Krisen (eBook)

Das Alarmdilemma
eBook Download: EPUB
2011 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-401057-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Krisen -  Gerhard Schulze
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Ist das Problem der Krise das Reden über die Krise? Kein Tag ohne Krise. Und immer geht es um alles, um den Untergang der Welt, das Ende der Menschheit. Gerhard Schulze kehrt in seinem schwungvollen und leidenschaftlichen Essay den Blick nun jedoch um: von der Krise auf das Reden über sie. Unter welchen Voraussetzungen sprechen wir von einer Krise? Welche Denkoperationen setzt das voraus? Worauf einigen wir uns, nachdem wir das Für und Wider erwogen haben? Und schließlich: Was ist überhaupt das Normale? Glänzend formuliert, öffnet seine kritische Analyse die Augen für unsere Gegenwart zwischen Expertentum, Risiko, Alarmdilemma und Dialektik der Vorsicht. Damit uns Krisen nicht überfordern, brauchen wir den Blick auf uns selbst. Eine Dosis Skepsis, zeigt Gerhard Schulze, könnte helfen

Gerhard Schulze, geb. 1944, studierte Soziologie zuerst in München und dann in Nürnberg, wo er auch promovierte und sich habilitierte. Seit 1978 ist er - mittlerweile emeritierter - Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung und Wissenschaftstheorie an der Universität Bamberg. Einer großen Leserschaft ist er durch seinen Bestseller »Die Erlebnisgesellschaft« bekannt geworden. Zuletzt sind von ihm als Fischer Taschenbuch erschienen: »Die beste aller Welten« (2004) sowie »Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde« (2008).

Gerhard Schulze, geb. 1944, studierte Soziologie zuerst in München und dann in Nürnberg, wo er auch promovierte und sich habilitierte. Seit 1978 ist er – mittlerweile emeritierter – Professor für Methoden der empirischen Sozialforschung und Wissenschaftstheorie an der Universität Bamberg. Einer großen Leserschaft ist er durch seinen Bestseller »Die Erlebnisgesellschaft« bekannt geworden. Zuletzt sind von ihm als Fischer Taschenbuch erschienen: »Die beste aller Welten« (2004) sowie »Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde« (2008).

Der Alltagsverstand muss dazulernen


Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs überraschte Stefan Zweig während eines Sommeraufenthalts an der belgischen Küste. Am Strand lagerten Menschen aus ganz Europa und genossen Sonne und Wind. Mit einer Mischung von Belustigung und Schrecken sah Zweig, der zusammen mit Freunden im Café saß, plötzlich eine merkwürdige Prozession, die sich zwischen den Strandurlaubern hindurchschlängelte: Vorneweg ein Gespann von Schäferhunden, die ein Maschinengewehr auf Rädern zogen, dahinter einige Soldaten. Sie waren dabei, in den Verteidigungsanlagen an der Küste Stellung zu beziehen. Das konnte nur bedeuten, dass der Kriegsausbruch unmittelbar bevorstand. Niemand am Strand von Le Coq nahe bei Ostende schien sich an diesem Nachmittag Ende Juli 1914 von dieser Szene stören zu lassen, jeder setzte fort, was er gerade machte. Am nächsten Tagen aber waren die Züge überfüllt, alle fuhren Hals über Kopf nach Hause.[11]

Nur allmählich begriffen die Menschen verschiedener Nationalität, dass sie von jetzt an Feinde waren. Die meisten von ihnen, so Zweig, wussten gar nicht mehr, was dies bedeutete. Der letzte große Krieg in Europa – der von 1870/71 zwischen Preußen und Frankreich – lag über vierzig Jahre zurück. In der kurzen Zeit zwischen den Schüssen von Sarajewo und dem Kriegsausbruch waren die Zeitungen zwar voll von Berichten über diplomatische Spannungen, doch daran waren die Menschen gewöhnt – es würde schon zu irgendeiner Lösung kommen. Sie hatten nicht genug Kriegsangst; sie waren nicht alarmiert genug; sie konnten sich nichts anderes vorstellen, als dass alles so weitergehen würde, wie sie es in den vergangenen Jahrzehnten kennengelernt hatten. So erklärt es sich, dass sie seelenruhig an die Küste gefahren waren, um den Sommer am Strand zu verbringen; so könnte sich auch die Welle nationaler Euphorie bei Kriegseintritt erklären. Arglos, ja naiv ließen sich die Europäer in die große traumatische Erfahrung am Anfang des 20. Jahrhunderts hineinziehen.

Der Erste Weltkrieg war eine Krise des Systems internationaler Beziehungen, die sich bald auch auf andere Systeme ausweitete – Wirtschaft, Währung, Finanzmarkt, öffentliche Ordnung, Produktion, Versorgung, Transportwesen. Für die Menschen wurde jede einzelne dieser Systemkrisen im Alltag als Lebensweltkrise spürbar. Die Männer waren an der Front, Lebensmittel wurden rationiert, das Geld war nichts mehr wert, Unruhen brachen aus.

Mit dem Begriffspaar von System und Lebenswelt lehne ich mich an Jürgen Habermas an, der damit seinerseits eine lange soziologische Tradition fortsetzt.[12] System und Lebenswelt sind Formen des Normalen, wie etwa auch Organismen oder Maschinen. Was sie davon unterscheidet, ist der Umstand, dass sie aus dem gemeinsamen Willen von Menschen hervorgehen. Soziale Konstruktionen sind jedoch unberechenbarer und krisenanfälliger als biologische oder technische Konstruktionen.

Über die großen sozialen Systeme wissen die meisten kaum mehr, als dass es sie gibt. Viele von ihnen sind erst in der Moderne entstanden. Sie bereichern die Lebenswelt der Menschen zwar um ungeahnte Möglichkeiten, aber nur so lange, wie sie funktionieren. Ihre Krisen können sich zu massenhaften privaten Katastrophen auswachsen.

In der von Stefan Zweig geschilderten Szene wird die Berührung von System und Lebenswelt auf unheimliche Weise sichtbar, in der Regel aber vergisst man die Zweidimensionalität seines Alltags völlig. Man lebt in seiner Wohnung, hat Familie, trifft sich mit Freunden, geht einkaufen, arbeitet und führt den Hund spazieren. Aber wenn man sich dabei für zwei Euro fünfzig eine Currywurst kauft, denkt man nicht daran, dass dies nur möglich ist, weil gleich mehrere große Räderwerke weit jenseits des persönlichen Erfahrungshorizonts zusammenwirken: etwa der Markt für Lebensmittel, das Transportwesen, die Aufsichtsbehörden. Die Abhängigkeit der Currywurst von großen Systemen würde den Konsumenten schnell klar, wenn auch nur eines davon versagte, etwa die Europäische Zentralbank, sollte sie mit ihrer Geldpolitik eine Hyperinflation anheizen.

In der Lebenswelt kennt jeder jeden, in den Systemen herrscht Anonymität; in der Lebenswelt kann jeder Einfluss nehmen, in den Systemen führen die Experten; die Lebenswelt erfährt man unmittelbar, über die Systeme liest man etwas in der Zeitung; die Lebenswelt betrifft den ganzen Alltag, die Systeme haben sich auf jeweils einen Hauptzweck spezialisiert.

Die großen Systeme kamen mit der Moderne. Seitdem leben wir in zwei Welten, doch nur für die Lebenswelt sind wir kognitiv ohne besondere Vorbereitung ausgerüstet. Die geistigen Mittel, die wir brauchen, um uns in ihr zu bewegen, sind uns teils in die Wiege gelegt, teils erwerben wir sie im Alltag. Um dagegen mit den Systemen klarzukommen, müssen wir in jeder Generation von neuem nachlernen. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, dass Systeme in vieler Hinsicht unserer lebensweltlich geschulten Intuition zuwiderlaufen. Wer sie verstehen will, muss seine alltäglichen Wahrnehmungsmuster ausblenden.

Untersuchen wir dies etwa am Beispiel der Wirtschaft. In der Lebenswelt spart man Geld, wenn man nur gebrauchte Kleider kauft, im System hätte dies den Niedergang der Textilbranche zur Folge. Umgekehrt kann Geldausgeben im System zur multiplen Geldvermehrung führen. Die Befremdung unserer Alltagserfahrung setzt sich fort mit dem Teilen und Verteilen: In der Lebenswelt der Familie kommt man am besten mit einer Art friedlichem Kommunismus aus, doch im Wirtschaftssystem haben sich Privateigentum und Markt als weit überlegen erwiesen. Besonders schwer zu verstehen ist die entgegengesetzte Bedeutung der Knappheit: In der Lebenswelt ist Mangel ein Problem und Sättigung die Lösung, im System ist es umgekehrt – ungestillte Bedürfnisse sind aus der Systemperspektive ökonomische Ressourcen, die Bedürfnislosigkeit aller wäre der Ruin.

Von den vielen Unterschieden zwischen Lebenswelt und System ist der moralische besonders schwer nachzuvollziehen. In der Lebenswelt rangiert Altruismus vor Eigennutz, zu Recht. In der Wirtschaft dagegen geht es allen umso besser, je eigennütziger sich jeder einzelne Akteur verhält – unter einer Voraussetzung: dass Marktregeln und staatliche Kontrolle diesem Eigennutz feste Grenzen setzen.[13] Wer den Satz akzeptiert, dass die Lebenswelt auf eine prosperierende Wirtschaft angewiesen ist, kann sich kaum der Einsicht entziehen, dass der lebensweltlich beste Wille im System der Wirtschaft zum schlechtesten Ergebnis führen kann. So wuchs sich die große Depression der 1930er Jahre erst richtig zur Katastrophe aus, als die Regierungen begannen, die Bevölkerung mit protektionistischen Maßnahmen zu »schützen«, was zu einem drastischen Rückgang des Welthandels und zu millionenfacher Arbeitslosigkeit führte. Lebensweltliche Moral kann auf der Systemebene in Unmoral umschlagen, und umgekehrt kann im System moralisch geboten sein, was in der Lebenswelt als unmoralisch gilt.

Vielen Menschen erscheinen Systeme kalt, undurchschaubar, zerstörerisch, unmenschlich und ästhetisch so ansprechend wie ein Autobahnknotenpunkt. Wie schön ist dagegen die Lebenswelt: warm, gemütlich und vertraut wie der Geruch von selbst gebackenen Weihnachtsplätzchen. Die Lebenswelt liebt man, die Systeme benutzt man.

Systemkrisen wie Kriege, Wirtschaftskrisen, Umweltkrisen, Störfälle mit Breitenwirkung, Bevölkerungskrisen oder Pandemien betreffen viele Menschen gleichzeitig; wer sie beschreiben, erklären, vermeiden oder eindämmen will, muss umfassende, überpersönliche Phänomene und Zusammenhänge in den Blick nehmen. Solche Krisen überschreiten den alltäglichen Erfahrungshorizont eines einzelnen Menschen bei weitem.

Dagegen betreffen Lebensweltkrisen wie Krankheiten, Todesfälle, Beziehungskrisen, Nachbarschaftskonflikte oder Arbeitslosigkeit den Einzelnen unmittelbar. Ein Erkenntnisproblem wie bei Systemkrisen gibt es meist gar nicht; die Betroffenen spüren die Lebensweltkrise hautnah als Abweichung vom gewohnten Gang der Dinge. Ihr Alltag, ihre Normalität gerät aus dem Gleichgewicht. Daran leiden sie, irgendwo auf der Skala zwischen verärgert und verzweifelt. Verärgert ist man, wenn man sich verabredet hat und sitzengelassen wird. Verzweifelt ist man, wenn die Familie zerbricht oder wenn man seine gesamten Ersparnisse verliert. Wie auch immer, das leidende Subjekt ist das Zentrum jeder Lebensweltkrise.

Systemkrisen dagegen bestehen in der Abweichung von einer zu definierenden Normalität ohne Subjekt: von normalen politischen Beziehungen der Nationen in Europa beispielsweise, vom normalen Weltklima, von normalen Wirtschaftsbeziehungen, von der normalen Bevölkerungsdynamik. Für Systemkrisen braucht man andere Blickwinkel und andere Wissenschaften als für Lebensweltkrisen: hier Klimaforschung, Bevölkerungswissenschaft, Epidemiologie, Nationalökonomie, Statistik; dort Medizin, Psychologie und soziologisches Alltagsverstehen. Über Lebensweltkrisen ist man sich schnell im Klaren, während sich Systemkrisen dem intuitiven Urteil entziehen.

Systemkrisen sind wichtig, weil sie die Lebenswelt von Millionen betreffen; und sie sind schwierig, weil ihnen das ungeschulte Alltagsdenken nicht gewachsen ist. Das 20. Jahrhundert mit seinen beiden Weltkriegen, seinen Hyperinflationen und Weltwirtschaftskrisen hat allerdings Spuren in den Köpfen hinterlassen. Systembewusstsein, Systemvorsicht und Sehnsucht nach Systemstabilität sind inzwischen weit verbreitet. Damit ist ein neuer, öffentlicher Resonanzraum für Diskurse über Systemkrisen entstanden. Dass es sich dabei um ein...

Erscheint lt. Verlag 11.2.2011
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Sozialwissenschaften Soziologie
Schlagworte Das Normale • Expertenkultur • Kausalität • Krise • Krisendiagnose • Krisendiskurs • Moderne • Normalität • Normalitätsmodell • Prognose • Sachbuch • Sicherheit • Ungewissheit • unsicheres Wissen • Unsicherheit • Wissen
ISBN-10 3-10-401057-9 / 3104010579
ISBN-13 978-3-10-401057-1 / 9783104010571
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Größe: 849 KB

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