erziehung weniger besserwisserisch und die öffentliche Moral weniger restriktiv ist als früher, so wird den Kindern auch weiterhin eine Verantwortung aufgebürdet, die nur wenige Eltern, Politiker, Pädagogen, Lehrer und Therapeuten zu tragen bereit sind. Dies geschieht nicht aus bösem Willen – oft genug stecken nur die besten Absichten dahinter –, ist aber eine logische Konsequenz unser grundlegenden Fehleinschätzung, was das Wesen der Kinder betrifft.
Die schwedische Psychologin Margareta Brodén hat dies in einem schlichten Satz zum Ausdruck gebracht, der mich zum Titel dieses Buches angeregt hat: «Vielleicht haben wir uns geirrt – vielleicht sind Kinder kompetent» (Margareta Brodén, Mor og barn i Ingenmandsland, København 1992, dt. «Mutter und Kind im Niemandsland»).
Brodéns Formulierung ist teils dem wissenschaftlichen Kontext geschuldet, in dem sie sich bewegt, zeigt aber vor allem ihr besonderes Interesse, das sie dem frühen Zusammenspiel zwischen Säuglingen und Eltern entgegenbringt. Da ich kein Wissenschaftler bin, sondern aus der Praxis komme und mein Erfahrungsgebiet die Interaktion zwischen Kindern und Eltern im weiteren Sinn ist, möchte ich die Summe meiner Beobachtungen etwas anders formulieren.
Soweit ich sehe, machen wir einen entscheidenden Fehler, wenn wir davon ausgehen, dass Kinder bei ihrer Geburt noch keine «richtigen» Menschen sind. Lange Zeit wurden Kinder gewissermaßen als asoziale Halbmenschen angesehen, die der massiven Einflussnahme und Manipulation der Erwachsenen bedürfen und zudem ein gewisses Alter erreichen müssen, ehe man sie als vollwertige Menschen betrachtet. Diese Ansicht ist im Laufe der Zeit sowohl wissenschaftlich als auch privat vertreten worden, stets mit denselben Folgen: Die Erwachsenen haben verschiedenste Wege erprobt, den Kindern beizubringen, sich wie richtige, erwachsene Menschen zu benehmen. Wir haben das als «Erziehungsmethoden» bezeichnet, und auch wenn wir die ganze Bandbreite von der althergebrachten autoritären bis zur antiautoritären Erziehung diskutiert haben, wurde der ideelle Ausgangspunkt doch nie grundlegend in Frage gestellt.
Ich möchte mit diesem Buch klarmachen, dass ein Großteil dessen, was wir im traditionellen Sinn unter Erziehung verstehen, nicht nur überflüssig, sondern schädlich ist. Dass nicht nur die Kinder darunter zu leiden haben, sondern auch die Eltern in ihren Entwicklungsmöglichkeiten gehemmt werden, was die Interaktion zwischen Kindern und Erwachsenen gleichermaßen belastet. So wird ein Teufelskreis in Gang gesetzt, der unsere Einstellungen in sozialen und pädagogischen Fragen beeinflusst und bis in die Gesellschafts- und Familienpolitik hineinwirkt.
Meine Generation hat dazu beigetragen, eine illusorische Distanz zwischen Subjekt und Gesellschaft zu schaffen, eine Illusion, die vor fünfundzwanzig Jahren logischer Bestandteil unserer Auflehnung gegen Autoritäten war, die aber heutzutage, da Politik sich zunehmend auf Wirtschaftspolitik reduziert, immer gefährlicher wird. Vielleicht stimmt es mehr denn je, dass die Art und Weise, wie wir unsere Kinder behandeln, für die Zukunft der Welt von entscheidender Bedeutung ist. Die Menge an Informationen hat in solchem Maß zugenommen, dass wir nicht davon ausgehen dürfen, unser Doppelspiel im Verhältnis zu Kindern und Jugendlichen noch lange aufrecht erhalten zu können. Ein Doppelspiel, das darin besteht, in politischen Zusammenhängen Ökologie, Mitmenschlichkeit und Gewaltverzicht zu predigen, unseren Kindern aber nach wie vor Gewalt anzutun.
Ich hatte das Privileg, viele Jahre in verschiedenen Kulturen leben und arbeiten zu dürfen. Das hat mich davon überzeugt, dass die Veränderung im Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, die in Skandinavien zu beobachten ist, auch anderen Ländern als Modell dienen könnte. Dem Außenstehenden mag dieses Verhältnis zunächst sehr beliebig, unentschieden und ziellos erscheinen, doch trägt es den Keim für eine Entwicklung in sich, die man nur als Quantensprung in der Entwicklung der Menschheit bezeichnen kann. Zum ersten Mal in neuerer Zeit sind wir bereit, das unantastbare Recht des Einzelnen auf die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit weder unter dogmatischen noch autoritären Gesichtspunkten zu betrachten. Allmählich scheint sich die Überzeugung durchzusetzen, dass die existenzielle Freiheit des Individuums keine Gefährdung der Gemeinschaft darstellt, sondern im Gegenteil von vitaler Bedeutung für deren Fortbestand ist.
Das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern spielt sich in verschiedenen Tonlagen ab. Denken wir nur an die großen Unterschiede zwischen den USA und Europa und innerhalb Europas zwischen dem Norden, dem Süden und den osteuropäischen Ländern. Ganz zu schweigen von den markanten Unterschieden, die in den Landesteilen ein und desselben Staates bestehen. Natürlich spielen die kulturelle Identität eines Landes, seine politische Geschichte und religiöse Zugehörigkeit eine große Rolle für das Selbstverständnis eines Volkes. Menschen, die ursprünglich aus anderen Ländern kommen, sind sich dieser Tatsache in besonderem Maße bewusst. So ist von Einwanderern mitunter der Satz zu hören, sie wünschten nicht, dass ihre Kinder so werden wie dänische Kinder, während Dänen zuweilen irritiert über den physischen Umgang der Südeuropäer mit ihren Kindern sind. Da sich vor allem die USA und die europäischen Staaten zu multiethnischen und multinationalen Gesellschaften entwickeln – falls sie es nicht schon sind –, wird es umso wichtiger, sich die jeweiligen kulturellen Eigenarten bewusst zu machen. Mag der soziale Stellenwert der Familie von Kultur zu Kultur auch verschieden sein, so ist er meiner Erfahrung nach doch stets von existenzieller Bedeutung. Die Freude über ein konstruktives Zusammenspiel ist stets dieselbe, auch wenn es unterschiedlich zum Ausdruck kommt. Das gilt auch für den Schmerz angesichts destruktiver Beziehungen.
Wenn ich in diesem Buch das «Alte» mit dem «Neuen» konfrontiere, tue ich das weniger, um das Alte zu kritisieren, sondern vielmehr um konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. In meiner täglichen Arbeit mit Familien und ihren Therapeuten begegne ich oft einer großen Aufgeschlossenheit für neue Verhaltensmuster. Die meisten Eltern wissen sehr genau, wenn sie sich unangemessen verhalten, brauchen jedoch konkrete Anleitungen, um ihr Verhalten zu ändern, was auch verdeutlicht, dass es vielen heute an Vorbildern und Rollenmodellen fehlt.
Die traditionelle Psychologie stellt oft unsere Gefühle in Frage. Wird das Kind von seinen Eltern auch wirklich geliebt? Wie groß ist der Hass des Sohnes auf seinen Vater? Wie zornig ist die Tochter auf ihre Mutter? Doch möchte ich betonen, dass ich noch nie Eltern begegnet bin, die ihre Kinder nicht liebten, oder Kindern, denen ihre Eltern nicht am Herzen lagen....
Erscheint lt. Verlag | 1.12.2011 |
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Übersetzer | Knut Krüger |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung |
Schlagworte | artgerecht • Eliane Retz • Eltern • Eltern-Kind-Beziehung • Elternliebe • Elternratgeber • Entwicklungsprozess • Erziehung • Erziehungsprobleme • Erziehungstricks • Familie • Familienberatung • Familientherapie • "gleichwürdige" Familie • Kindererziehung • Kleinkinder • moderne Familie • Nicola Schmidt • Pädagogik • Remo H. Largo • Selbstbestimmung • Trotzphase • Werte • Wild Child • wild family |
ISBN-10 | 3-644-01571-6 / 3644015716 |
ISBN-13 | 978-3-644-01571-5 / 9783644015715 |
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