Maurice und Maralyn (eBook)

Die unglaubliche Geschichte eines Schiffbruchs und einer unkonventionellen Liebe

(Autor)

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2024
272 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-29617-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Maurice und Maralyn - Sophie Elmhirst
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118 Tage schiffbrüchig: ein spektakuläres Abenteuer neu entdeckt
Hübsches Reihenhaus, sicheres Einkommen, ideale Voraussetzungen für die Gründung einer Familie: Maurice und Maralyn Bailey führen ein gewöhnliches Vorstadtleben im England der 1960er-Jahre, als sie beschließen sich von gesellschaftlichen Erwartungen zu befreien, all ihr Hab und Gut zu verkaufen und mit einem Segelboot um die Welt zu reisen - von Südengland bis nach Neuseeland. Als sie im Frühsommer 1972 in See stechen, finden sie schnell Gefallen an ihrem Aussteigerleben, schließen neue Freundschaften, verbringen Weihnachten in der Karibik. Dann die Katastrophe: Am 4. März 1973 - mitten im Pazifik, auf dem Weg zu den Galapagos-Inseln - wird ihr Boot von einem Wal gerammt und schlägt irreparabel leck. Mit einem Vorrat an Verpflegung, der ihren Berechnungen zufolge für 20 Tage auf See reichen wird, flüchten sie sich auf ihr Rettungsschlauchboot. Am Ende werden 118 Tage bis zu ihrer Rettung vergehen; vier Monate, in denen sie Hunger, Durst, Hitze, Kälte, Krankheit und Sturm trotzen - und dabei doch Momente vollkommenen Glücks im Einklang mit der Natur erleben.

Die britische Journalistin Sophie Elmhirst hat das lange vergessene Abenteuer des Ehepaars Bailey neu entdeckt und schreibt mit Maurice und Maralyn eine zeitlose Geschichte von Freiheit und Individualität, Liebe und Abhängigkeit, Verzweiflung und Überlebenswillen.

Sophie Elmhirst ist eine britische Journalistin. Sie schreibt regelmäßig für The Guardian und das von The Economist herausgegebene Digitalmagazin 1843. 2020 wurde sie mit dem British Press Award und dem Foreign Press Award ausgezeichnet. Maurice und Maralyn ist ihr erstes Buch.

2


1962 arbeitete Maurice Bailey als Setzer für Bemrose Printers in Derby, eine angesehene, alte Druckerei, die in ihrer Glanzzeit die großen Zugfahrpläne druckte, die an den Bahnhöfen in ganz England hingen. Maurice setzte Textblöcke gespiegelt auf die Tafel, ein Beruf, der viel Übung verlangte, einen genauen Blick und die Fähigkeit, Spiegelschrift zu lesen.

Abends kehrte er in seine vollgestopfte Wohnung in der Rose Hill Street zurück, einer schmalen Gasse mit niedrigen Backsteinhäusern nahe dem Stadtzentrum. Auf halber Höhe der Straße erinnerte ein großes Herrenhaus mit erbsengrünen Toren und rechteckigen Schornsteinen, welches das Derby Arboretum überragte, daran, wie eine andere Klasse der Einwohner Derbys einst gelebt hatte. Es handelte sich um eine Schenkung von Joseph Strutt an die Stadt, einem Fabrikbesitzer des 19. Jahrhunderts, der damit den Arbeitern aus der Gegend, die ihm zu einem beträchtlichen Vermögen verholfen hatten, danken wollte.

Wie in weiten Teilen Englands herrschte damals auch in Derby ein regelrechtes Baufieber. Siedlungen mit Sozialwohnungen und Vororte dehnten die Stadtränder aus. Zahlreiche Ringstraßen und Kreisverkehre entstanden rund um das alte Stadtzentrum aus den Tudor-Zeiten.

Maurice mochte Derby nicht wirklich. Er bezeichnete es als Kaff, einen Ort, wo nichts los war. In seinen Augen waren die Leute dort weltfremd, verurteilten alles, was ihre eigene Existenz zu bedrohen schien. In einem Brief schilderte er einem Freund, wie Familien, die aus der Karibik in sein Viertel gezogen waren, sich mit »brutalem Rassismus« konfrontiert sahen. Sooft es ging, flüchtete Maurice und fuhr hinauf in den Peak District, wo er klettern ging oder Leichtflugzeuge flog. Zudem spielte er Tennis und besuchte regelmäßig ein Fitnessstudio in der Gegend, wo er Gewichte stemmte, um sein Tennisspiel zu optimieren. Und er segelte.

Maurices Hobbys waren nicht nur ein Zeitvertreib. Vielmehr gaben sie ihm das Gefühl von Freiheit, das Gefühl, ein Leben jenseits der Grenzen seiner eigenen Existenz zu haben. Neben der Arbeit hatte er eigentlich nichts. Jahrelang war er allein gewesen, er gehörte zu jenem Schlag Menschen, die stur darauf beharren, sie könnten sich nicht vorstellen, ihr Leben mit jemandem zu teilen. »Eine Art abgewandtes Junggesellendasein«, wie er es nannte. Seine Familie, die nur wenige Kilometer entfernt in einem Reihenendhaus in Spondon, einem ruhigen Dorf östlich von Derby, wohnte, besuchte er nie.

Maurices Vater hieß Charles, aber alle nannten ihn Jack. Wenn er nicht in dem nahe gelegenen Rolls-Royce-Werk arbeitete, gärtnerte er, pflanzte Gemüse an und ging am Wochenende Kirchenglocken läuten. Maurices Mutter, Annie, hatte früher in einem Herrenhaus in Spondon gedient und ihre Tätigkeit aufgegeben, um die vier Kinder großzuziehen, die sie innerhalb von anderthalb Jahrzehnten bekommen hatte: Reg, der Älteste, dann Maurice, Joan und zum Schluss Bob. Die Geburtsjahre der Kinder rahmten den Zweiten Weltkrieg ein: Maurice wurde 1933 geboren, Bob 1947, in einer vollkommen anderen Welt.

Vier Kinder von denselben Eltern erhalten nicht die gleiche Fürsorge. Maurice hatte Pech. Er stotterte, hatte einen krummen Rücken und erkrankte an Tuberkulose, bevor es ein wirksames Medikament dagegen gab. Annie pflegte zu sagen, dass ihr rotes Haar über Nacht weiß wurde. Maurice musste monatelang das Bett hüten, war allein in seinem Zimmer. So eine Erfahrung vergisst man nicht, die Einsamkeit brennt sich ein, und zwar tief.

Maurice wurde zu einem Problem, das es zu beheben galt. In der Schule hatte er so viel verpasst, dass er Wochen brauchte, um alles aufzuholen. Später erzählte er Freunden, dass Annie ihn zwang, das Wörterbuch abzuschreiben, wobei sie mit gezücktem Lineal über ihn gebeugt stand und ihm auf die Finger schlug, sobald er einen Fehler machte. Damals war es nicht ungewöhnlich, wenn Eltern ihre Kinder nicht küssten oder umarmten, doch das hieß nicht, dass dieser Mangel an Zuneigung leichter zu ertragen gewesen wäre.

Das stille Zimmer, das Stottern, das Lineal – all diese Erfahrungen hatten ihre Spuren hinterlassen. Als Jugendlicher war Maurice sich selbst zuwider. Er schämte sich für sein Aussehen und sein Wesen. In Gesellschaft fühlte er sich unwohl, war gehemmt und schüchtern. Auf dem Schulfoto von Spondon House überragt der vierzehnjährige Gymnasiast beinahe alle seine Mitschüler um einen Kopf. Mit müdem, ernstem Blick wirkt er im Vergleich zu den anderen dünnbeinigen, strahlenden Jungen und Mädchen wie ein erschöpfter Vierzigjähriger.

Er wollte einfach nur ausbrechen. Sein erster Versuch war die intellektuelle Flucht. Annie war in einem streng christlichen Haushalt aufgewachsen, hatte das alles runtergeschluckt, wie sie es ausdrückte. Obwohl sie selbst nicht mehr zur Kirche ging, zwang sie ihre Kinder dazu, nur für den Notfall, als eine Art Absicherung. Religion hatte mehr mit Benehmen als mit Glauben zu tun. Sonntagsschule und Bibellektüre – das gehörte sich so und machte einen guten Menschen aus.

Maurice rebellierte dagegen und entdeckte die Wissenschaft für sich. Er las über die Entstehung des Universums, über natürliche Selektion und entschied, dass die Evolutionstheorie mehr Sinn ergab als die christliche Glaubenslehre. Er äußerte seine Zweifel, seine Eltern wiesen sie zurück. In ihren Augen versuchte er lediglich, die moralischen Grundsätze auszuhebeln.

Deshalb ging Maurice fort. Zwei Jahre Wehrdienst in Ägypten, und er war Sergeant. Anschließend ging es zurück in die Heimat, dort stand die Abendschule an. Das Wohnzimmer betrat er nur zum Essen. Ansonsten hielt er sich von seiner Familie weitgehend fern. Er besaß einen Morris Minor, mit dem er gut wegfahren konnte, und häufig nahm er seinen kleinen Bruder Bob mit in den Peak District, um dort zu wandern. Sie kletterten auf den Kinder Scout. Maurice zog Bob immer wieder auf, was Bob hasste, doch das war nun einmal der natürliche Lauf der Dinge, Familien gaben ihren Schmerz weiter wie eine Erbschaft.

Als Maurice eine Arbeit und eine eigene Wohnung in Derby gefunden hatte, brach er endgültig mit seiner Familie. In Bobs Augen wollte er neu beginnen, so tun, als hätte es seine Kindheit niemals gegeben. Von da an sahen die Familienmitglieder Maurice kaum mehr. Er sprach nie von ihnen. Jahre später erschien er zur Einäscherung seines Vaters. Zu der Beerdigung seiner Mutter ging er gar nicht erst.

Einmal im Monat fand in Derby ein kleines Autorennen statt. Mike, ein Bekannter von Maurice aus dem Fitnessclub, fragte ihn, ob er an seiner Stelle teilnehmen würde. Mike fuhr das Rennen normalerweise mit einer Kollegin aus dem Finanzamt von Derby, aber er hatte diese Woche keine Zeit, und sie wollte einen Mitfahrer.

Maurice bekam Panik. Neue Bekanntschaften machten ihn nervös, und er kannte sich mit Autos überhaupt nicht aus. Im Allgemeinen machte er gern Dinge, die er vorher schon einmal ausprobiert hatte. Somit war das Ganze eine Situation, die er, weil er eben nun mal so war, wie er war, wohl schon von vornherein ruinieren würde.

Mike beruhigte ihn. Das wird schon klappen, sagte er, denn er kannte Maurice nicht besonders gut.

An einem Sonntagmorgen wartete Maurice also an dem vereinbarten Ort, auf dem Markplatz im Zentrum von Derby. Der alte Glockenturm ragte in den Himmel, und die Glocken läuteten zur vollen Stunde. Autos fuhren vorbei, manche wurden langsamer. Erleichtert atmete Maurice auf, wenn sie weiterfuhren. Vielleicht kam sie ja gar nicht. Auf einmal hielt ein Auto vor ihm an, ein großer Vauxhall Cresta mit einer dunkelhaarigen Frau am Steuer. Sie trug Jeans, einen blauen Pullover und lächelte ihn an. Maralyn.

Was war es? Die lässige Art, wie sie sich über den Sitz lehnte, um ihm die Beifahrertür zu öffnen. Ihr ungekünsteltes Lächeln. Ihr energischer Fahrstil zum Start des Rennens. Sie schien instinktiv zu wissen, wie man Dinge tat, eine Wesensart, die Maurices Auffassung darüber, wie Menschen – oder zumindest er selbst – sind, widersprach. Sie konnte reden, einfach reden, selbst wenn sie Auto fuhr. Und der Cresta hatte es in sich. Ein Wohnzimmer mit Teppichboden und vier Türen, Sitzbänken und serienmäßiger Heizung, im Design dem amerikanischen Buick nachempfunden, mit Heckflossen und Weißwandreifen. Eine unglaubliche Chuzpe! Der Morris Minor wirkte dagegen provinziell.

Maurice scheiterte auf ganzer Linie. Wenn man schon im Vorhinein glaubt, man sei eine Katastrophe, dann wird sich das auch bewahrheiten. Alles, was er sagte, war falsch. Er sollte Maralyn den Weg weisen, während sie steuerte, doch er verwechselte links und rechts. Als er versuchte, seine Fehler zu korrigieren, machte er alles nur noch schlimmer. Schließlich bot er nach dem Rennen an, das Benzin zu bezahlen, aber als er in seine Tasche griff, fand er lediglich zehn Schillinge und vier Pennys. Maralyn musste bezahlen.

Warum in aller Welt hatte er nicht genug Geld bei sich? Es schien absurd, aber gewissermaßen auch unausweichlich. Er stand sich selbst im Weg, und alles, was er tat, bestätigte sein jämmerliches Selbstbild. »Das war’s«, schrieb er später. »Meine erste Begegnung mit dieser wunderbaren jungen Frau wird auch meine letzte gewesen sein.«

Eine offizielle Entschuldigung war angebracht. Er schrieb Maralyn einen Brief und schickte ihr den größten Blumenstrauß, den er sich leisten konnte. Ein paar Tage später antwortete sie, zu seiner Überraschung, und bedankte sich. Mike erklärte auf subtiles Nachfragen, dass Maralyn nur eine Kollegin sei, mehr nicht. Maurice schrieb ihr erneut und bat sie, mit ihm auszugehen. Maralyn antwortete, allerdings nicht mit einem Brief, sondern mit einem Anruf...

Erscheint lt. Verlag 22.5.2024
Übersetzer Annika Klapper
Sprache deutsch
Original-Titel Maurice and Maralyn
Themenwelt Reisen Reiseberichte Welt / Arktis / Antarktis
Schlagworte 1960er Jahre • 1960er-Jahre • 1970er Jahre • 1970er-Jahre • 2024 • Abenteuer • Abenteuer & Reiseberichte • Aussteiger • eBooks • England • Erzählendes Sachbuch • Geschichte • Großbritannien • Gummiboot • Into the wild • Liebespaar • Meer • Moby Dick • Neuerscheinung • Ozean • Pärchen • Pazifik • Raynor Winn • Rettung • Rettungsboot • Schiffbruch mit Tiger • Schiffsabenteuer • Schlauchboot • Seenot • Segelboot • Überleben • Weltumsegelung
ISBN-10 3-641-29617-X / 364129617X
ISBN-13 978-3-641-29617-9 / 9783641296179
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