So klein, und doch so stark - Tagebuch eines viel zu früh geborenen Babys.

Eine Frühchen-Mutter erzählt

(Autor)

Buch | Softcover
228 Seiten
2014 | 2. Auflage
edition riedenburg (Verlag)
978-3-902647-22-1 (ISBN)
24,90 inkl. MwSt
Es sind noch vier Tage bis zur "offiziellen Lebensfähigkeit" unseres ungeborenen Sohnes. Die Ärzte erhöhen nochmals die Dosis der Wehenhemmer, doch die von der Hebamme gerufene Oberärztin meint lediglich: "Da ist jetzt nichts mehr aufzuhalten!" Ich drücke viermal, fünfmal und dann flutscht der Winzling auch schon in seiner kompletten Fruchtblase aus mir heraus. Sie ist noch nicht einmal geplatzt. Wie klein er ist! Im Kreißsaal ist es mucksmäuschenstill. Alle warten darauf, ob Elias die Kraft und den Willen zum Leben hat. Die Welt scheint in diesem Moment völlig still zu stehen. Doch dann geschieht das eigentlich Unmögliche: Elias bewegt die kleinen Ärmchen und Beinchen und gibt einen leisen, quäkenden Laut von sich. *** Dies ist die Geschichte von Elias, geboren in der 24. Schwangerschaftswoche. Seine Mutter Nina Pfister (28) hat schon bald nach der viel zu frühen Geburt damit begonnen, ihre Erfahrungen aufzuschreiben. Als Erinnerung für sich selbst, als Mutmacher für andere Betroffene und als Danksagung an das Leben. Ninas Erzählungen, Briefe und Tagebucheinträge sind Zeugnis dafür, wie wichtig es ist, in den Stunden der Ungewissheit und des Zweifels ein familiäres und freundschaftliches Netzwerk um sich zu wissen, das einen auffängt. Der kleine Elias ist heute ein aufgeweckter Junge, dem man seine Frühgeburt kaum noch anmerkt. Während der Arbeit an diesem Buch war Nina erneut schwanger. Elias' kerngesunde Schwester Lara kam am errechneten Geburtstermin zu Hause zur Welt.

Dies ist die Geschichte von Elias, geboren in der 24. Schwangerschaftswoche. Seine Mutter Nina Pfister (geb. Irlbeck) (28) hat schon bald nach der viel zu frühen Geburt damit begonnen, ihre Erfahrungen aufzuschreiben. Als Erinnerung für sich selbst, als Mutmacher für andere Betroffene und als Danksagung an das Leben. Ninas Erzählungen, Briefe und Tagebucheinträge sind Zeugnis dafür, wie wichtig es ist, in den Stunden der Ungewissheit und des Zweifels ein familiäres und freundschaftliches Netzwerk um sich zu wissen, das einen auffängt. Der kleine Elias ist heute ein aufgeweckter Junge, dem man seine Frühgeburt kaum noch anmerkt. Während der Arbeit an diesem Buch war Nina erneut schwanger. Elias‘ kerngesunde Schwester Lara kam am errechneten Geburtstermin zu Hause zur Welt.

Vorwort 6
Erinnerungen 9
Schwarz auf weiß 11
Mit Blaulicht durch die Stadt 12
Ich werd verrückt 17
Ein Stein vom Herzen 23
Ich passe nicht ins Raster 27
Noch keine Überlebenschance? 36
Eine greifbare Spannung 41
In einer Glückshaube 43
Auf der Suche nach dem Warum 51
Jeder Zentimeter verkabelt 54
Ein ungeheures Mitteilungsbedürfnis 59
Wie in einer Achterbahn 61
Ein viel zu kleines Geschwisterchen 68
Kleine und große Biester 71
Nur noch weg! 77
Wirklich andere Sorgen 80
Er ruft nach mir 83
Die Angst vor dem Klingeln 87
Live zugeschaltet 90
Ein Teufelskreis 94
Ein Grund, eine Antwort? 99
Ein Ort für meine Gedanken 102
Mein ganz persönliches Weihnachtsgeschenk 110
Große, blaue Knopfaugen 113
Eine lange, beschwerliche Zeit 120
Heute zwischen 12 und 14 Uhr ist es so weit 127
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser 130
Der wichtigste Besuch von allen 134
Von der Stadt aufs Land 137
Heimatluft 142
Ein richtiger Wonneproppen 146
Kein normales Leben? 153
Kleine Lauscher 163
Brauchen wir das überhaupt? 169
Wenn ich zurückdenke. 172
Ob da ein Bäumchen wächst? 188
Und heute? 191
Das gute Ende 193
Unser Fotoalbum 195
Appendix 207
Gespräche und Informationsaustausch mit Eltern kranker Neugeborener 208
Glossar 220
Ausgewählte Kontaktadressen 225

Die Geschichte einer ganz normalen Familie. Der Traum vom zweiten Kind geht in Erfüllung – und wird zum Alptraum, als der kleine Elias „vier Tage vor der offiziellen Lebensfähigkeit in seiner kompletten Fruchtblase auf die Welt flutscht“. Ab diesem Zeitpunkt ist nichts mehr normal: nicht für die Familie und nicht für die Umwelt. Die Autorin hat diese Situation mit der ihr eigenen Sensibilität und Sensitivität wahrgenommen, akzeptiert und mit bewundernswerter Kraft und Konsequenz durchkämpft, durchlitten und schreibend bewältigt. Wir können ihr zu ihrer anrührenden, stilistisch gelungenen, feinfühligen und authentischen Darstellung der wohl schwersten Wochen im Leben einer Mutter und ihrer jungen Familie nur gratulieren. Damit könnten wir es bewenden lassen und diesem Buch viele Leser und Leserinnen, der Autorin und ihrer Familie viel Glück wünschen. Doch das wäre zu wenig und eine vertane Chance. Nein! Dieses Buch hat uns mehr zu sagen, als über ein individuelles Einzelschicksal zu berichten. Dieses Buch sollte ein Lehrbuch besonderer Art sein: Ein Lehrbuch für die „Profis“: Ärzte, Schwestern, Berater. Gar nicht oft genug können sich alle, die mit „Frühchen“ und deren Eltern zu tun haben, in deren Situation versetzen. Viele Äußerungen und Handlungen, die eingespielte Routine zu sein scheinen, wirken auf die Patienten und deren Angehörige oft bedrohlich – vielleicht gerade wegen der routinierten Professionalität der Ausführung. Dabei sind rein medizinisch-technische Erläuterungen alleine nicht immer hilfreich, wenn das Ziel erreicht werden soll, ein Gefühl der Solidarität zu vermitteln. Im Mittelpunkt steht der kleine Patient, der viel zu früh um sein Leben kämpfen muss und diesen Kampf ohne seine Mutter, den Vater und die Familie nicht gewinnen kann. Ohne gegenseitiges Vertrauen und die gemeinsame Hoffnung auf einen guten Ausgang bleibt der kleine Patient im Kampf um sein Leben allein auf Apparate und seinen Willen angewiesen. Immer wieder hat uns die Autorin sehr eindrucksvoll dargestellt, wie Solidarität und Zuwendung sie motiviert und getragen haben. Die zweite Gruppe, an die sich dieses „Lehrbuch“ wendet, sind alle Menschen, die in einer solchen Situation sind, waren oder in ihrem Umfeld mit einem solchen Schicksal konfrontiert werden. Die „Außenstehenden“ können erkennen, wie – meist gedankenlose – Äußerungen über das „sensationell“ kleine Frühgeborene und die schlechte Prognose oder die ausgefeilte apparative Technik den Eltern Salz in die offene Wunde ihrer Nicht-Normalität reiben. Die Betroffenen und deren Angehörige aber sollten die Botschaft der Hoffnung hören, die aus diesem Buch zu uns und den viel zu früh ins Leben „geflutschten“ kleinen Menschen spricht: Nur gemeinsam, in gefühlter und gelebter Solidarität, werden wir es schaffen, dem zu früh begonnenen Leben eine Perspektive zu geben, die lebenswert ist. Christina Kohlhauser-Vollmuth

Erinnerungen Unser Sohn Elias kam viel zu früh, nach nur 23+3 Schwangerschaftswochen, zur Welt. Dieses Buch enthält meine ganz persönlichen, gesammelten Erinnerungen an die komplikationsreiche Schwangerschaft und die schwere Zeit nach der Geburt. Die Prognosen der Ärzte und des medizinischen Fachpersonals waren teilweise sehr entmutigend. Einige dieser Aussagen hallen noch heute in meinen Gedanken nach: „Sie können genauso gut nach Hause gehen, denn wo dieses Kind zur Welt kommt, spielt keine Rolle, sterben wird es so oder so.“ (Ein Chefarzt der Gynäkologie, 22. Schwangerschaftswoche) „Der Elias wird niemals selbstständig ohne Sauerstoff atmen können.“ (Eine Krankenschwester) „Das muss jetzt nicht zwangsläufig heißen, dass er vollständig taub ist, aber.“ (Ein Oberarzt) Andere Gespräche wiederum habe ich noch sinngemäß in Erinnerung: . Wenn Ihr Kind überhaupt überlebt, dann nur mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit schweren, bleibenden Schäden. . Elias kann die Darm-OP nicht überleben, er ist zu klein, zu schwach, und wenn doch, dann mit über 90%iger Wahrscheinlichkeit mit einem Stoma. . Nach über neun Wochen Vollbeatmung wird er an den Augen operiert werden müssen. . Er wird Defizite in der Entwicklung haben, sowohl motorisch als auch neurologisch. Elias ist heute 18 Monate alt und hat sich gegen viele Statistiken durchgesetzt. Nichts von dem oben Erwähnten hat sich bewahrheitet. Ich weiß, dass eine so positive Entwicklung nicht selbstverständlich ist. Wir sind dem Schicksal und dem heutigen Stand der Technik unglaublich dankbar und wissen um das Glück, welches uns und Elias widerfahren ist. Leider erleben längst nicht alle Kinder, die viel zu früh ins Leben starten, einen ähnlich guten Verlauf. Ich denke oft an all die Sternenkinder, die Kinder mit Behinderungen und ihre Familien. Gemeinsam mit meinen Kindern habe ich für sie eine Kerze gebastelt, die ich abends anzünde und ans Fenster stelle, damit sie sehen können, dass wir in Gedanken bei ihnen sind. Und damit ich mich daran erinnere, dass dies auch unser Schicksal hätte sein können.

In einer Glückshaube 24. Schwangerschaftswoche Seit ein paar Tagen liege ich nun mit immer wiederkehrenden Wehen, stark verkürzter Cervix inklusive Trichterbildung und einer prolabierten Fruchtblase in der Klinik. Die Situation ist akut und sehr brisant, da ich erst am Beginn der 24. Schwangerschaftswoche stehe. Für eine gefahrlose Geburt ist es noch viel zu früh. Es sind noch sechs Tage bis zur offiziellen Lebensfähigkeit. Rudi und ich führen eindringliche Gespräche mit den Gynäkologen und Neonatologen. Dabei wird uns genau erklärt, dass für Elias bei einer so frühen Geburt nur sehr geringe Überlebenschancen bestehen. Wir werden auch darüber aufgeklärt, was passiert, sollte er die Geburt und die Tage danach überstehen. Mit welchen eventuellen Folgen einer solchen Frühgeburt wir rechnen müssen. Neben diversen Schwierigkeiten mit beinahe allen lebenswichtigen Organen macht uns eine relativ wahrscheinlich eintretende Hirnblutung am meisten Angst. Was, wenn unser Baby durch eine solche Hirnblutung geistig schwer behindert wird? Haben wir die Kraft, mit solch einer Bürde zu leben? Wir haben zu Hause schließlich noch ein Kind, das uns braucht. Mir schießen Gedanken durch den Kopf, die ich längst vergessen glaubte. In der Schwangerschaft mit Max teilte mir der behandelnde Frauenarzt mit, dass mein Kind mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit eine Trisomie 21, also das Down Syndrom, habe. Damals bestand ich auf eine Fruchtwasseruntersuchung. In den Tagen bis zur Eröffnung des Ergebnisses hatte ich mich entschieden, die Schwangerschaft abzubrechen, sollte sich die gefürchtete Diagnose bestätigen. Ich fühlte mich damals physisch und psychisch nicht in der Lage, ein Leben mit einem solchermaßen beeinträchtigten Kind zu führen, das ich zeitlebens pflegen und umsorgen müsste. Nun stehe ich vor der Frage, ob man einem Baby nur wegen ebendieser Angst die Chance auf ein gesundes Leben nehmen darf. Die Wahrscheinlichkeit ist zwar gering, aber sie ist da. Also entscheiden wir uns schließlich gemeinsam, beide ganz bewusst, für unser Kind, mit allen möglichen Konsequenzen. Ich bitte um die Lungenreifungsspritzen sowie um eine Tokolyse-Behandlung. Ohne diese Injektionen sind die Lungen in so einer frühen Schwangerschaftswoche überhaupt nicht in der Lage, Sauerstoff aufzunehmen und zu verarbeiten. Mit diesen Spritzen, es sind insgesamt zwei, die im Abstand von 24 Stunden gegeben werden, ist die Chance minimal höher, dass für die Ärzte überhaupt eine Möglichkeit besteht, die kleinen, unreifen Lungen zu beatmen. Die Beatmung scheint laut Aussagen der Ärzte bei einer extremen Frühgeburt offensichtlich das größte Problem zu sein. Mit dem gleichzeitigen Beginn der Tokolyse, der Wehenhemmung also, erhoffe ich mir die Zeit zu überbrücken, bis die Spritzen nach 48 Stunden ihre volle Wirksamkeit entfalten. Anderenfalls würde die Geburt auf Grund der immer stärker werdenden Wehentätigkeit und des fortschreitenden Befundes am Muttermund wohl eine Frage von Stunden sein und Elias würde sterben. Aber ich weiß einfach, dass Elias es schaffen kann und wird. Die Ärzte machen mir nicht viel Hoffnung und erklären uns immer wieder, dass ein Kind in einer so frühen Schwangerschaftswoche kaum eine Überlebenschance hat. Von Statistiken möchte ich aber in dieser Situation nichts wissen. Es ist mein Kind, das sich in mir bewegt und nichts in der Welt kann mich von dem Gedanken abbringen, dass es leben wird. Die Kinderärzte weisen uns auch auf etwas Anderes hin: Sollte Elias vor der vollendeten 24. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommen, hängt eine intensivmedizinische Behandlung neben dem Wunsch der Eltern ganz allein davon ab, ob er den Willen und die Kraft zum Leben zeigt. Man würde unser Kind nicht behandeln, wenn es blau und leblos zur Welt käme. Darüber bin ich mir im Klaren. Sich als werdende Mama Gedanken machen zu müssen, ob das eigene Kind bei der Geburt oder kurz danach stirbt, vermag man sich kaum vorstellen. Auch ich nicht. Ich schiebe diese Angst ganz weit von mir und versuche, all meine Kraft und Zuversicht dem kleinen Lebewesen in mir zu schicken. Ich rede Elias in diesen Stunden immer wieder gut zu. Ich sage ihm, dass ich an ihn glaube, dass ich ihn unterstützen werde, wo immer ich kann, dass wir es allen zeigen werden. Nichtsdestotrotz weine ich in diesen Tagen viel. Ich frage mich, wie es ist, ein eben geborenes Kind zu den Sternen gehen lassen zu müssen. Wie es anderen Müttern in ähnlichen Situationen wohl geht? Wie gehen sie damit um? Ich will wissen, ob ich mein Kind sehen darf, ob wir es im Fall des Falles würden beerdigen können. Wie soll ich es meinem großen Sohn beibringen? Einige Male, wenn ich mich zu sehr in solche Gedanken zu verstricken drohe, spüre ich einen deutlichen Tritt in meinem Bauch. Als ob Elias sagt: „Jetzt reicht es, du hast genug gegrübelt. Ich bin hier, ich bin kräftig und stark. Wir werden es schaffen.“ Dann gelingt es mir, mich auf diese Zeichen einzulassen und ihm zu vertrauen. Ich glaube an ihn und meine Gedanken werden durch ihn wieder in eine andere Richtung gelenkt. Es sind noch fünf Tage bis zur offiziellen Lebensfähigkeit. Als ich morgens zur Toilette gehe, bemerke ich, dass ich eine leichte, frische Blutung habe. Da ich trotz der hohen Dosis an Wehenhemmern immer noch sporadische Wehen habe, werde ich am Nachmittag zur ständigen Überwachung in den Kreißsaal verlegt. Die Wirkung der Lungenreifungsspritzen ist jedoch noch nicht voll entfaltet. Ich sage Elias, dass er noch ein bisschen aushalten muss. Es wird dauerhaft ein CTG geschrieben. Elias wird nonstop überwacht. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Er macht sich immer wieder durch Tritte bemerkbar. Ich darf nur noch liegen. Nicht einmal mehr zum Toilettengang darf ich aufstehen, damit kein Druck mehr auf den Muttermund ausgeübt wird. Am Abend bekomme ich die zweite Spritze zur Lungenreifung. Die Hälfte der 48 Stunden ist geschafft. Schlafen kann ich in dieser Nacht kaum. Zu viele Gedanken kreisen in meinem Kopf, zu groß ist die Angst, dass Elias im Schlaf einfach aus mir herausrutschen könnte. Die ganze Situation fühlt sich falsch an. Ich liege in der 24. Schwangerschaftswoche im Kreißsaal. Alle Ärzte, Schwestern und Hebammen sind in höchster Alarmbereitschaft. Untersucht werde ich in dieser Zeit nicht. Die Gefahr, die Geburt durch eine Manipulation noch zu beschleunigen, ist einfach zu hoch. Die Oberärzte fragen mich häufig, ob ich eine Veränderung spüre. Doch an diesem Tag bleibt alles verhältnismäßig ruhig. Es sind noch vier Tage bis zur offiziellen Lebensfähigkeit. Die Wehen werden im Laufe des Tages immer stärker. Die Ärzte versuchen, die Geburt noch etwas hinauszuzögern und erhöhen nochmals die Dosis der Wehenhemmer. Als die Höchstdosis überschritten ist, kann ich Arme und Beine nicht mehr ruhig halten. Alles zittert, ich habe meine Gliedmaßen nicht mehr unter Kontrolle. Mein Puls rast und ich habe Beklemmungsgefühle. Meine Angst nimmt zu, die Geburt rückt spürbar näher. Gegen 21.50 Uhr fährt Rudi noch einmal nach Hause. Er möchte etwas essen und sich ausruhen, Kraft sammeln. Ich verspreche ihm, mich sofort zu melden, wenn sich meiner oder Elias' Zustand verschlechtert oder wenn ich das Gefühl habe, dass ich ihn brauche. Er ist noch nicht lange weg, als ich merke, dass der Druck auf den Muttermund zunimmt und die Wehen jetzt denen bei meiner ersten Entbindung immer ähnlicher werden. Daraufhin bitte ich eine der Schwestern, Rudi anzurufen und ihm zu sagen, dass es jetzt losgeht. Keine zehn Minuten später ist er wieder bei mir. Völlig aufgelöst, die Angst und die Unsicherheit stehen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Uns beide erfasst eine unsagbare Furcht vor dem, was jetzt kommen wird. Ich spüre, dass es kein Zurück mehr gibt. Hilflos schaue ich auf die Uhr, rechne kurz nach und stelle etwas erleichtert fest, dass die 48 Stunden für die Lungenreifung gerade vergangen sind. Es besteht also eine kleine Chance, dass Elias keine lebensbedrohlichen Schwierigkeiten beim Beatmen haben wird. Es erscheint mir wie ein weiteres Zeichen, dass alles gut werden wird. Stück für Stück haben wir uns fast bis in die Zeit der Lebensfähigkeit gerettet, nun ist die Lungenreifung etwas beschleunigt. Das alles kann kein Zufall sein. Die von der Hebamme gerufene Oberärztin macht einen Ultraschall über den Bauch, stellt dabei fest, dass der Muttermund komplett eröffnet ist und meint lediglich: „Da ist jetzt nichts mehr aufzuhalten!“ Dann geht das Gewusel im Kreißsaal los. Immer mehr Personen erscheinen um mich herum. Jeder ist furchtbar beschäftigt. Die Wehenhemmer werden abgesetzt und mir wird zu einer PDA geraten, um Elias zu schonen. Ich habe eigentlich eine horrende Angst vor Spritzen im Allgemeinen und einer Rückenmarksnarkose im Besonderen, aber in diesem Fall bin ich natürlich einverstanden. Ich würde alles tun, um Elias zu helfen. Zwischenzeitlich bitte ich eine Schwester, die diensthabende Pfarrerin zu benachrichtigen. Ich möchte, dass Elias eine Nottaufe erhält, wenn er es wirklich nicht schafft. Alles in allem sind mittlerweile etwa zwanzig Personen im Kreißsaal und auf dem Gang davor – zwei Gynäkologen, zwei Hebammen, Krankenschwestern, Neonatologen, Anästhesisten, die Pfarrerin mit Begleitung. Der Großteil postiert sich glücklicherweise hinter meinem Bett, so dass ich nicht alle sehen muss. Kaum wirkt die PDA richtig, spüre ich auch schon die erste Presswehe. Diese ist zwar nicht schmerzhaft, aber trotzdem deutlich spürbar. Ich teile dies der Ärztin mit und diese meint, ich dürfe vorsichtig mitschieben. Zeitgleich dehnt die Ärztin mit beiden Händen Elias‘ Geburtsweg, um den Druck auf sein Köpfchen möglichst zu minimieren. Ich drücke viermal, fünfmal und dann flutscht der Winzling auch schon in seiner kompletten Fruchtblase aus mir heraus. Sie ist noch nicht einmal geplatzt. Wenn ein Baby in seiner Fruchtblase das Licht der Welt erblickt, wird das Glückshaube genannt. Ob das ein weiteres Zeichen ist? Den Anblick jedenfalls werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen. Die Fruchtblase sieht aus wie ein orangefarbener Luftballon, nur den Inhalt kann ich nicht genau erkennen. Nachdem die Ärztin die Fruchtblase mit einem lauten Platsch eröffnet hat, legt sie mir das kleine Würmchen auf den Bauch. Wie klein er ist. So winzig. Ich kann ihn kaum spüren und doch ist er auf einmal da. Damit beginnen die längsten Sekunden meines Lebens. Im Kreißsaal ist es mucksmäuschenstill. Niemand sagt ein Wort. Alle Anwesenden warten gespannt auf die besprochenen Lebenszeichen. Sie harren, ob Elias die Kraft und den Willen zum Leben hat. Die Welt scheint in diesem Moment völlig still zu stehen. Dann geschieht das eigentlich Unmögliche – das, was ihm keiner zugetraut hat, außer seinen Eltern. Der kleine Mensch auf mir sagt deutlich, dass er leben will. Elias bewegt die kleinen Ärmchen und Beinchen und gibt einen leisen, quäkenden Laut von sich. Wie ein kleines Kätzchen, das maunzt. Niemand hat damit gerechnet. Als ob er sagen will: „Hier bin ich und ich möchte leben. Nun kümmert euch um mich.“ Es dauert noch den Bruchteil einer Sekunde, dann geht alles sehr schnell. Elias wird abgenabelt, in ein Tuch gewickelt, die Neonatologen nehmen ihn an sich und bringen ihn fort. In einem Nebenzimmer steht ein Inkubator bereit und Elias wird dort erstversorgt. Für kurze Zeit ist eine unglaubliche Hektik im Zimmer, dann wird es wieder ruhig. Die Schmerzmittel werden abgesetzt, die PDA wird entfernt, und nachdem die Plazenta geboren ist, werde ich zugedeckt. Dann sind wir auf einmal ganz allein. Nur noch Rudi und ich. Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so einsam gefühlt. Wir halten uns an den Händen und wissen nicht, was wir sagen, fühlen und denken sollen. Ist das gerade wirklich passiert? Ist unser Kind gerade über vier Monate zu früh auf die Welt gekommen? Wie geht es ihm? Was machen die Ärzte mit ihm? Warum sagt niemand etwas? Wo sind sie denn alle hin? Gerade war noch der ganze Raum voller Menschen und nun sind wir ganz allein. Wir sind verloren, hilflos, machtlos. Wir können nichts für Elias tun, ihn nur den Ärzten überlassen und auf sie vertrauen. Das Glücksgefühl meiner ersten Entbindung stellt sich nicht ein. Ich fühle mich beraubt – meiner Schwangerschaft, meines Kindes.

Erscheint lt. Verlag 23.9.2014
Nachwort Andreas Schulze
Vorwort Christina Kohlhauser-Vollmuth
Zusatzinfo zahlreiche Farbfotos; 3 Diagramme
Sprache deutsch
Maße 140 x 220 mm
Gewicht 343 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Schwangerschaft / Geburt
Schlagworte abpumpen • Abteilung • Alltag • Antikörper • Baby • Behinderung • Bericht Frühcheneltern • Buch • Chancen • Erfahrung nach Frühgeburt • Erlebnisbericht • Fehlgeburt • Forum 9monate.de • Fruchtblase • Frühchen • Frühchenmama • Frühchenstation • Frühchentreffen • Frühchenwindeln • Frühgeborene • Frühgeborenes • Frühgeburt • Geburt • Geschwister • Geschwisterkind • Hardcover, Softcover / Ratgeber/Gesundheit/Schwangerschaft, Geburt, Säuglinge • Hausgeburt • Hebamme • Infektion • Inkubator • Kaiserschnitt • Kind • Kinder • Kind im Krankenhaus • Klinik • Krankenhaus • Krankenhausaufenthalt • Lungenreifung • Lungenreifungsspritze • Mehrlinge • Milchpumpe • Mutter • Muttermilch • Muttermilch abpumpen • Neonatologie • Neugeborenenintensivstation • Nina Irlbeck • Säugling • Schwangerschaft • Schwangerschaftswoche • Spritze • Stillen nach Frühgeburt • Stillprobleme • Tagebuch • Tagebucheinträge • Therapie nach Frühgeburt • Überleben • vorzeitige Wehen • Wehenhemmer • zu früh geboren • Zwillinge
ISBN-10 3-902647-22-1 / 3902647221
ISBN-13 978-3-902647-22-1 / 9783902647221
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