Zwischen ewigem Sommer und tiefster Nacht (eBook)

Wie ich die acht Jahreszeiten in Schwedens Norden erlebte | Vom Ankommen in der Natur Schwedisch-Lapplands
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60484-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zwischen ewigem Sommer und tiefster Nacht -  Bernadette Olderdissen
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Die nordischen Jahreszeiten hautnah erfahren Autorin und Journalistin Bernadette Olderdissen erfüllt sich ihren Traum von Natur und Wildnis mit einem Experiment in Schwedisch-Lappland: Ein Jahr lang will sie als Bewohnerin eines 200-Seelen-Dorfs am Polarkreis die acht Jahreszeiten des samischen Kalenders erleben. Stadtflucht in ein entschleunigtes Leben Empfangen wird sie im Januar vom vereisten Meer und von verschneiten Wäldern, von Dunkelheit und Polarlichtern. Die neuen Nachbar:innen helfen ihr, sich an die neue Umgebung anzupassen - und erste Frühlingsboten zu erkennen. Und während das Licht heller und die Luft wärmer wird, schenkt die Natur Lapplands Bernadette Lebenslektionen, mit denen sie nie gerechnet hätte.

Bernadette Olderdissen, geboren 1981, ist eine deutsche Reiseschriftstellerin und Journalistin. Ihre Artikel erscheinen unter anderem bei Spiegel online, taz, Swiss Globetrotter Magazin und Stuttgarter Zeitung, und ihre Geschichten waren Teil verschiedener Reiseanthologien wie 'Deutschland im Winter' und 'The Travel Episodes'. Sie hat mehrere Reiseführer für Hamburg und Ligurien veröffentlicht und schreibt derzeit über Schwedisch-Lappland, wo sie in einer kleinen Gemeinde zwischen Meer, Wäldern und Rentieren lebt. Über ihre Erfahrungen im Norden vloggt sie außerdem auf YouTube.

Bernadette Olderdissen, geboren 1981, ist eine deutsche Reiseschriftstellerin und Journalistin. Ihre Artikel erscheinen unter anderem bei Spiegel online, taz, Swiss Globetrotter Magazin und Stuttgarter Zeitung, und ihre Geschichten waren Teil verschiedener Reiseanthologien wie "Deutschland im Winter" und "The Travel Episodes". Sie hat mehrere Reiseführer für Hamburg und Ligurien veröffentlicht und schreibt derzeit über Schwedisch-Lappland, wo sie in einer kleinen Gemeinde zwischen Meer, Wäldern und Rentieren lebt. Über ihre Erfahrungen im Norden vloggt sie außerdem auf YouTube. www.bernadette-olderdissen.org

Die Jahreszeit der Pflege:


 

Winter, Dálvvie


circa Mitte/Ende Dezember bis Anfang März

Es ist Samstag, der 8. Januar 2022, mehr als ein Jahr nach meinem Amuse-Bouche in Schwedisch-Lappland. Drei Tage nach meiner Ankunft in meinem neuen Heimatdorf Båtskärsnäs, kurz Baskeri, mit etwa 200 Einwohnern, zwanzig Kilometer von der Kleinstadt Kalix entfernt. Ich liege auf dem Rücken auf der zugefrorenen Ostsee, irgendwo zwischen Baskeri und den im Eis festgefrorenen Inselchen seines Schärengartens. Starre in den Himmel. Über mir tanzen lautlos hellgrüne Lichter am Himmel der Polarnacht oder skábma, wie sie in samischer Sprache heißt. Die Lichter bewegen sich nach eingespielter Choreografie, sinnlich, als würde ein Maler einen in Grün getunkten Pinsel über eine tiefschwarze Leinwand schwingen. Von den minus zwanzig Grad spüre ich nichts, nehme meinen kalten Rücken und Po kaum wahr. Ich weine, bis die Tränen auf meinen Wangen festfrieren. Ich bin angekommen. Endlich. Nach einer Vorbereitungszeit und Ankunft, bei der ich um etliche Nerven und Geduldsfäden ärmer geworden bin.

Es wäre das Bequemste gewesen, ich hätte mein Jahr in Schwedisch-Lappland im Frühling oder Frühlingssommer begonnen. Wenn die Sonne nicht mehr untergeht und die Straßen frei von Eis und Schnee in der Sonne dürsten. Stattdessen plante ich meinen einjährigen Umzug für den 2. Januar. Wollte mitsamt Auto und begleitet von meinem Freund Diego, der einen Kleintransporter mietete, über Travemünde mit der Fähre nach Helsinki und von dort aus weiter nach Schwedisch-Lappland. Die Variante mit der kürzesten Fahrtzeit auf möglicherweise schneestürmigen Straßen. »Bist du wahnsinnig, da mitten im Winter hinzufahren? Warum tust du dir das an? Das ist fürchterlich kalt und dunkel, da wirst du doch schwermütig! Viele begehen da im Winter Selbstmord!«, lauteten die gängigen Fragen und Prophezeiungen meiner deutschen Freunde. Brauchte ich den Adrenalinkick und die Gefahr, schon bei der Anreise mit dem Hamburger Auto ohne Allradantrieb und mit Allwetterreifen im Schnee stecken zu bleiben? Nein. Ich fuhr im Winter los, weil ich nach vier Monaten Vorbereitung endlich loswollte. Weil das neue Kalenderjahr auch für einen neuen Beginn in meinem – wie bei vielen von uns – coronageplagten Berufsleben als Reisejournalistin und -autorin stehen sollte. Vor allem aber, weil es sich richtig anfühlte, mein Jahr im Rhythmus der Natur in tiefster Dunkelheit und Kälte zu beginnen, denn unter diesen Bedingungen wurde auch die Idee für dieses Experiment geboren. Und bei der äußeren Finsternis hat die Natur vorgesorgt: Sie wird schon zu Beginn des Jahres mit jedem Tag lichter.

Doch dann drohte alles in letzter Minute zu platzen.

Leben im Rhythmus der Natur – damit würde ich im Januar 2022 in Lappland anfangen. So stand es im Terminkalender. Den Dezember plante ich dagegen in meinem Rhythmus. Schnell noch für zwei Tage nach Neapel jetten zum 70. Geburtstag von Diegos Vater, dann eine Woche Arzttermine – Frauenarzt, Zahnarzt, Booster-Impfung. Leichte Halsschmerzen ignorierte ich, Zeit, mich auszukurieren, fehlte. Mein Körper bedankte sich – Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen, die Halsschmerzen explodierten, die Nase machte dicht. Dafür hatte ich gar keine Zeit! Ich wollte packen, organisieren, bis zum letzten Tag Sport treiben, mich von Freunden verabschieden, einen Sauna- und Spa-Tag einlegen. Das Leben hatte andere Pläne. An einem Samstagabend fuhr mich Diego zur Notfallpraxis, damit ich mir etwas gegen die packevollen Nebenhöhlen verschreiben lassen konnte. Die Praxis hatte eine bessere Idee: PCR-Test. Ich rollte die Augen. Aber gut, wenn ich danach etwas für meine Nebenhöhlen bekam.

In der Nacht schüttelte ich mich in den Schlaf, wachte morgens in einem Schweißpool auf – und fühlte mich geheilt. Den PCR-Test vergaß ich zunächst, checkte erst abends die App. Statt Entwarnung folgte eine Ohrfeige: roter Hintergrund, weiße Schrift: POSITIV. Ach du Scheiße! Ich doch nicht! Ich war zwei-, nun sogar dreimal geimpft! Und Schweden? Wie lange musste ich in Quarantäne? Der Anruf des überforderten Gesundheitsamtes und Klärung ließen auf sich warten. Ich spulte das Jammerlappen-Programm runter. Das auch noch! Hatte ich in den letzten beiden Jahren nicht genug mitgemacht? Wie oft hatte ich gelesen, dass »Warum passiert mir das?« die falsche Frage ist und die richtige »Was kann ich davon lernen?« lautet. Das wusste ich. Wenn die Wellen um mich herum ruhig waren. Aber wenn es stürmte, dann trieb die richtige Frage schiffbrüchig auf dem Ozean des Gedankenchaos.

Meine Quarantäne wurde bis einschließlich 28. Dezember angeordnet, die Abfahrt nach Schweden war für die Nacht auf den 3. Januar geplant. Ich atmete auf. Meine Nase tropfte. Das musste jetzt aber aufhören! 48 Stunden vor Quarantäneende musste ich symptomfrei sein, mein Körper musste … Moment mal! Wie ist das mit Leben im Rhythmus der Natur? Ist dieses Virus nicht auch ein Teil davon? Ein Körper ist doch ein bisschen wie die Jahreszeiten, auch er durchläuft seine Zyklen. Bei Frauen nicht nur den Monatszyklus, sondern bei allen Menschen Zyklen von Gesund- und Krankheit.

Der 2. Januar kam, mit zwölf Grad und Regen in Hamburg. Wir beluden Auto und Transporter mit Kisten und Koffern. Der für Finnland notwendige Coronatest fiel negativ aus, und pünktlich um 23 Uhr ging es auf die Fähre. Großräumige Kabine mit Meerblick, dreißig Stunden entspannen, durchatmen, genießen. Am nächsten Tag saß ich am Kabinenfenster, schaute hinaus auf die graue Ostsee. Doch statt mit Trübsinn erfüllte mich das Bild mit Freude, ich wollte die Zeit nicht vorspulen. Mit dem Blick zoomte ich die schüchternen Wellen heran, von denen sich viele zögerlich brachen, um sogleich weiterzurollen. Ewig im Fluss mit der Richtung des Windes. Jetzt grau, mit dem nächsten Sonnenstrahl blau. Das Meer spiegelte den Himmel urteilslos wider. War unter der aufgekräuselten Oberfläche tief und ruhig, ein bisschen wie ich.

Helsinki begrüßte uns in den frühen Morgenstunden mit Minusgraden und Eisschollen, die auf der Ostsee trieben. Auf der Autofahrt nach Oulu brach herein, was wir befürchtet hatten: Schneestürme. Die Flocken wuselten so dicht, dass man den Vordermann nur noch dank Nebelleuchte erriet, und teils puderten vorbeirasende Lastwagen die Windschutzscheibe so dick ein, dass ich sekundenlang blind und betend weiterfuhr. Vor Kurzem hatte ich gelesen, dass man beim Singen nicht gleichzeitig Angst verspüren kann, also drehte ich meine Lieblingsmucke auf und sang. In meiner Fantasie wurde der aufgewirbelte Puderschnee zu Dampf auf einer Bühne, der einen Star und die ersten Bässe eines kraftvollen Liedes ankündigt. Ja, gegen die Angst wurde ich zum Star auf meiner eigenen Bühne und sang mir Mut an.

Endlich, ein Straßenschild hinter der Schneetapete: Oulu. Elf Stunden für 600 Kilometer. Doch der nächste Tag gab sich Mühe, die Strapazen wettzumachen: Auch der Coronatest in Oulu fiel negativ aus, und als ich das blaue Sverige-Schild am Straßenrand erspähte, schloss ich einen Moment dankbar die Augen und fuhr fast den Grenzbeamten über den Haufen, der Coronanachweise überprüfte. Um zwölf Uhr hatte ich einen Termin bei der Autowerkstatt in Kalix, die meine wacker durchhaltenden Allwetterreifen gegen die in Deutschland verbotenen Reifen mit Spikes auswechseln sollte. Um 12:03 Uhr brauste ich in die Einfahrt, das Tor wurde für mich hochgerissen, und ich fuhr mit durchgetretenem Gaspedal auf die Werkfläche. Jetzt konnte wirklich nichts mehr schiefgehen.

Frisch bereift ging es von der Schnellstraße auf sechs Kilometern runter zur Küste bis Båtskärsnäs, durch noch winzigere Dörfer, vor allem aber durch eingezuckerten Wald. Eine unerwartete Empfindung überkam mich: Diese Kilometer fühlten sich an wie eine lang herbeigesehnte Heimkehr. Wie oft hatte ich bei Meditationsversuchen ein rotes Schwedenhaus inmitten von weißer Weite visualisiert, als Ort der Geborgenheit. »Nach 200 Metern haben Sie das Ziel erreicht. Das Ziel befindet sich auf der rechten Seite«, verkündete das Navi, und ich jauchzte.

...

Erscheint lt. Verlag 31.8.2023
Zusatzinfo Mit 24 Seiten Farbbildteil und einer farbigen Karte
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Europa
Reisen Reiseführer Europa
Schlagworte Acht Jahreszeiten • Achtsamkeit in der Natur • aufs Land ziehen • Auswandern • Bottnischer Meerbusen • Buch über Lappland • Elch • entschleunigtes Leben • Entschleunigung • Flucht aus dem Alltag • Flucht aus der Großstadt • Freiheit in der Natur • für die Natur begeistern • Großstadt verlassen • in der natur unterwegs • Jahreszeiten • Landleben • Lappland • Leben am Meer • Leben an der Ostsee • Leben mit den Jahreszeiten • Leben mit den Samen • Naturerfahrung • Naturerlebnis • Natur in Lappland • neues Leben beginnen • neues Leben in Schweden • Nordische Länder • nordisches Leben • nordisches Lebensgefühl • Raus aus der Stadt • Rentier • Rentierschlitten • Rentierzucht • samische Bevölkerung • samisches Volk • Schweden • schwedische Natur • schwedische Samen • schwedisches Landleben • Schwedische Wälder • Schwedisch Lappland • Stadtflucht • Tierbegegnungen • Tierbeobachtung • Tiere in der Natur • Tiere in freier Wildbahn • Vogelbeobachtung • von der Stadt aufs Land • Waldbaden • Wald erfahren • Wölfe
ISBN-10 3-492-60484-6 / 3492604846
ISBN-13 978-3-492-60484-0 / 9783492604840
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