Das Lächeln des Jaguars (eBook)
176 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-31282-4 (ISBN)
»Als ich nach Nicaragua fuhr, hatte ich nicht die Absicht, ein Buch darüber zu schreiben oder überhaupt zu schreiben; doch die Begegnung mit dem Land hat mich so tief bewegt, dass mir keine andere Wahl blieb.« Als Salman Rushdie 1986 nach Nicaragua reist, ist er überwältigt: von den Menschen und ihrer Kultur, von der Schönheit der Natur, aber auch von der komplizierten politischen Lage. Er findet ein Land mitten im Umbruch vor - ein zutiefst widersprüchliches und zugleich wunderschönes Land, dessen Zauber der Erzähler Rushdie mit seiner ganz eigenen, besonderen Sprache erfasst.
- Ein großer Autor bereist ein Land im Umbruch
- »Rushdie zeigt uns das Land in seinen leuchtend bunten Farben.« (New York Times)
Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
1
Sandinos Hut
»Christoph Kolumbus stach bei Palos de Moguer in Spanien in See. Er suchte die Länder des Großmoguls, wo es Paläste aus purem Gold gab, die Menschen und Tiere wild und wunderlich anzusehen waren und wo man sich nur zu bücken brauchte, um die prachtvollsten Edelsteine aufzusammeln. Statt dieser Welt entdeckte er jedoch eine andere, die ebenfalls reich, schön und voller Bizarrerie war: Amerika.«
Diese Worte las ich auf einer »Tabakkarte« der Insel Kuba am Flughafen von Havanna, und für jemanden, der zum ersten Mal nach Mittelamerika reiste, schienen sie mir eine passende Einstimmung zu sein. Später allerdings, als das Flugzeug über der grünen Lagune im Krater des Apoyeque-Vulkans eine Schleife beschrieb und Managua in Sicht kam, fielen mir die dunkleren Worte aus Nerudas Gedicht »Centro América« ein:
Erdstrich, schlank wie eine Peitsche,
entbrannt wie ein wilder Schmerz,
dein Fuß in Honduras, dein Herzblut
in Santo Domingo, blicken
nachts deine Augen mich an
von Nicaragua her, sie rufen mich, verlangen nach mir,
und hin über die Erde Amerikas
klopf’ ich an Türen, um zu reden,
rühre ich an gefesselte Zungen,
hebe ich die Vorhänge auf, tauche
die Hand in das Blut:
O Schmerzen
meiner Erde, o Röcheln
des großen verhängten Schweigens,
o Völker des langewährenden Todeskampfes,
o Landenge der Seufzer.
Um die Lebenden in Nicaragua zu verstehen, muss man sich zuerst mit den Toten vertraut machen; das begriff ich bald. Das Land war voller Geister. Sandino vive, rief es mir bei meiner Ankunft von einer Mauer entgegen, was von einem großen rosafarbenen Stein aus prompt mit Cristo vive und dem Zusatz viene pronto gekontert wurde. Wenige Minuten später kam ich an dem leeren Sockel vorbei, auf dem bis vor sieben Jahren die Reiterstatue des Ungeheuers gestanden hatte (allerdings war das Standbild in Wirklichkeit gebraucht aus Italien bezogen und mit einem neuen Gesicht versehen worden; das alte Gesicht hatte Mussolini gehört). Die Statue war mit der Diktatur gestürzt worden, aber der leere Sockel trog. Somoza vive: Diese furchterregenden Worte bekam man in Nicaragua nicht oft zu hören, aber die Bestie war noch nicht tot. Tacho war 1980 von argentinischen Partisanen in Paraguay ermordet worden, aber sein Gespenst, ein Phantom mit einem Cowboyhut, suchte die Grenze zu Honduras heim.
Managua wucherte um den eigenen Leichnam herum. Achtzig Prozent der Bausubstanz in der Innenstadt waren dem großen Erdbeben von 1972 zum Opfer gefallen; vom ehemaligen Stadtzentrum war kaum etwas übriggeblieben. Unter Somoza waren Schutt und Trümmer liegengelassen worden; erst nach seinem Sturz hatte man mit Aufräumungsarbeiten begonnen und im früheren Herzen Managuas Rasen angelegt.
Die Leere im Zentrum verlieh der Stadt die provisorische, unwirkliche Atmosphäre einer Filmkulisse. Häuser waren ausgesprochene Mangelware, und die Managuaner mussten sich mit dem behelfen, was da war. Das Außenministerium hatte sich in einer ehemaligen Ladenstraße eingerichtet, die Nationalversammlung tagte in einer umgewandelten Bank. Das Intercontinental-Hotel, eine Art abgesägte Betonpyramide, war leider stehen geblieben. Wie ein Omen erhob es sich inmitten der Gespenster des einstigen Managua: ein hässlicher Amerikaner, aber immerhin ein Überlebender. (Ich merkte, dass ich auf die Dauer nicht umhinkam, diese Stadt mit solchen Symbolen zu verbinden.)
Auch die Menschen waren Mangelware. Nicaraguas Gesamtbevölkerung zählte weniger als drei Millionen Einwohner, und durch den Krieg verringerte sich diese Zahl noch. In meinen ersten Stunden in Managua sah ich auf den Straßen so manches, was dem in Indien und Pakistan geschulten Auge bekannt vorkommen musste: Die wenigen Busse der Hauptstadt – in der Mehrzahl von Alfonsíns Argentinien gespendet – waren bis zum Bersten mit Passagieren vollgestopft, die auf sehr subkontinental anmutende Weise an den Trittbrettern hingen. Und die Baracken der campesinos am Straßenrand, der Bauern, die außer Hoffnung nicht viel in die Stadt mitgebracht hatten, erinnerten verdächtig an die bustees von Kalkutta und Bombay. Später sollte ich begreifen, dass diese Anklänge an menschenreiche Länder genauso irreführend waren wie der leere Sockel des Tyrannen. Nicaragua, ein Land von der Größe des Staates Oklahoma und mit den Umrissen von England und Wales, wenn man sie sich auf den Kopf gestellt denkt, ist das bevölkerungsärmste Land Mittelamerikas. Im Stadtgebiet von New York leben annähernd sechsmal so viele Menschen wie in ganz Nicaragua. Die Leere im Herzen Managuas sagte mehr aus als ein überfüllter Bus.
Diese Leere, diese verlassenen Straßen bevölkerten die Geister, die toten Märtyrer. Der argentinische Romancier Ernesto Sábato hat Buenos Aires als eine Stadt bezeichnet, deren Straßennamen die Schreine für das Gedenken an ihre Helden sind, und auch in Nicaragua hatte ich oft den Eindruck, als seien alle, auf die es ankomme, längst tot und in den Namen von Krankenhäusern, Schulen, Theatern, Landstraßen oder gar (wie im Falle des großen Dichters Rubén Darío) dem einer ganzen Stadt verewigt worden. Im antiken Griechenland konnten Heroen sich erhoffen, dereinst zu Göttern oder zumindest zu Sternbildern zu werden; die Toten eines verarmten Landes des zwanzigsten Jahrhunderts mussten sich mit der weniger aufregenden Unsterblichkeit bescheiden, einem Park oder einem Stadion ihren Namen zu leihen.
Neun der zehn ersten Führer der Frente Sandinista de Liberación Nacional waren vor Somozas Sturz umgekommen. Ihre riesengroßen Gesichter, in den sandinistischen Farben Schwarz und Rot gemalt, starrten auf die Plaza de la Revolución herab. Carlos Fonseca (der die Frente, die Befreiungsfront, 1956 begründet hatte und im November 1976, zweieinhalb Jahre vor dem Sieg der Sandinisten, gefallen war), Silvio Mayorga, Germán Pomares: Namen, die sich wie eine Litanei aufsagten. Der einzige Überlebende, der heutige Innenminister Tomás Borge, fand sich dort oben als Lebender mit den Unsterblichen versammelt. Borge war schwer gefoltert worden und soll sich nach der Revolution, so erzählt man sich, an seinem Folterer dadurch »gerächt« haben, dass er ihm verzieh.
Dass in einem Land, dessen Geschichte während der sechsundvierzig Jahre, in denen die Somozas an der Spitze einer der dauerhaftesten und grausamsten Diktaturen der Welt gestanden hatten, ein beständiges Ritual des Blutvergießens gewesen war, ein Märtyrerkult entstand, war kaum verwunderlich. Überall erzählte man mir die Legenden, die sich um die Toten rankten. Die von dem Dichter Leonel Rugama, der von Somozas Nationalgarde in einem Haus eingekreist worden war und auf die Aufforderung, sich zu ergeben, zurückrief: »¡Qué se rinda tu madre!« (Soll sich doch deine Mutter ergeben!), und bis zuletzt weiterkämpfte. Die von Julio Buitrago, der zusammen mit Gloria Campos und Doris Tijerino in einem konspirativen Versteck in Managua eingekesselt war. Am Ende war er der letzte Überlebende, der Stunde um Stunde Somozas Panzern und Geschützfeuer die Stirn bot – was das ganze Land live am Fernsehapparat miterleben konnte, denn Somoza hatte in dem Glauben, eine ganze FSLN-Zelle erwischt zu haben, ihre Vernichtung als Lektion für das Volk demonstrieren wollen; das war ein großer Fehler, denn als die Leute sahen, wie Buitrago schließlich schießend herauskam und starb, als sie sahen, dass ein einzelner Mensch dem Tyrannen so lange widerstanden hatte, da zogen sie die falsche Lehre daraus: die, dass man Widerstand leisten konnte.
Nach sieben Jahren sprachen die Wände noch immer zu den Toten: Carlos, wir schaffen es, sagten die Graffiti, oder: Julio, wir haben nicht vergessen.
Ein Gemälde der naiven Malerin Gloria Guevara mit dem Titel Cristo guerillero zeigt eine Kreuzigungsszene im felsigen Bergland Nicaraguas. Am Fuß des Kreuzes weinen drei Bäuerinnen, zwei knien, eine steht, und der Gekreuzigte trägt statt Lendentuch und Dornenkrone Jeans und Baumwollhemd. Dieses Bild erschien mir sehr bezeichnend. Die Religion der Menschen am Fuß der Vulkane Mittelamerikas war schon immer stark von Märtyrertum und Totenkult geprägt; und in Nicaragua haben sehr, sehr viele über die Religion zur Revolution gefunden. Die Messe mit ihrem liturgischen Wechselgesang hat die Gestaltung politischer Veranstaltungen beeinflusst. Sandinos Slogan Patria libre o morir (ein freies Vaterland oder sterben) war jetzt die nationale Parole, und am Ende jeder Versammlung rief der jeweilige Redner unfehlbar: »¡Patria libre!«, worauf die Menge »¡O MORIR!« zurückbrüllte, was unsereinem, der der Geschichte dieses Landes als Fremder gegenüberstand und dem der Märtyrerkult in einem anderen, fernen Land, im Iran Khomeinis, eine furchtbare Warnung bedeutete, ziemlich grausig in den Ohren klang.
Die nicaraguanische Revolution war und ist bis heute eine pasión – als Leidenschaft wie als Leidensgeschichte. Die Verschmelzung beider Bedeutungen ist charakteristisch für den Sandinismus, und das brachte Gloria Guevaras Gemälde zum Ausdruck.
Dann aber
werden wir die Toten wecken
mit dem Leben, das sie uns vermacht,
und singen werden wir mit ihnen,
und über ganz Amerika
werden Vögel in Scharen
unsere Botschaft verbreiten.
Aus dem Gedicht »Hasta que seamos libres«
von Gioconda Belli
Die Generationen Toter bildeten den Kontext, außerhalb dessen...
Erscheint lt. Verlag | 14.6.2023 |
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Übersetzer | Melanie Walz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Jaguar Smile. A Nicaraguan Journey |
Themenwelt | Reisen ► Reiseführer ► Nord- / Mittelamerika |
Schlagworte | 2023 • 20.Jahrhundert • Die satanischen Verse • eBooks • Frauenromane • friedenspreises des deutschen buchhandels • Kultur • Menschen • Mittelamerika • Mitternachtskinder • Natur • Neuerscheinung • Nicaragua • Reisebericht • Reisen • Roman • Romane • Taschenbuch • victory city |
ISBN-10 | 3-641-31282-5 / 3641312825 |
ISBN-13 | 978-3-641-31282-4 / 9783641312824 |
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