Soldaten (eBook)
528 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400792-2 (ISBN)
Sönke Neitzel, geboren 1968, Lehrtätigkeit in Mainz, Karlsruhe und Bern; 2010 Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, ist seit 2012 Inhaber eines Lehrstuhls für International History an der London School of Economics (LSE). Bekanntgeworden ist Neitzel mit »Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945« (2005). Zuletzt erschien von ihm und Harald Welzer in den Fischer Verlagen der Bestseller »Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben« (2011). Literaturpreise: 1966: Werner-Hahlweg-Preis für Wehrwissenschaften und Militärgeschichte für seine Diss.
Sönke Neitzel, geboren 1968, Lehrtätigkeit in Mainz, Karlsruhe und Bern; 2010 Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, ist seit 2012 Inhaber eines Lehrstuhls für International History an der London School of Economics (LSE). Bekanntgeworden ist Neitzel mit »Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942–1945« (2005). Zuletzt erschien von ihm und Harald Welzer in den Fischer Verlagen der Bestseller »Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben« (2011). Literaturpreise: 1966: Werner-Hahlweg-Preis für Wehrwissenschaften und Militärgeschichte für seine Diss. Harald Welzer, geboren 1958, ist Sozialpsychologe. Er ist Direktor von FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit und des Norbert-Elias-Centers für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg. In den Fischer Verlagen sind von ihm u. a. erschienen: »Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden«, »Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird«, »Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen«, »Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens« und – gemeinsam mit Richard David Precht – »Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist«. Seine Bücher sind in 21 Ländern erschienen.
Rollenmodelle und -anforderungen
Einen sehr weiten Bereich, besonders in modernen, funktional differenzierten Gesellschaften bilden die bereits erwähnten Rollen, die jede für sich ein bestimmtes Set an Anforderungen an diejenigen stellen, die sie ausfüllen möchten oder müssen. Rollen nehmen eine mittlere Ebene zwischen den kulturellen Bindungen und Verpflichtungen und den gruppenspezifischen und individuellen Deutungen und Handlungen ein. Es gibt eine Reihe von Rollen, bei denen wir uns nicht bewusst sind, dass wir ihren Normen entsprechend handeln, obwohl wir das ganz selbstverständlich tun. Hierzu zählen etwa alle Rollen, nach denen Soziologen Gesellschaften differenzieren: Geschlechts-, Alters-, Herkunfts- oder Bildungsrollen. Die damit verbundenen Sets von Anforderungen und Normen können zwar bewusst wahrgenommen und auch hinterfragt werden, müssen es aber nicht und werden es gewöhnlich auch nicht. Diese selbstverständlichen lebensweltlichen Rollen prägen nichtsdestotrotz Wahrnehmungen, Deutungen und Handlungsoptionen – und sie unterliegen, besonders deutlich beim Geschlecht und beim Alter, normativen Regeln: Von einer betagten Dame wird sozial ein anderes Verhalten erwartet als von einem Jugendlichen, und zwar ohne dass es dafür einen Regelkatalog oder gar ein Gesetzbuch gäbe. Als Mitglied einer Gesellschaft »weiß« man so etwas implizit.
Anders verhält es sich mit explizit eingenommenen Rollen, die – etwa im Lauf der Karriere – schon deutlich mit neuen und zu erlernenden Sets von Anforderungen einhergehen: Wenn jemand gerade noch Mathematikstudent war und nun als Versicherungsmathematiker zu arbeiten beginnt, wechselt sein Anforderungsset erheblich: von den Kleidungsnormen über die Arbeitszeit bis hin zur Kommunikation und den Dingen, die wichtig oder unwichtig sind. Andere tiefgreifende Übergänge finden sich dort, wo jemand Mutter oder Vater wird oder als Rentner aus dem Berufsleben ausscheidet. Und dann gibt es noch jene radikalen Rollenwechsel, wie sie etwa mit dem Übertritt in »totale Institutionen«[22] verbunden sind: in ein Kloster zum Beispiel, in ein Gefängnis oder – für unseren Zusammenhang besonders wichtig – ins Militär. Hier ergreift die Institution, zum Beispiel die Wehrmacht oder die SS, die vollständige Verfügung über die Person: Sie bekommt einheitliche Kleidung und Frisur, verliert damit die Kontrolle über ihre Identitätsausstattung, sie kann nicht mehr über die eigene Zeit verfügen, unterliegt in jeder Weise äußeren Zwängen, Drill, Schikanen, drakonischen Strafen bei Regelverletzungen. Totale Institutionen funktionieren gerade deshalb als hermetische Welten eigener Art, weil sie Zwecke der Zurichtung verfolgen: Soldaten sollen nicht nur die Handhabung einer Waffe oder das Bewegen im Gelände lernen, sondern auch Gehorsam, die unbedingte Einfügung in Hierarchien und das jederzeitige Handeln auf Befehl. Totale Institutionen etablieren eine bestimmte Form der Vergemeinschaftung, in der Gruppennormen und -zwänge einen größeren Einfluss auf die Einzelnen ausüben als unter gesellschaftlichen Normalbedingungen, einfach deshalb, weil die Kameradschaftsgruppe, zu der man zählt, zwar nicht frei gewählt, aber trotzdem die alternativlose Bezugsgruppe ist. Man gehört zu ihr, weil man ihr zugeteilt wurde.[23]
Es ist bezeichnend, dass eine totale Institution ihre Klienten insbesondere während der Ausbildungszeit in jeder Hinsicht völlig der eigenen Kontrolle zu berauben versucht und erst danach rangspezifische Freiheitsgrade und Handlungsspielräume eröffnet. Die Literatur über die Weitergabe der zum Teil demütigenden Zwangserfahrungen der Älteren an die Jüngeren gehört zu der Vergemeinschaftungsform solcher Institutionen; ihr Horror ist vielfach Gegenstand der Literatur geworden.[24] Dies alles wirkt schon im Frieden in eklatantem Ausmaß, mehr noch aber im Krieg: Wenn Kampfhandlungen aus dem Status der Simulation in den der alltäglichen Wirklichkeit wechseln und es nicht zuletzt vom Funktionieren des eigenen Kommandos abhängt, ob man überlebt oder nicht. Hier wird aus der totalen Institution die totale Gruppe und die totale Situation,[25] und beide lassen den Akteuren nur die durch den Rang und die Befehlslage genau definierten Handlungsspielräume. Der Referenzrahmen eines Soldaten im Krieg ist daher verglichen mit jeder Rolle im Zivilleben durch Alternativlosigkeit bestimmt. Einer der abgehörten Soldaten formulierte es im Gespräch mit seinem Kameraden so: »Wir sind wie ein MG. Eine Waffe, um Krieg damit zu führen.«[26]
Was und mit wem man als Soldat wann etwas tut, unterliegt nicht der eigenen Wahrnehmung, Deutung und Entscheidung; der Raum, in dem ein Befehl nach eigener Einschätzung und Kompetenz ausgelegt werden kann, ist meist extrem klein. In diesem Sinn variieren die Rollenanteile von Referenzrahmen sehr stark: Ihre Bedeutung kann unter den pluralen Bedingungen des Zivillebens verschwindend gering oder unter den Bedingungen des Krieges oder anderer Extremsituationen total sein.
Dabei können sich Bestandteile unterschiedlicher Rollen im militärischen Kontext auch überlagern, und zwar in zwei Richtungen: Die Kompetenz eines Landvermessers kann bei der Orientierung im Gelände äußerst hilfreich sein, und umgekehrt können zivile Tätigkeiten im Kontext von Krieg und Massenvernichtung plötzlich tödlich werden. Man denke hier etwa an den Ingenieur Kurt Prüfer von der Erfurter Firma Topf & Söhne, der mit großer Energie an der Entwicklung effizienterer Krematoriumsöfen für Auschwitz arbeitete, die es ihrerseits erlaubten, die Zahl der täglich zu Ermordenden zu steigern.[27] Einen anderen Fall von Rollenüberlagerung berichtet eine Frau, die Stenotypistin beim Kommandeur der Sicherheitspolizei in Warschau gewesen ist: »Wenn ein oder zwei Deutsche in Warschau erschossen wurden, ordnete der Kommandeur der Sicherheitspolizei Hahn bei Kriminalrat Stamm an, dass eine bestimmte Zahl von Polen zu erschießen sei. Stamm wies dann die Damen seines Vorzimmers an, aus den einzelnen Referaten geeignete Akten kommen zu lassen. Im Vorzimmer lag dann ein großer Haufen Akten. Wenn nun z.B. 100 Akten dalagen und nur 50 erschossen werden sollten, dann lag es an den Damen, wie sie nach Gutdünken die Akten herauszogen. Es kann in Einzelfällen auch gewesen sein, dass der Referatsbearbeiter noch hinzugefügt hat: ›Der und der muss weg. Weg mit dem Dreck‹. Solche Äußerungen sind sehr oft gefallen. Ich habe oft tagelang nicht schlafen können wegen der Vorstellung, dass es von den Vorzimmerdamen abhing, wer erschossen wurde. So sagte z.B. die eine Dame zur anderen: ›Ach, Erika, wollen wir den oder den noch mitnehmen?‹«[28]
Eine an sich harmlose Tätigkeit kann plötzlich mörderisch werden, wenn ihr Bezugsrahmen wechselt. Schon Raul Hilberg hat auf dieses Potential arbeitsteiliger Vollzüge hingewiesen: Jedes Mitglied der Ordnungspolizei konnte »Aufseher eines Ghettos oder eines Eisenbahntransports sein. Jeder Jurist des Reichssicherheitshauptamts kam dafür in Frage, die Leitung einer Einsatzgruppe zu übernehmen; jeder Finanzsachverständige des Wirtschafts-Verwaltungshauptamts wurde als natürliche Wahl für den Dienst in einem Vernichtungslager betrachtet. Mit anderen Worten, alle notwendigen Operationen wurden mit dem jeweils verfügbaren Personal durchgeführt. Wo immer man den Trennungsstrich der aktiven Teilnahme zu ziehen gedenkt, stets stellte die Vernichtungsmaschinerie einen bemerkenswerten Querschnitt der deutschen Bevölkerung dar.«[29] Übertragen auf den Krieg heißt das: Jeder Mechaniker konnte Bomber reparieren, die mit ihrer tödlichen Fracht Tausende von Menschen töteten; jeder Metzger konnte als Mitglied der Versorgungsbetriebe an der Ausplünderung der besetzten Gebiete teilnehmen. Lufthansapiloten wurden mit ihren Verkehrsmaschinen vom Typ FW200 auch im Krieg für Langstreckenflüge eingesetzt, doch diesmal nicht, um Passagiere zu befördern, sondern um britische Handelsschiffe im Atlantik zu versenken. Da die Tätigkeit an sich nicht wechselt, haben die Rollenträger in der Regel keine Veranlassung, moralische Erwägungen anzustellen oder gar ihre Arbeit zu verweigern. Die bleibt ja dieselbe.
In totalen Institutionen ist, wie gesagt, der gegebene Referenzrahmen nahezu alternativlos. Das gilt schon für den Soldaten im Militärdienst, aber noch mehr im Krieg, und nochmals mehr im Kampf. Man muss dabei bedenken, dass ein so lang andauernder, umfassender und in vielerlei Hinsicht präzedenzloser Krieg wie der Zweite Weltkrieg an sich schon »den Charakter eines außerordentlich komplexen, schwer überschaubaren Geschehens« hat.[30] Für den Einzelnen, der sich an irgendeiner Stelle dieses Geschehens befindet, ist es enorm schwer, sich angemessen zu orientieren – daher werden der Befehl und die Gruppe auch subjektiv wichtiger: Sie gewährleisten Orientierung, wo sonst keine wäre. Die Wichtigkeit der Kameradschaftsgruppe für die eigenen Orientierungsbedürfnisse wächst mit der Bedrohlichkeit der Situation, in der man sich gerade befindet. Die Gruppe wird zur totalen Gruppe.
Vor dem Hintergrund der Rollentheorie sind Fragen danach, wieso jemand im Krieg Menschen getötet oder sich an Kriegsverbrechen beteiligt hat, sinnvollerweise zunächst keine moralischen, sondern empirische Fragen. Moralisch können sie sinnvoll nur dann gestellt werden, wenn die Handlungsspielräume der Einzelnen greifbare Alternativen enthielten, die nicht gewählt wurden. Wie man weiß, gilt das zum Beispiel für die...
Erscheint lt. Verlag | 12.4.2011 |
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Reihe/Serie | Die Zeit des Nationalsozialismus – »Schwarze Reihe« |
Die Zeit des Nationalsozialismus – »Schwarze Reihe« | Die Zeit des Nationalsozialismus. "Schwarze Reihe". |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► 20. Jahrhundert bis 1945 |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 | |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | Abhörprotokolle • Deutschland • Frankreich • Judenvernichtung • Krieg • Kriegsgefangene • Kriegsverbrechen • Luftwaffe • Marine • Militär • Militärgeschichte • Nationalsozialismus • Russland • Sachbuch • Sozialpsychologie • Verbrechen der Wehrmacht • Vietnamkrieg • Waffen-SS • Wehrmacht • Zivilisten • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-10-400792-6 / 3104007926 |
ISBN-13 | 978-3-10-400792-2 / 9783104007922 |
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