Nordkap (eBook)
1986 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7562-0685-8 (ISBN)
Lars Osterland (*1984 in Leipzig) schreibt, weil er nicht ohne kann. Und auch ohne Leserschaft lässt er sich nicht beirren, denn Schreiben ist viel mehr als gelesen werden zu wollen. Schreiben ist Therapie. Lars Osterland wurde vor allem auf Reisen zum Schreiben inspiriert. 2007 erschien "Die Ratten von Serekunda" im Asaro-Verlag, geschrieben in einsamen Nächten auf dem Gambia-Strom. 2012 machte er sich zu Fuß auf den Weg von Spanien zum Nordkap und veröffentlichte den abschließenden 3. Teil über diese Reise zu Ostern 2022.
1. Barcelona – Valencia
Sagrada Família . Der Ausgangspunkt meiner Wanderung, alles steht noch auf null, die gelaufenen Kilometer, die Erfahrungen, die Erinnerungen, ja sogar die Perspektiven und auch meine Stimmung ist am absoluten Nullpunkt ... der Vorteil daran: tiefer geht es nicht, es kann nur besser werden und dessen bin ich mir auch vollkommen bewusst, daraus ziehe ich meine Motivation, um meine Wanderung hier und jetzt zu beginnen. Das Ziel ist klar, das Nordkap, auch weitestgehend die Route dorthin, nur denke ich nicht ans Nordkap, an Norwegen, an die deutsche Nordseeküste, an Paris, an die Algarve ... das Nordkap, ja das soll es sein, aber bis dahin werde ich Zwischenziele haben, die mir selbst als gar nicht mal so unrealistisch erscheinen ... am Anfang das Mittelmeer, Valencia und Andalusien ... Gibraltar dagegen scheint schon absolut utopisch ... ich in Gibraltar? Unvorstellbar ... von Gibraltar war zuletzt im Geografie-Unterricht vor 15 Jahren die Rede und damals schien mir Gibraltar am Ende der Welt zu liegen ... also: von Gibraltar, Atlantik und Sevilla träumen, durchaus, aber dorthin zu laufen scheint eigentlich unmöglich ... von Lissabon und Paris wage ich noch nicht einmal zu träumen ... und das Nordkap erst, das scheint wie eine Fabel, die mich jetzt gerade nicht einmal interessiert, da viel zu weit von der Wirklichkeit entfernt ...
Sagrada Família , Barcelona und das Mittelmeer sind schon mal da, das sind die Fakten und diese klingen schon mal gar nicht so übel, schließlich war auch Barcelona noch wenige Stunden zuvor ein riesengroßes Geheimnis, schien mir selbst auf der Fahrt hierher noch völlig irreal, nicht mehr als ein fauler Zauber, aber nun sitze ich tatsächlich hier, auf dem Plaça de Gaudí , keine hundert Meter von der berühmten Basilika entfernt, umgeben von dichter Vegetation, und irgendwie wird mir allmählich klar: die Reise hat bereits begonnen. Angst vor dem Ungewissen, na klar, aber auch Neugierde: Was passiert in der nächsten Stunde, was heute Nacht, was morgen und übermorgen, und wie weit werde ich kommen, 50 Kilometer, 100 Kilometer, vielleicht auch mehr, vielleicht auch viel mehr? Da ich keinen blassen Schimmer habe, was passieren wird (endlich!), ist das alles ungemein aufregend.
Auf einer Parkbank, halb zwei nachmittags an einem Donnerstag, es ist der 2. Februar 2012, und ich schlage erstmals mein Tagebuch auf ... darin steht noch kein Wort geschrieben, ja alles steht noch auf null ... aber eine Minute später steht der erste Satz kleingeschrieben inmitten kleiner, karierter Kästchen: Die Ostasiaten kommen und versammeln sich um mich herum ... Jeder hat seinen eigenen Fotoapparat dabei und lässt sich mit der Sagrada im Hintergrund ablichten; alles läuft also noch in ganz gewohnten Bahnen ab, vorm Dresdner Zwinger geht es kein bisschen anders zu. Und auch ich habe viele Fotos von Gaudis Lebenswerk geknipst. Dabei empfinde ich den Anblick als gar nicht so beeindruckend, die vielen Baukräne, Gerüste, aber auch Touristen stören da irgendwie; auf Postkarten und Fotografien sieht das immer ganz anders aus, durch Retusche wird man doch so manches Mal gelinkt ...
Meine Wanderung beginnt also mit einer langen Pause. Hier in diesem kleinen Park finde ich endlich die Muße über die 54stündige Anreise zu berichten, um den ersten Eintrag in mein Tagebuch zu meißeln. Nebenbei gibt es Musik vom uralten MP3-Player und auch ein Bierchen, das ich von Zuhause mitgeschleppt habe ... zwischen Basilika und mir befindet sich ein kreisförmiger, seichter Teich, Tauben schmarotzen und ich sinniere darüber, ob ich jemals ihren Grad an Perfektion im Betteln erreichen werde, ich bezweifle es. Here I am heißt es in einem Song, das passt ganz gut. Ich ziehe mir eine Zigarette aus der Schachtel, rauche und starre auf die „Geburtsfassade“ der Basilika, eine erste kleine Träumerei, ein erstes Innehalten, eine erste stille Freude, ein erstes Gefühl endlich „wieder“ zu leben.
Am letzten Januartag klingelte halb sieben der Wecker ... seit Wochen endlich mal keine Zeit um gleich als Erstes an sie zu denken ... Gut eine Stunde später schnallte ich meinen Rucksack auf, 25 Kilogramm Gewicht, davon ein Drittel Proviant. Ausgerechnet am Tag zuvor kam noch ein Paket aus Leipzig mit leckerem Essen und Naschkram, meine Mama wollte mir eine Freude bereiten, und dies gelang auch ... Ohne dass sie von meinen Reiseplänen wusste, packte ich alles aus dem Paket in meinen Rucksack, ich hatte nichts zu verschenken, jetzt schon gar nicht mehr, und so war verpflegungstechnisch ein guter Start meiner Wanderung gewährleistet. Auch in meiner Bautzener WG sagte ich niemandem Bescheid, versuchte sogar unauffällig Haus und Gelände zu verlassen ... denn der große Rucksack wäre schon sehr auffällig und merkwürdig zugleich erschienen, und bloß keine unangenehmen Fragen zum Aufbruch! Aber niemand sprach mich an. Als ich um die Ecke war, atmete ich erleichtert auf und lief die zwei Kilometer zum Bahnhof. Ein blauer, wolkenloser Himmel zum Morgen, die Sonne ging gerade auf, so richtig aufheitern konnte mich das aber nicht. Der Zug kam 8.24 Uhr ... ein „Guten Morgen ... Dankeschön“ zum Schaffner, meine ersten Worte auf dieser Reise ... am Stadtwald von Bischofswerda vorbei, ich konnte nicht erkennen ob unser Schneemann noch dort stand ... beim Einfahren in den Bahnhof ein Blick 500 Meter weit zu ihrem Kindergarten, wo sie zu diesem Zeitpunkt gefrühstückt haben wird ... ein Stich in mein Herz ... der Zug verweilte in Bischofswerda zwei bis drei Minuten, Zeit genug um mich von fünf Jahren meines Lebens zu verabschieden ... die Augen drohten nass zu werden, ich sagte zu mir: Reiß dich zusammen, keine Tränen, mach weiter ... Bahnhof Arnsdorf, wo ich in drei Wochen in der Psychiatrie hätte arbeiten sollen: Hätte man mich lieber dort eingewiesen und nie mehr herausgelassen ... 9.13 Uhr in Dresden-Neustadt ausgestiegen, als ein über zwei Meter großer Mann, denn Rucksack und Schlafsack machten mich zwei Köpfe größer ... Auf dem Parkplatz vor der Bahnhofshalle nach einem roten T3-Bus mit SPN-Kennzeichen Ausschau gehalten, aber nichts zu sehen, also wartete ich auf einer Bank, bis 10 Uhr, für diesen Zeitpunkt war die Abfahrt vorgesehen ... Ich blieb ruhig, die Entscheidung, Reise oder nicht, lag nun nicht mehr in meinen Händen. Wäre meine Mitfahrgelegenheit nicht gekommen, wäre ich umgekehrt und hätte in Reue meine Tochter wieder in die Arme schließen können. Als kurz nach zehn immer noch kein alter VW-Bus auftauchte, ging ich zum Münztelefon, rief an ... Karl ging ans Telefon ... „hier ist Lars“ ... „Lars?“ ... „Klappt das heute?“ ... „Ja, wir kommen“ ... anschließend noch mit dem Münztelefon herumgestritten, da ich 1,70 Euro hätte zurückbekommen müssen, ich gab es aber schließlich auf und war um eine Erkenntnis schon mal reicher: Handys sind eben doch alles! In dem Moment, wo ich kapitulierte, stand der VW-Bus direkt hinter mir. Hände geschüttelt und außer mir nutzte noch eine junge Frau die Mitfahrgelegenheit ... Ich lächelte in mich hinein, meine erste Mitfahrgelegenheit im Leben und dann auf der Rückbank von einem alten T3, das gefiel mir ... Vorn saßen Karl und Tilo, die Frau, deren Namen in dem Moment wo sie ihn mitgeteilt hatte mir bereits wieder entfallen war, saß links neben mir ... Das Fenster rechts von mir war undicht, die meiste Zeit fror ich, mir schlotterten die Knie und ich hatte eiskalte Füße ... ich sah darin eine gute Eingewöhnung für das Kommende. Karl und Tilo kannten sich bereits seit Jahren, plauderten die ganze Zeit miteinander, wobei man zwei Meter dahinter durch die enorme Motorlautstärke nichts davon verstand, vielleicht auch der Grund warum wir zwei im hinteren Teil des Busses nicht ins Gespräch mit einbezogen worden. Wir gerieten auf der Autobahn in eine Polizeikontrolle und wenig später durften wir weiter. Mit der Frau wechselte ich kurz ein paar Worte, danach liefen die Stunden schweigend dahin, was mir ganz Recht war, zumal ich zu sehr in Gedanken versunken war. Auf der Fahrt kamen mir jede Menge Zweifel, gepaart mit Ängsten. Ich dachte an die beiden, immer wieder. Dachte dann auch an Stefanie, die einzige „Freundin“ in meinem Leben, der einzige Mensch der von meinen Plänen wusste und vielleicht auch der einzige Mensch, der - von Familie mal abgesehen - hin und wieder an mich denken wird, das wärmte irgendwie, lenkte etwas von meiner unglaublich schweren Melancholie ab. Als dann ab 17 Uhr die Abenddämmerung einsetzte, traf mich ein Gefühl von Reue; mit der Reue mache ich ohnehin meist nur auf Reisen Bekanntschaft. Hätte ich nicht weiter für sie da sein müssen? Aber nun war es zu spät, immer weiter entfernte ich mich von ihr, wenn auch nicht in meinem Herzen. Geld für eine Rückfahrt war nicht vorhanden. Ich schuf bewusst Tatsachen, nun musste ich sie auch akzeptieren.
Als Tilo fuhr, schlug er mit zwei Schlagzeugstöcken nebenbei den Takt ... die beiden wechselten sich aller 400 bis 500 Kilometer mit der Fahrerei ab. Nebenbei lief laute Musik aus dem Metal-Genre … kannte nichts davon, hörte sich aber gar nicht so übel an. Kurz vor 19 Uhr setzten wir die Frau in Freiburg ab, wenig später waren wir am Rhein und ich zum ersten Mal in meinem Leben in Frankreich. Bei Lyon verließen wir die Autobahn, um auf Landstraßen entlang der Rhone weiterzufahren und nach 30 bis 40 Kilometern kurz hinter der Kleinstadt Vienne den Bus auf einem großen Parkplatz abzustellen ... eine Arschkälte ... nun wo der Motor schwieg und Tilo und Karl zu mir nach hinten kamen, konnte ich sie auch ein wenig kennenlernen ... auf dem Herd wurde Tee gekocht,...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2022 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte ► Europa |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Schlagworte | Arktis • Jakobsweg • Kystriksveien • Olavsweg • Pilgern • Wandern |
ISBN-10 | 3-7562-0685-8 / 3756206858 |
ISBN-13 | 978-3-7562-0685-8 / 9783756206858 |
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