Kommunikologie (eBook)

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2011 | 1. Auflage
368 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401628-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Kommunikologie -  Vilém Flusser
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Kommunikologie, so nannte Vilém Flusser seine Theorie menschlicher Kommunikation, die im Mittelpunkt seines Werks steht. Der vorliegende Band enthält zwei grundlegende Texte Flussers zu diesem Problemgebiet: Texte, die zentrale Motive seines Denkens erschließen. Die menschliche Kommunikation ist für Flusser jener Prozeß, durch den Informationen gespeichert, verarbeitet und weitergegeben werden, aber auch stetig neue Information erzeugt wird. Die Kommunikologie beschäftigt sich dabei vor allem mit den Formen und Codes dieser Informationsvermittlungen, deren historische Wandlungen Flusser von der Höhlenmalerei bis zur Kommunikation in Computernetzen verfolgt: Mit seiner Kommunikologie hat Flusser nicht nur eine Theorie, sondern auch eine scharfsinnige Diagnose unserer Informations- und Kommunikationsgesellschaft ausgearbeitet.

Vilém Flusser, geboren 1920, gestorben 1991, emigrierte 1939 über London nach Sao Paulo. 1959 wurde er Dozent für Wissenschaftsphilosophie, 1963 Professor für Kommunikationsphilosophie an der Universität Sao Paulo. Im Fischer Taschenbuchverlag sind erschienen »Kommunikologie« (978-3-596-13389-5) sowie »Medienkultur« (978-3-596-13386-4).

Vilém Flusser, geboren 1920, gestorben 1991, emigrierte 1939 über London nach Sao Paulo. 1959 wurde er Dozent für Wissenschaftsphilosophie, 1963 Professor für Kommunikationsphilosophie an der Universität Sao Paulo. Im Fischer Taschenbuchverlag sind erschienen »Kommunikologie« (978-3-596-13389-5) sowie »Medienkultur« (978-3-596-13386-4).

Umbruch der menschlichen Beziehungen?


Was ist Kommunikation?


Die menschliche Kommunikation ist ein künstlicher Vorgang. Sie beruht auf Kunstgriffen, auf Erfindungen, auf Werkzeugen und Instrumenten, nämlich auf zu Codes geordneten Symbolen. Menschen verständigen sich untereinander nicht auf «natürliche» Weise: Beim Sprechen kommen nicht «natürliche» Töne heraus wie beim Vogelgesang, und das Schreiben ist keine «natürliche» Geste wie der Bienentanz. Daher ist die Kommunikationstheorie keine Naturwissenschaft, sondern sie gehört zu jenen Disziplinen, welche mit den unnatürlichen Aspekten des Menschen zu tun haben und einst «Geisteswissenschaften» hießen. Die amerikanische Bezeichnung «humanities» trifft das Wesen solcher Disziplinen genauer. Sie deutet nämlich an, daß der Mensch ein unnatürliches Tier ist.

Nur in diesem Sinn kann man ihn ein geselliges Tier, ein zoon politikon, nennen. Er ist ein Idiot (ursprünglich: eine «Privatperson»), wenn er nicht gelernt hat, sich der Instrumente der Kommunikation (z.B. einer Sprache) zu bedienen. Idiotie, unvollkommenes Mensch-sein, ist Mangel an Kunst. Zwar gibt es auch «natürliche» zwischenmenschliche Beziehungen (etwa zwischen Säugling und Mutter, oder beim Geschlechtsverkehr), und man kann von ihnen behaupten, sie seien die ursprünglichsten und grundlegenden Kommunikationsformen. Aber sie sind nicht charakteristisch für menschliche Kommunikation und zudem weitgehend von Kunstgriffen angesteckt (von «Kultur beeinflußt»).

Der künstliche Charakter der menschlichen Kommunikation – die Tatsache, daß er sich mit anderen Menschen durch Kunstgriffe verständigt – ist dem Menschen nicht immer voll bewußt. Nach Erlernen eines Codes neigen wir dazu, seine Künstlichkeit zu vergessen: Hat man den Code der Gesten gelernt, denkt man nicht mehr daran, daß Kopfnicken nur für jene «Ja» bedeutet, welche sich dieses Codes bedienen. Die Codes (und die Symbole, aus denen sie bestehen) werden zu einer Art zweiter Natur, und die kodifizierte Welt, in der wir leben – die Welt der bedeutenden Phänomene wie Kopfnicken, Verkehrszeichen und Möbel – läßt uns die Welt der «ersten Natur» (die bedeutende Welt) vergessen. In letzter Analyse ist das der Zweck der uns umgebenden kodifizierten Welt: uns vergessen lassen, daß sie ein künstliches Gewebe ist, welches die an und für sich bedeutungslose, unbedeutende Natur unserem Bedürfnis gemäß mit Bedeutung erfüllt. Der Zweck der menschlichen Kommunikation ist, uns den bedeutungslosen Kontext vergessen zu lassen, in dem wir vollständig einsam und incommunicado sind, nämlich jene Welt, in der wir in Einzelhaft und zum Tode verurteilt sitzen: die Welt der «Natur».

Die menschliche Kommunikation ist ein Kunstgriff, dessen Absicht es ist, uns die brutale Sinnlosigkeit eines zum Tode verurteilten Lebens vergessen zu lassen. Von «Natur» aus ist der Mensch ein einsames Tier, denn er weiß, daß er sterben wird und daß in der Stunde des Todes keine wie immer geartete Gemeinschaft gilt: Jeder muß für sich allein sterben. Und potentiell ist jede Stunde die Stunde des Todes. Selbstredend kann man mit so einem Wissen um die grundlegende Einsamkeit und Sinnlosigkeit nicht leben. Die menschliche Kommunikation webt einen Schleier der kodifizierten Welt, einen Schleier aus Kunst und Wissenschaft, Philosophie und Religion um uns und webt ihn immer dichter, damit wir unsere eigene Einsamkeit und unseren Tod, und auch den Tod derer, die wir lieben, vergessen. Kurz, der Mensch kommuniziert mit anderen, ist ein «politisches Tier», nicht weil er ein geselliges Tier ist, sondern weil er ein einsames Tier ist, welches unfähig ist, in Einsamkeit zu leben.

Die Kommunikationstheorie beschäftigt sich mit dem künstlichen Gewebe des Vergessenlassens der Einsamkeit und ist daher eine humanity. Zwar ist hier nicht der Ort, den Unterschied zwischen «Natur» einerseits und «Kunst» (oder «Kultur» oder «Geist») andererseits zu erörtern. Aber die methodologische Folge der Feststellung, daß die Kommunikationstheorie keine Naturwissenschaft ist, muß doch zu Worte kommen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde allgemein angenommen, daß Naturwissenschaften Phänomene erklären, während die «Geisteswissenschaften» sie interpretieren. (Zum Beispiel wird eine Wolke erklärt, wenn man auf ihre Ursachen verweist, und ein Buch wird interpretiert, wenn man auf seine Bedeutung hinweist.) Danach wäre die Kommunikationstheorie eine interpretierende Disziplin: sie hat es mit Bedeutungen zu tun.

Leider haben wir die Naivität verloren zu glauben, daß die Phänomene selbst entweder Erklärung oder Interpretation fordern. Wolken können interpretiert werden (Weissager und manche Psychologen tun dies), und Bücher können erklärt werden (historische Materialisten und manche andere Psychologen tun dies). Es scheint, daß eine Sache zu «Natur» wird, sobald man sie erklärt, und zu «Geist», sobald man sich entscheidet, sie zu interpretieren. Danach wäre für einen Christen überhaupt alles «Kunst» (nämlich Gottes Werk) und für einen aufgeklärten Philosophen des 18. Jahrhunderts überhaupt alles «Natur» (nämlich im Prinzip erklärlich). Der Unterschied zwischen Naturwissenschaft und «Geisteswissenschaft» wäre demnach nicht auf die Sache, sondern auf die Einstellung des Forschers zurückzuführen.

Aber das entspricht nicht der tatsächlichen Lage der Dinge. Zwar kann man alles «humanisieren» (beispielsweise Wolken lesen) und alles «naturalisieren» (beispielsweise die Ursachen von Büchern aufdecken). Aber man muß sich dabei bewußt sein, daß das untersuchte Phänomen bei jeder dieser beiden Vorgehensweisen andere Aspekte aufweisen wird und es daher wenig Sinn hat, vom «gleichen Phänomen» zu sprechen. Eine gedeutete Wolke ist nicht die Wolke der Meteorologen, und ein erklärtes Buch hat nichts mit Literatur zu tun.

Wendet man das Gesagte auf das Phänomen der menschlichen Kommunikation an, dann erkennt man das methodologische Problem, von dem gesprochen wurde. Versucht man nämlich, die menschliche Kommunikation zu erklären (beispielsweise als Weiterentwicklung der Säugetierkommunikation, als Folge der menschlichen Anatomie oder als Methode, Informationen zu übertragen), dann spricht man von einem anderen Phänomen, als wenn man versucht, sie zu interpretieren (aufzuzeigen, was sie bedeutet). Die vorliegende Arbeit schlägt vor, diese Tatsache im Auge zu behalten. In der Folge wird also «Kommunikationstheorie» als eine interpretative Disziplin verstanden (zum Unterschied beispielsweise von «Informationstheorie» oder «Informatik»), und die menschliche Kommunikation wird als ein bedeutendes und zu deutendes Phänomen angesehen werden.

Das Unnatürliche an diesem Phänomen, das unter dem interpretativen Gesichtspunkt sichtbar wird, ist mit der Künstlichkeit seiner Methoden – der absichtlichen Herstellung von Codes – aber noch nicht vollends erfaßt. Die menschliche Kommunikation ist unnatürlich, ja widernatürlich, weil sie beabsichtigt, erworbene Information zu speichern. Sie ist «negativ entropisch». Man kann behaupten, daß die Übertragung von erworbener Information von Generation zu Generation ein essentieller Aspekt der menschlichen Kommunikation ist und ein Charakteristikum des Menschen überhaupt darstellt: er ist ein Tier, welches Tricks erfunden hat, um erworbene Information anhäufen zu können.

Zwar gibt es auch in der «Natur» solche negentropischen Prozesse. Beispielsweise kann man die biologische Entwicklung als eine Tendenz zu immer komplexeren Formen, zur Akkumulation von Information, betrachten – als einen Prozeß, der zu immer weniger wahrscheinlichen Strukturen führt. Und es läßt sich dann sagen, daß die menschliche Kommunikation ein vorläufig letztes Stadium in diesem Entwicklungsprozeß darstellt – jedenfalls wenn man versucht, das Phänomen der menschlichen Kommunikation zu erklären. Aber man wird dann von einem anderen Phänomen sprechen als von dem hier gemeinten.

Vom naturwissenschaftlichen, erklärenden Standpunkt aus ist das Anhäufen von Information ein Prozeß, der sich sozusagen auf dem Rücken des weit breiteren Prozesses in Richtung Informationsverlust abspielt, um schließlich in diesen zu münden: ein Epizyklus. Zwar ist die Eiche komplexer als die Eichel, sie wird aber schließlich zu Asche, welche weniger komplex ist als die Eichel. Zwar ist die Struktur des Ameisenkörpers komplexer als die Struktur der Amöbe, aber die Erde wird der Sonne näher rücken und der ganze biologische Epizyklus wird schließlich eingeäschert werden, wobei diese Asche wiederum weniger komplex sein wird als die Amöbe. Die Epizyklen der Informationssicherung sind zwar unwahrscheinlich, aber statistisch möglich, müssen allerdings, ebenfalls statistisch, laut des Zweiten Thermodynamischen Prinzips im Wahrscheinlichen münden.

Ganz anders, ja geradezu umgekehrt, erscheint diese negentropische Tendenz der menschlichen Kommunikation, wenn man versucht, sie zu deuten, anstatt sie zu erklären. Dann nämlich wird die Akkumulation von Information nicht als statistisch unwahrscheinlicher, aber möglicher Prozeß, sondern als menschliche Absicht aufgefaßt – nicht also als Folge von Zufall und Notwendigkeit, sondern von Freiheit. Die Speicherung von erworbenen Informationen wird nicht als einer der Ausnahmefälle der Thermodynamik gedeutet (wie dies in der Informatik geschieht), sondern als widernatürliche Absicht des zum Tode verurteilten Menschen, und zwar etwa folgendermaßen:

Die These, die menschliche Kommunikation sei ein Kunstgriff gegen die Einsamkeit zum Tode, und die These, sie sei ein Prozeß, der gegen die...

Erscheint lt. Verlag 27.10.2011
Übersetzer Stefan Bollmann
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Kommunikation / Medien Kommunikationswissenschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Amphitheater • Baumdiskurs • Code • Diskurs • Empfänger • Kommunikation • Kommunikationstheorie • Kreis • kreisdialog • Massenmedium • netzdialog • Pyramide • Sachbuch • Synchronisation • Technobild • theaterdiskurs • Zeichen
ISBN-10 3-10-401628-3 / 3104016283
ISBN-13 978-3-10-401628-3 / 9783104016283
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