Lesereise Irland -  Nicole Quint

Lesereise Irland (eBook)

Begrabt mich unter dem Pub

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
132 Seiten
Picus (Verlag)
978-3-7117-5489-9 (ISBN)
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Was hat eine irische Nonne mit Michelangelo gemein? Warum muss die Menschheitsgeschichte wegen eines Rentierknochens neu geschrieben werden, und wie können Wachtelkönige uns einen Weg zu mehr Nachhaltigkeit weisen? Die Antworten darauf findet Nicole Quint auf ihren Reisen kreuz und quer durch Irland. Unterwegs zwischen Dublin und Galway, Belfast und Baltimore genießt sie das Leuchtturmwärterdasein, trifft die Unsichtbaren der irischen Hauptstadt, bedauert die verpasste Karrierechance blau gelockter Hunde und erfährt, dass der heilige Patrick nun ganz offiziell weibliche Konkurrenz und die erste Quallenzüchterin der Welt endlich mehr Anerkennung bekommt. Am spannendsten aber wird es in Irland immer dort, wo es nicht dem Klischee der grünen Kelteninsel entspricht ...

Nicole Quint lebt meist auf Reisen und manchmal in Berlin. In Indien fand sie zu ihrem Beruf als Reisereporterin. Einige Jahre stand ihr Schreibtisch in Griechenland und ein Zweitbett in einem weißgetünchten Cottage in Irland. Heute berichtet sie von allen Ecken und Enden der Welt, findet die schönsten Geschichten aber immer noch in Hellas und auf der grünen Insel. Im Picus Verlag erschienen ihre Lesereisen Dublin, Irland, Westirland und Peloponnes.

Nicole Quint lebt meist auf Reisen und manchmal in Berlin. In Indien fand sie zu ihrem Beruf als Reisereporterin. Einige Jahre stand ihr Schreibtisch in Griechenland und ein Zweitbett in einem weißgetünchten Cottage in Irland. Heute berichtet sie von allen Ecken und Enden der Welt, findet die schönsten Geschichten aber immer noch in Hellas und auf der grünen Insel. Im Picus Verlag erschienen ihre Lesereisen Dublin, Irland, Westirland und Peloponnes.

Experten der Straße


Zu wahr, um schön zu sein?


Die Iren haben relativ wenig Illusionen über ihr Land, aber sie lieben es trotzdem.

FINTAN O’TOOLE

»The duty of the day is to get through the day«, erklärt Shane. Niemand von uns nickt, denn Shane meint keinen dieser Tage, den man schon beim Aufstehen gerne hinter sich hätte, samt der verflixten Matheprüfung, dem Vorstellungsgespräch oder der Wurzelbehandlung. Mit solchen Tagen haben wir alle schon Bekanntschaft gemacht. Shane spricht davon, dass er morgens nicht wusste, ob er am Abend wieder ein Bett haben würde, wo er Schutz vor Regen und Kälte finden könnte und wie lange er für sein Essen würde anstehen müssen. Sieben Jahre hat er auf Dublins Straßen gelebt und sich irgendwie durch den Tag gebracht, bis er nicht mehr darauf hoffte, jemals wieder einen Weg zurück in ein normales Leben zu finden. Heute lautet die Aufgabe seines Tages, uns durch Smithfield, sein altes Viertel, zu führen. Keiner kennt sich hier besser aus als er. Als echter Experte für urbanes Elend arbeitet Shane als Stadtführer für den gemeinnützigen Verein Secret Street Tours und zeigt uns auch Orte, die nicht im Reiseführer stehen. Shanes Smithfield ist nicht das der alten Jameson Whisky Distillery, der hippen Cafés, Hotels und Wellness-Salons, sondern das der Notschlafunterkünfte, der Beratungsstellen und der Suppenküchen, und genau dorthin führt er seine Gäste. Wir folgen, steif und förmlich wie ein Leichenzug. Ist das in Ordnung, was wir hier machen? Werden wir hier nicht zu Voyeuren in einer Schlüssellochshow? Komm Schatz, wir gehen Armut gucken, hat heute Morgen bestimmt keiner von uns gesagt, doch das Unbehagen am eigenen Handeln bleibt. Betretenes Schweigen, betroffene Blicke, doch Shane hat ein gutes Gespür für seine Gegenüber. Er begegnet unseren Bedenken mit einer eindrucksvollen Offenheit, die hilft, Berührungsängste abzubauen: »Mein Mietvertrag lief aus«, erzählt er. »Verlängert wurde er nicht, weil die Nichte meines Vermieters in Dublin studieren wollte und eine Wohnung brauchte.« Shane fand keine neue Bleibe. Seinen ganzen Besitz brachte er in einem Lagerhaus unter und ließ sich umgehend auf dem Amt als wohnungslos registrieren, sonst hätte er keinen Anspruch auf Unterstützung gehabt. Sein Freund Derek, der ebenfalls als Stadtführer bei Secret Street Tours arbeitet, konnte sich nicht sofort dazu durchringen, andere Menschen um Hilfe zu bitten. Nachdem er aus seinem Haus rausmusste, fuhr er mit gepackten Koffern zum Dubliner Flughafen. Unter den misstrauischen Augen der Sicherheitsleute spielte er drei Wochen lang die Rolle des Passagiers, der immer wieder sein Flugzeug verpasst hat. Seine Tagesaufgabe lautete, in der Menge der Reisenden unterzugehen und auf diese Weise unsichtbar zu werden. Jetzt kommen die Reisenden zu ihnen. Die meisten Teilnehmer von Shanes heutiger Stadtführung sind Touristen, einige andere studieren hier, nur einer ist selbst Dubliner und wohnt in einem der eleganteren Viertel auf der Südseite der Liffey, wo man über die vulgäre North Side die Nase rümpft und sie ansonsten ignoriert. Auch er ist also nur zu Besuch in Smithfield.

In den sechziger Jahren war der Stadtteil so abgewirtschaftet, dass er im Film »Der Spion, der aus der Kälte kam« das Nachkriegsberlin doubeln durfte. Saniert und aufgehübscht wurde hier erst während des Booms der Celtic-Tiger-Jahre, als viele schicke Wohn- und Geschäftshäuser am Smithfield Square entstanden. Die Dubliner Version der Piazza Navona in Rom sollte auf dem Platz entstehen. Ein gewagtes Vorhaben. Irlands Hauptstadt ist grau. Würde sie abends ausgehen, würde sie das kleine Graue zur backsteinroten Handtasche wählen. Durchaus ansehnlich, aber keine Sophia Loren. Wir stehen im Nieselregen unter den hohen, von markanten Metallsegeln geschmückten Laternenmasten und bilanzieren, dass die Vorstellung der Stadtplaner von italienischem Flair sich in ein paar Restaurants und Bars erschöpft. Das Temperamentvollste war wohl der traditionelle Pferdemarkt, der allsonntäglich abgehalten wurde, bevor Dublins Imagepfleger ihn von hier verdrängten. So entstand ein Viertel wie aus dem Versandhauskatalog, bei dem wichtige Teile nicht mitgeliefert wurden – Räume für Kultur und Begegnungen.

Wie in ganz Dublin kennen die Miet- und Kaufpreise aber selbst im tristen Smithfield seit mehreren Jahren nur einen Weg – den nach oben. Eine massive Gentrifizierung ist die Folge. Alteingesessene Bewohner werden durch wohlhabendere Bevölkerungsschichten verdrängt. Popsänger Rod Stewart leistete sich für ein paar Milliönchen ein Apartment in einer Dubliner Luxussiedlung, zu der auch private Kinos, Speisesäle und Wellness-Center gehören. Während er sich nach der Sauna unter der Schneedusche von rieselnden Flocken abkühlen lassen kann, geraten immer mehr Dubliner auf dem Glatteis des irischen Turbokapitalismus ins Schlingern und erleben, wie ihre alten, sicher geglaubten Strukturen einstürzen. Menschen wie Shane, der in seiner ersten Nacht als Obdachloser im Männerschlafsaal der Notunterkunft kein Auge zugetan hat. In die St. Bricin’s Barracks, eine ungenutzte Armeekaserne, hatten sie ihn gebracht. »An Schlaf war nicht zu denken, irgendwo wird immer gehustet, gestritten und geschnarcht. Dein Geld ist nicht sicher, und du selbst bist es auch nicht.« Seine Stimme bleibt fest, aber ein dichtes Flechtwerk an Falten legt sich an diesem Punkt seines Berichts über Shanes Gesicht. Vier Kategorien umfasst sein persönliches Klassifizierungssystem der Dubliner Notunterkünfte – die anständigen, die schlechten, die schrecklichen und »the last stop«. Das Oak House ist so eine Endstation. Dabei klingt long-term accommodation doch gut, ein Dauerwohnheim, das einem die Sorge nimmt, jeden Tag aufs Neue nach einem Asyl suchen zu müssen. Doch nur bestimmte Personen erfüllen die Kriterien, um in einer Langzeitunterkunft aufgenommen zu werden. »Menschen, die vor Suizid geschützt werden sollen oder davor, wieder straffällig zu werden. Menschen, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters, einer schweren Erkrankung oder einer Drogensucht besondere Hilfe benötigen.« Shane spricht leiser, als wir den roten Ziegelbau erreichen. Ein Mann wartet vor der Tür und wendet unserer Gruppe abrupt den Rücken zu. Da ist es wieder, das Gefühl, durch einen Sozialzoo geführt zu werden und Menschen durch unsere Neugier zu beschämen. Wurden Obdachlose wirklich so weit aus unserer Gesellschaft gedrängt, dass wir jetzt zu ihnen geführt werden müssen? Wären wir nicht alle zu Routiniers des Wegschauens und der Achtlosigkeit geworden, bräuchte es die Secret Street Tours nicht, aber der Anblick von Armut hat sich abgenutzt. Ich hätte mich jedenfalls nicht spontan zu Shane auf den blanken Beton gesetzt, um ihn zu fragen, wie das denn so ist, das Leben auf der Straße. Das zeigt er uns nun in seinem »Schlafzimmer«, dem Croppies Acre, einer Parkanlage ganz in der Nähe des Oak House, wo er sein Nachtlager unter einem der Bäume aufschlug, um nicht in die Endstation zu müssen. »Als ich hier schlief, wusste ich nichts von der Rebellion 1798. Da hatte ich genug mit meiner eigenen Rebellion zu tun.« Inzwischen kann er uns als Stadtführungsprofi erzählen, dass Croppies Acre eine Gedenk- und Grabstätte ist, die an die Opfer des Aufruhrs gegen die britischen Besatzer erinnern soll. Die Aufständischen, wegen ihrer kurz geschorenen Haare Croppies genannt, wurden angeblich hier hingerichtet und in einem Massengrab verscharrt. Shane verbindet in seiner Erzählung die Historie Dublins geschickt mit der Geschichte seines Lebens und offenbart so die zwei Ebenen, auf denen alle Reiseziele funktionieren – in der Fantasie der Touristen und in der Realität der Einwohner. Die einen sehen das Rot der Backsteinhäuser, die unglaubliche Bläue der Irischen See und den Glanz, den das britische Empire als architektonisches Erbe hinterlassen hat. Die anderen deponieren ihre Betten aus Pappe tagsüber unter Sträuchern, haben ihre letzte Habe in Plastiktüten gestopft und warten in Hauseingängen auf das Vorübergehen des Tages.

Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 waren Szenarien der Verwahrlosung und des Absturzes auch mitten im Zentrum von Dublin nicht mehr zu übersehen. Echte Not befleckte plötzlich das Bild von der modernen Metropole, und wir, die Touristen, sind ein Teil dieses Problems. Sechsunddreißigtausend Wohnungen stehen in Dublin leer, darin eingeschlossen Ferienunterkünfte. Allein die mehr als viertausend Airbnb-Apartments würden genügen, um die meisten Obdachlosen der Stadt unterzubringen. Viele Vermieter ziehen jedoch gut zahlende Urlaubsgäste vor. Angenehm für uns, für wohnungslose Menschen eine Katastrophe. Im November 2021 hatten viertausendzweihundertzwanzig Erwachsene in Dublin kein eigenes Zuhause, darunter tausendachthundertvierundsechzig Kinder. Von...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2023
Reihe/Serie Picus Lesereisen
Picus Lesereisen
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Europa
Reisen Reiseführer Europa
Schlagworte Belfast • Burren • Donegal • Dublin • Dursey • Guinness • Hurling • IRA • Kelten • Kerry • Kerry Blue • Kilkenny • Liffey • Michael Collins • Regen • Scones • Troubles • Valentia Island • Yeats
ISBN-10 3-7117-5489-9 / 3711754899
ISBN-13 978-3-7117-5489-9 / 9783711754899
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