Fluss ohne Grenzen (eBook)

Der Rhein - eine literarische Biografie

(Autor)

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2023 | 1. Auflage
350 Seiten
Knesebeck Verlag
978-3-95728-748-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fluss ohne Grenzen -  Mathijs Deen
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Eine kulturhistorische Reise von der Quelle bis zur Mündung des Rheins Über 1200 Kilometer fließt der Rhein durch sechs Staaten - und durch das Herz Europas. Mathijs Deen erzählt so virtuos wie persönlich, so fesselnd wie kenntnisreich die Geschichte des Flusses und die Geschichten, die sich an und in ihm zugetragen haben (könnten). Über Zeiten und Grenzen hinweg sind wir mit den Flusspferden, die einst am Rheinufer grasten, unterwegs und mit den Lachsen auf dem Weg zu ihren Laichplätzen, mit Julius Caesar und dem jungen Goethe. Eine lebendige und humorvolle kulturhistorische Betrachtung des bedeutendsten Stroms Deutschlands. Spannenden Erzählungen erwecken den Rhein zum Leben In Fluss ohne Grenzen nimmt Mathijs Deen Sie mit in die Grauzone zwischen Fakt und Fiktion, Wissen und Fantasie. Angefangen bei den Flusspferden, die vor Millionen von Jahren an den Ufern des Flusses weideten, bis zu den erschöpften Lachsen, die ihren Lebensraum langsam verändern mussten, vom Mädchen aus dem antiken Steinheim bis zu den römischen Feldherrn Corbulo und Julius Caesar, der den Rhein als Grenze seines Reiches sah, vom jungen Goethe bis zu den Nordseefischern und Geologen. Und Deen erzählt nicht nur die Geschichte des Flusses, sondern die Geschichten, die sich an und in ihm zugetragen haben, in denen der Rhein immer präsent ist, manchmal als Hauptfigur, manchmal auch als Statist. Der Rhein ist, neben der Donau und der Elbe, vielleicht der europäische Fluss. Er entspringt nicht einfach nur in den Alpen, sondern seine Zuflüsse kommen aus allen Teilen Europas. In Fluss ohne Grenzen geht Mathijs Deen der Seele des Rheins auf den Grund und schafft in unerwarteten Geschichten eine natur-, literatur- und kulturhistorische Biografie des Rheins.

Mathijs Deen, geboren 1962 in Hengelo, ist ein niederländischer Schriftsteller und Radioproduzent. Er studierte niederländische Literatur in Groningen und arbeitete danach bei Radio Noord. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Kolumnen und einen Band mit Kurzgeschichten. 2018 erhielt er für die literarische Qualität seines Werks den Halewijnpreis. Zuletzt erschienen von ihm auf Deutsch Über alte Wege. Eine Reise durch die Geschichte Europas, der Roman Unter den Menschen sowie Der Holländer.

Mathijs Deen, geboren 1962 in Hengelo, ist ein niederländischer Schriftsteller und Radioproduzent. Er studierte niederländische Literatur in Groningen und arbeitete danach bei Radio Noord. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Kolumnen und einen Band mit Kurzgeschichten. 2018 erhielt er für die literarische Qualität seines Werks den Halewijnpreis. Zuletzt erschienen von ihm auf Deutsch Über alte Wege. Eine Reise durch die Geschichte Europas, der Roman Unter den Menschen sowie Der Holländer.

Berge sind wie Wellen, die Zeit im Überfluss haben. Sie kommen aus der Erde an die Oberfläche, erheben sich, erreichen ihre größte Höhe und sinken wieder zusammen, zurück in Richtung ihres Ursprungs. Ihre rollenden Steine sind wie Tropfen, ihre Lawinen wie Gischt.

Stellen wir uns vor, dass wir an der Küste stehen und die Zeit sich beschleunigt. Die Sonne zieht ihre Bahn wie eine Socke in einer schleudernden Wäschetrommel, schneller und schneller, bis keine Socke mehr zu sehen ist, sondern nur noch ein Strich, Tag und Nacht fließen zum Dämmer eines bewölkten Nachmittags zusammen, die Winde aus allen Richtungen gleichen sich gegenseitig aus, alle Wechsel von Wetter und Jahreszeit, Ereignisse, vor denen wir uns normalerweise zu schützen versuchen, fallen weg, und wir stehen in einer windstillen, lautlosen Welt, in der nicht das Meer, sondern die Erde selbst flüssig geworden zu sein scheint.

Wir blicken übers Meer, ein trüber Spiegel, der gedämpftes Licht zurückwirft. Woher dieses Licht kommt, ist nicht zu erkennen.

Ein Mann ist neben mir stehen geblieben. Er heißt Douwe van Hinsbergen und stammt wie ich aus dem Osten der Niederlande, genauer gesagt aus Eibergen, wo es, anders als der Ortsname vermuten lässt, gar keine Berge gibt. Er hat den Achterhoek verlassen, um wirkliche Berge zu finden, und ist schließlich Professor für Geologie an der Universität Utrecht geworden. Nun steht er neben mir, und wir blicken nach Süden. Jahrzehntausende fliegen vorüber, aber immer noch ist nichts zu erkennen.

»Das Mittelmeer ist ein Saustall«, erklärt er. »Man sieht es nur nicht, weil das Wasser es verdeckt. Aber unter dem Wasser ist alles krumm und schief und in Bewegung. Ein einziges Chaos.«

Für van Hinsbergen ist ein Meer nicht das Wasser, sondern die Erdkruste darunter. Europa hört nicht an einem Strand auf, sondern erstreckt sich als Meeresboden weit nach Süden, wohin ein losgelöster Brocken afrikanischer Kontinent wie ein vorauseilender Bote unterwegs ist. Es ist ein solides Stück kontinentale Kruste, das schließlich als Italien hartnäckig gegen Europa drücken wird. Doch jetzt ist es noch auf dem Weg, und Europa beugt sich hinab, um es zu empfangen. Sein steinerner Untergrund senkt sich, und so lässt es sich von dem Brocken langsam, Zentimeter für Zentimeter, besteigen. Unter seinem Gewicht sinkt es weiter ab, in die heiße Tiefe, die zähflüssigen Schichten des Erdmantels, wo es weich wird, sich biegt und dreht und windet. Und Italien drängt weiter, schiebt sich scheuernd voran und schabt von Europas gekrümmtem Rücken das Gestein der Haut, befördert es aufwärts und drückt es vor sich her.

Italien selbst bleibt vorerst noch unter Wasser, aber die abgeschabten Teile von Europas Haut, die es vor sich herschiebt, erheben sich aus dem Meer, erst als Inseln, dann allmählich als langgezogener Streifen Land, der zur Küste hingedrückt wird.

Douwe zeigt in Richtung Horizont, und tatsächlich ist an etlichen Stellen, sehr weit weg, etwas Dunkles über dem Wasser zu sehen, wie Anzeichen eines bevorstehenden Wetterumschwungs. »Das sind die Alpen«, sagt er, »sie sind noch niedrig, aber sie kommen.«

Der Boden unter unseren Füßen ist unruhig geworden, er schlägt langsam Wellen, und hier und da pflanzen sich in der Oberfläche Risse fort. Der Unterleib ganz Europas vibriert und öffnet sich für das Kommende.

Rechts von uns, am Horizont kaum noch erkennbar, werden die Gebirgszüge der Vogesen und des Schwarzwalds auseinandergerissen, und dazwischen öffnet sich ein Graben, der tiefer und tiefer wird, bis von den entblößten Bergwänden Lawinen von Staub und Gestein abgehen. An den Rändern des Grabenbruchs schießen Flammen aus der Erde, Vulkane erheben sich wie Maulwurfshügel, speien Feuer und erlöschen und sinken wieder in sich zusammen.

Unruhestifter sind sie, mit kurzer Lebensspanne.

»Aufpassen«, sagt van Hinsbergen. Ich blicke wieder nach Süden. Die dunklen Pünktchen über dem Wasser sind in den wenigen Minuten, in denen ich abgelenkt war, zu einer steinernen Flutwelle von über tausend Metern Höhe angewachsen, die von West bis Ost die Sicht auf den Horizont versperrt. Der Boden unter unseren Füßen wird zur Seite geschoben, mal nach links, mal nach rechts, und wo sich Risse gebildet hatten, steigen Felsen empor.

Es ist seltsam, dass alles still vor sich geht, abgesehen von einem tiefen Brummen aus dem Inneren der Erde, einem Tremor, den wir eher fühlen als hören. Das Meer zwischen uns und den vorrückenden Bergen ist schmal geworden, eine gewaltige Spannung baut sich im Untergrund auf, als hätte Italien es plötzlich eilig, während Europa sich ihm entgegenstemmt. Die Erde bebt, Gesteinslawinen stürzen ins Meer, steigen als kleine Inseln an die Oberfläche, und dann, als käme etwas zur Vollendung, ertönt ein Laut wie ein langer Seufzer aus den Tiefen der Erde. Danach tritt Entspannung ein.

»Europa hat sich losgerissen«, sagt van Hinsbergen. »Italien hat es so weit in die Tiefe gedrückt, dass dort der südlichste Teil der Platte abgebrochen ist. Jetzt kann es sich aufrichten, pass auf …«

Wir werden langsam angehoben, es ist, als würde Europa sich seufzend von der Last Italiens befreien und Zentimeter für Zentimeter hochstemmen. Was noch von dem Meer zu unseren Füßen übrig war, verschwindet, der Meeresboden steigt auf, langsam, wie ein Korken aus Sirup. Das Wasser läuft ab oder verdampft. Wir stehen nicht mehr an einer Küste, sondern am Fuß eines Gebirges.

Wir schauen daran hinauf, sehen die Felsen, die in der Tiefe gekocht, gequetscht, gefaltet anschließend nach oben gedrückt wurden, schief und krumm in den Himmel ragen.

»Ich hab’s ja gesagt«, brummt van Hinsbergen, »es ist ein Saustall.«

Über uns haben sich Wolken zusammengeballt, die auf dem Weg nach Süden von der neuen Barriere aus Stein aufgehalten werden. Die Welt ringsum ist kälter geworden, die Gipfel der Berge färben sich weiß, der Boden unter uns wird aufgeweicht. All das Wasser, das hier immer schon vom Himmel fiel, aber nach Süden ins Meer abfließen konnte, muss nun nach Norden ausweichen, sammelt sich erst in einem austrocknenden Binnenmeer, sucht dann einen Weg durch die Ebene zu einem Mündungsdelta.

~

Als die Alpen gegen Europa geschoben wurden, stürzten das Wasser und der Schutt von den nördlichen Hängen noch Millionen von Jahren in einen Meeresarm. Dessen Verbindung mit dem Ozean im Westen schloss sich, der Boden stieg langsam, aber sicher an, das Wasser wurde brackig, Inseln bildeten sich, schließlich blieben von dem Meeresarm am nördlichen Fuß der Alpen nur einige verstreute Seen übrig, verbunden von einem Fluss, der Donau.

Während der folgenden dreißig Millionen Jahre landete das Wasser des Alpenrheins in diesem Fluss, der es zum Schwarzen Meer mitnahm. Doch das Land blieb in Bewegung, und als neue Barrieren entstanden, trennte sich der Alpenrhein von der Donau und wandte sich nach einigem Suchen in westlicher Richtung der Rhone und dem Mittelmeer zu. Erst vor etwa drei bis zweieinhalb Millionen Jahren fand er seinen heutigen Weg nach Norden, wo zwischen dem Rheinischen Schiefergebirge und der Nordsee bereits ein Fluss verlief, der mehr oder weniger dem heutigen Mittel- und Unterlauf des Rheins entspricht: der Proto- oder Ur-Rhein. Dieser nur von Niederschlägen und Grundwasser gespeiste Fluss, begierig nach immer mehr Wasser, war schon seit einiger Zeit dabei, sein Einzugsgebiet nach Süden zu erweitern.

Niemand weiß, wann genau der Alpenrhein sich von der Rhone trennte und sein Wasser dem Ur-Rhein anvertraute. Eines Tages fand das Wasser aus den Alpen jedenfalls zum ersten Mal einen Weg nach Norden, mischte sich in das des Ur-Rheins und ließ ihn so anschwellen, dass er nicht wusste, wohin mit all dem Nass. Der Wasserstand unterhalb der Loreley nahm stetig zu, ebenso die Strömung; Sträucher wurden mitgerissen, von Kieseln bedeckte Inseln überflutet, Bäume, die schon seit Jahrhunderten auf Sandbänken wuchsen, entwurzelt und nach Norden getragen, wo der Rhein in den Niederungen zwischen den Bergen und dem Meer über die Ufer trat, Abkürzungen nahm, den Rurgraben durchströmte und sich, immer weiter von seinem zu eng gewordenen Bett entfernt, einen Weg zur Nordsee bahnte.

Mit doppelter Kraft drang das Wasser bis ins Delta vor. Hatte der milde Ur-Rhein so weit stromabwärts nur Tonpartikel mitgeführt und an seinen Ufern abgelegt, so transportierte der angeschwollene Rhein in den folgenden Jahrhunderten Millionen Kubikmeter gröberen Sand und Kiesel. In den tiefsten Schichten der Sand- und Tongruben des Rurgrabens, wo der Rhein früher verlief, sind die Spuren des plötzlichen Wechsels von Ton zu Sand noch deutlich zu erkennen. Auch die durch Bohrungen ermittelte Zusammensetzung der Mineralien in den alten Flusstälern lässt darauf schließen, dass Sand und Bruchstein aus den Alpen fast von einem auf den anderen Tag das Gebiet im Westen Nordrhein-Westfalens, im Südosten der Niederlande und im Nordosten Belgiens erreichten.

Als das geschah, stand Europa an der Schwelle zu einem Zeitalter, in dem sich Kaltzeiten mit wärmeren Phasen...

Erscheint lt. Verlag 31.3.2023
Übersetzer Andreas Ecke
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Deutschland
Reisen Reiseführer Europa
Schlagworte Bingen • Biographie eines Flusses • Fluss • flüsse in deutschland • flüsse in europa • Geschichte • Koblenz • Kultur • Kulturgeschichte • literarisch • Literatur • Literaturgeschichte • Loreley • Mittelrhein • Natur • Naturband • Nature writing • Naturführer • Naturgeschichte • Natursachbuch • Niederrhein • Oberrhein • Reise • Reisebericht • Reise Deutschland • Reiseführer • Rheinfall • Rhein-Romantik • Sachbuch • Vater Rhein
ISBN-10 3-95728-748-0 / 3957287480
ISBN-13 978-3-95728-748-9 / 9783957287489
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