Mein Bornholm (eBook)

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2022 | 1. Auflage
176 Seiten
mareverlag
978-3-86648-813-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mein Bornholm -  Birk Meinhardt
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Im Sommer nach der Wende führt ein Zufall Birk Meinhardt auf die dänische Sonneninsel Bornholm, wo die Einheimischen ihn mit Lichthupe begrüßen und seine Kinder runde Heuballen erklimmen und sich den feinen Sand des Südstrandes durch die Finger rieseln lassen. Aber das Meer ist nicht anders als vor Rügen. Erst Jahre später kehrt Meinhardt zurück. Immer intensiver erschließt er sich die Insel, und spätestens, seit er die Landschaft entlang stillgelegter Gleise auf dem Rennrad durchfährt und sich auf die Bornholmer Spuren Hans Henny Jahnns begibt, der hier an seinem Hauptwerk schrieb, fühlt er sich ihr dauerhaft verbunden. Lesend und schreibend taucht er immer tiefer in ihre (Kultur-)Geschichte ein - bis Bornholm beginnt, auch sein eigenes Leben und Schaffen zu prägen.

Birk Meinhardt, geboren 1959 in Ostberlin, war zunächst Sportjournalist und von 1996 bis 2012 Reporter für die Seite 3 der Süddeutschen Zeitung. Er gewann zweimal den Kisch-Preis. Seit mehreren Jahren arbeitet er als Schriftsteller; zuletzt erschien sein zweibändiger Roman Brüder und Schwestern. Birk Meinhardt lebt am Rande Berlins.

Birk Meinhardt, geboren 1959 in Ostberlin, war zunächst Sportjournalist und von 1996 bis 2012 Reporter für die Seite 3 der Süddeutschen Zeitung. Er gewann zweimal den Kisch-Preis. Seit mehreren Jahren arbeitet er als Schriftsteller; zuletzt erschien sein zweibändiger Roman Brüder und Schwestern. Birk Meinhardt lebt am Rande Berlins.

Die Unbedarftheit der Neulinge


Ein Wirt weist den Weg. Eine Lichthupe wird erwidert. Ein Hamburger guckt ablehnend.

Hatte Vitt dreizehn Häuser, oder vierzehn, oder fünfzehn? Jedenfalls war – und ist es – ein kleines Dorf. Es ist das nördlichste Ostdeutschlands, wir machten dort mehrmals Urlaub in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre, aber was heißt, wir machten: Wir durften dort Urlaub machen, in dieser stillen Idylle nahe bei Kap Arkona, in einer Remise, die aus heutiger Sicht eine elende Kammer war und damals der Inbegriff des Glücks: Mensch, Vitt! Dort konnte man allein sein am Strand. Dort dudelte kein Kofferradio. Dort baute man aus Ästen und Bettlaken ein Zelt und legte die Kinder mittags zum Schlafen hinein, freilich galt es, vorher die dicken schweren Steine wegzuräumen. Mensch, Vitt, der Strand war voller buckliger Steine, und das Wasser war arschkalt, denn es war erst Mitte Juni, später war die Buchte, war das Schloss nicht mehr frei.

Übrigens begriffen wir gar nicht, dass Mittsommer war. Heute sitzen wir in der Zeit bis spät in die Nacht daheim im Garten und erfreuen uns daran, wie zögerlich und unvollständig es dunkel wird, wie der Himmel uns eine Ahnung von Silber hinterlässt. Im Winter wiederum sitzen wir drinnen und brummen, vier erst, und schon finster; wir unterscheiden die Jahreszeiten bis ins Detail, haben eine Aufmerksamkeit dafür entwickelt, wie sie unser Leben beeinflussen, damals waren wir ohne dieses Achtsame, weil wir nur so durch die Jahreszeiten flogen.

In Vitt saßen wir abends in der Kneipe, denn lesen konnte man nicht in der Unterkunft, dem Sohn hatten wir gesagt, wenn was ist mit dir oder deiner kleinen Schwester, kommst du rüber und holst uns. Das nutzte er ausgiebig. Er saß dann immer eine Weile auf meinem Schoß oder auf dem meiner Frau und gluckste, noch ein Bier, noch ein Bier. Und er lauschte, was geredet wurde. Einmal erzählte die Wirtin, wie und wohin ihr Mann abgehauen war, weniger von ihr als aus dem Staat, aber letztlich schon auch von ihr, bei Nacht mit dem Holzboot nach Bornholm, meine Frau und ich hatten keinen Begriff von der Entfernung. Hatten Bornholm beim Einschlafen schon wieder vergessen, nur dass der Wirt, der egoistische, ja wohl seine Frau im Stich gelassen hatte, das versicherten wir uns noch.

Und wir schliefen, schliefen fest, als die Mauer fiel, zuerst am Übergang Bornholmer Straße. Dort drängten sich die Massen, und wir draußen in Köpenick schliefen, wie die Mehrzahl der Bürger, wie die viel größere Masse, die schlicht nichts mitbekommen hatte. Was sie in den Jahren danach lieber nicht zugab, denn in den Medien kamen einzig und allein die zu Wort, die auf den Beinen gewesen waren; was war man denn für ein Mensch, wenn man nicht zu ihnen, zu den Allgegenwärtigen gehörte, was war man denn für eine Schnarchnase? Am Morgen wussten es natürlich alle. Nur wir waren immer noch ohne Ahnung. Wir wunderten uns bloß, dass die Handwerker nicht kamen. Endlich, nach Jahren, sanierten sie in unserem Mietshaus die Rohre, die Wasser- und Fäkalienleitungen zerbröselten ja auch schon, seit einer Woche hatten wir kein Wasser, ein gutes Zeichen fürs rechtschaffene Arbeiten der Handwerker, aber heute erschienen sie nicht, was zum Teufel war los? Ich ging in den Bauwagen vorm Haus. Darin saß einsam und verlassen der Meister. Ich stellte ihm meine Frage, da lachte er auf: Seien Sie froh, dass wenigstens ich hier bin. Er berichtete mir, was geschehen war, und ich ging beunruhigt zurück ins Haus: Wer wusste denn, wann seine Leute wiederkämen, und ob überhaupt? Das war mein Gedanke in jenen Minuten. Meine Wahrheit, die dann wie ein kleiner Kiesel mitgespült wurde im großen geschichtlichen Fluss, nur im Tauchgang des Schreibens kann ich ihn fassen und hochzeigen, hier, hier ist er, nichts da mit Bornholmer Straße, mit jubelndem Aufbruch, Wasser soll endlich wieder fließen durch die verdammten Rohre in der alten Wohnung, Wasser!

Im Mai darauf bekamen wir einen Brief von den Besitzern des Grundstücks, auf dem die Remise stand. Es waren nette Leute, konsequentere als wir, Aussteiger aus dem Vogtland, die ihre Jobs und mit ihnen jede Menge Regeln und Einschränkungen aufgegeben und dort oben in der Abgeschiedenheit von Vitt eine ziemliche Unabhängigkeit erlangt hatten. Sie schrieben, ihr Lieben, sind neue Zeiten nun, wissen nicht, was sie bringen, seid nicht sauer, aber müssen euch absagen für dieses Jahr. Mit anderen Worten: Sie hofften auf Westgäste. Wir nahmen es zur Kenntnis. Passierte schließlich jeden Tag Neues und Gravierenderes. Irgendwann würde Sommer sein, und wir würden irgendwohin fahren, und bis dahin würden wir arbeiten, denn was gab es Schöneres, als jetzt zu arbeiten; ich war Journalist damals, ich schrieb über Sport, nun auch ohne Einschränkungen. So verstrich ein Großteil des Sommers, so jagte ich durch ihn hindurch, die Tage wurden schon erkennbar kürzer, darum nun mal Butter bei die Fische, wohin?

Einfacher, geradezu trivialer Zusammenschluss der Synapsen: Vitt, der Wirt, sein ungeheures Wagnis, sein erreichtes Ziel, das für uns nicht mehr als ein Name war, Bornholm. Fahren wir nach dort.

Ein flüchtiger Blick auf die Landkarte auch bloß, kein Erkennen der Rautenform, des Parallelogramms, nur ein Feststellen, wo das eigentlich lag, aha, knapp unterhalb von Schweden und weit oberhalb von Polen – und es war dänisch? Dänisch, so stand es aufgedruckt, wobei ich gerade etwas merke: Ich könnte schon gewusst haben, wozu es gehörte, ganz so unbedarft war ich, waren wir, nun auch nicht, ich muss ein bisschen achtgeben beim Schreiben, bestimmte frühere Stimmungen und Eigenschaften, nur weil es jetzt so schön passt, nicht noch anzureichern, dänische Insel also, ich hab es gewusst wahrscheinlich. Sicher. Absolut. Ich bin doch nicht blöd.

Längst weiß ich, die Insel war einmal schwedisch, ich kenne herrliche blutige Geschichten aus jener Zeit, herrliche, weil es schon so lange her ist: Lass eine schaurige Begebenheit nur weit genug in der Vergangenheit liegen, und sie wird zu einem Märchen. Eines mag ich erzählen. Das vom letzten Tag der Schweden auf Bornholm, beziehungsweise von der letzten Nacht, der vom 8. auf den 9. Dezember 1658. Sie waren 1500 Mann. Ihr Befehlshaber hieß Prinzenskjöld, Skjold ist der Schild übrigens, der Name war ihm aufgrund seiner Unerschrockenheit und seiner mächtigen Statur vom König Karl Gustav verliehen worden. Und Prinzenskjöld zeigte sich, seinem Rufe gemäß, auch auf der Insel als rau, streng und unerbittlich. Er trieb die waffenfähigen Einheimischen in Schwedens Flotte und setzte alles daran, hohe Steuern zu erpressen, obwohl Bornholm gerade von einer Pest heimgesucht worden war und die meisten Höfe darniederlagen. Weder konnten noch wollten die Bauern zahlen. Einer nach dem anderen weigerte sich. Da ergriff Prinzenskjöld, welcher in seiner Jugend ein schlichter Reiter im Heer gewesen war, die Wut, und er beging einen Fehler: Um die Steuern einzutreiben, schickte er tausend seiner Männer von der Festung Hammershus auf die verstreut liegenden Höfe. In kleinen Trupps verlangten sie Quartier. Tagsüber pfändeten sie, was ihnen unter die Hände kam, nachts betranken sie sich fürchterlich, und darauf nun, auf Vereinzelung und Versoffenheit, bauten die Bornholmer ihren Plan, sie warteten nur auf den rechten Zeitpunkt. Dieser war gekommen, als Prinzenskjöld, begleitet lediglich von seinem Sekretär sowie zwei Reitknechten, beim Bürgermeister von Rønne erschien. Er nahm Platz an einem großen Tisch, dessen steinerne Platte auf mächtigen Eichenholzfüßen ruhte. Gerade beschwerte er sich über den Starrsinn der Bürger, als zwölf von ihnen, bis an die Zähne bewaffnet, in den Saal traten. Der Bürgermeister erklärte, kein Bürger und kein Bauer werde mehr zahlen. Prinzenskjöld stieß Flüche und Drohungen aus, da stürzte einer seiner Knechte herein und meldete, auch draußen würden sich Männer zusammenrotten. Prinzenskjöld, nun endlich seiner bedrohlichen Lage gewahr, sprang auf, stieß mit seiner fast unmenschlichen Kraft den Tisch gegen die Verschwörer, sprang aus dem Haus und eilte zum Stall, wo er sein Pferd wusste. Indes, der Stall war verriegelt. Das Pferd schlug gegen die Tür, drängte zu seinem Herrn, dieser aber hatte schon zwei Wachen niedergestreckt und die Straße gewonnen. Dort blieb er nicht lange unerkannt. Man feuerte auf ihn, vergeblich, der Prinz mit dem Schild schien unverwundbar. Plötzlich rief ein Bürger aus einem Fenster heraus: Gegen Blei ist er sicher, mit Silber muss er geschossen werden! Schon riss sich der wackere Mann die schweren Silberknöpfe von seiner Festjacke und lud damit seine Büchse, er zielte auf den Statthalter – und dieser sank, tödlich getroffen, zu Boden. Auch seine Begleiter wurden ermordet. Sodann ritten Boten über die gesamte Insel und verbreiteten die Weisung, niemand möge zögern mit dem Schweineschlachten, fürwahr, so lautete das Wort. Um Mitternacht begann das Blutbad, untermalt und übertönt vom Geläut der Glocken, denn nicht Bauern waren Urheber des Planes und Anführer des Aufstandes, sondern Geistliche. In...

Erscheint lt. Verlag 26.7.2022
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte
Reisen Reiseführer Europa
Schlagworte Bornholm • Dänemark • Hans Henny Jahnn • Meine Insel • Reisebericht • Reiseliteratur • Reporter
ISBN-10 3-86648-813-0 / 3866488130
ISBN-13 978-3-86648-813-7 / 9783866488137
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