Nachruf auf die Arktis (eBook)

Noch können wir die Welt retten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
496 Seiten
btb Verlag
978-3-641-28263-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Nachruf auf die Arktis - Birgit Lutz
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Birgit Lutz, Journalistin und Arktis-Expertin, bereiten seit einigen Jahren die sichtbaren Veränderungen, die die Erderwärmung besonders in der Arktis verursacht, zunehmend Sorge. Sie nimmt uns deswegen mit auf eine besondere Reise: Wir umrunden mit ihr die Inselgruppe Spitzbergen, wandern über Gletscher und besuchen Orte abseits der Touristenrouten. Birgit Lutz zeigt uns den Wandel, der teilweise bereits innerhalb weniger Monate gravierend voranschreitet. Sie spricht mit Menschen, die direkt davon betroffen sind, und trifft namhafte Wissenschaftler wie Klimaforscher Stefan Rahmstorf oder Ökonomin Claudia Kemfert, die ihre Beobachtungen kenntnisreich einordnen. Auch ethischen und psychologischen Aspekten des Klimawandels gibt Birgit Lutz viel Raum. Denn zuletzt stehen bei ihr nicht Betroffenheit und Ohnmacht im Fokus, sondern der Aufruf, jetzt mutig neu zu denken und zu handeln. Wir alle können das Ruder noch herumreißen, um diese einzigartige Region und die Bewohnbarkeit unseres Planeten in seiner Vielfalt zu erhalten und zu schützen.

Birgit Lutz, Jahrgang 1974, ist auf Skiern von der russischen Eisstation Barneo zum Nordpol marschiert und hat Grönland durchquert. Nach einer Reise zum Nordpol im August 2007 spezialisierte sich die Journalistin auf die Arktis. Als Expeditionsleiterin hält sie an Bord von Schiffen Vorträge über das gefährdete Ökosystem und ist auch an Land eine gefragte Vortragsrednerin. Für das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung arbeitet sie an einem Plastik- Projekt. Ihre unter anderem in der Süddeutschen Zeitung oder dem Magazin des Schweizer Tagesspiegels erschienenen Reportagen wurden mehrfach ausgezeichnet. Für »Heute gehen wir Wale fangen« verbrachte sie drei Monate in Ostgrönland. In ihrem neuen Buch »Nachruf auf die Arktis« rekapituliert sie eine Reise nach Spitzbergen und geht mit Experten den Ursachen und Folgen des Klimawandels auf den Grund. Birgit Lutz lebt am Schliersee.

Natur ist


In der Nacht sollten wir an der Ostküste Spitzbergens die Höhe des Hornsunds passieren. Dieser Sund, flankiert von hohen Bergen, wird oft zu einem Windkanal, gewaltige Windgeschwindigkeiten entstehen hier, in die eine oder andere Richtung. Wir wussten vorher, dass das in dieser Nacht auch so kommen konnte. Deswegen wollte Steuermann Moritz rechtzeitig die Segel abnehmen, bevor wir diese Stelle erreichten. Aber der Wind war schneller. Waren wir eben noch sanft gen Süden gesegelt, traf uns der Wind nun mit voller Wucht von der Seite, die SV Antigua, unser wunderbarer Dreimaster, legte sich auf die Seite und stieß ihren Bug in tiefe Wellentäler. Moritz kam ins Vorschiff gesprungen, wo wir schliefen, und schrie: Die Schot ist gebrochen! Und Maarten war so schnell in seiner Hose und aus der Kabine, wie das nur Segler können.

Wir bekamen eine kurze Verschnaufpause, als wir erneut den Schutz der Berge Südspitzbergens erreichten. Dann mussten wir um das Südkap herum, gegen den Wind. Das Vorschiff der Antigua verschwand während dieser Wende einige Male gänzlich im Wasser, der Klüverbaum bohrte sich in das Meer, wie man es aus Piratenfilmen kennt, Wellen überspülten das Mitteldeck, der Bug bewegte sich drei bis vier Meter nach oben, um dann sieben bis acht Meter nach unten zu sinken, es wäre ein prima Weltraumtraining gewesen, immer wieder schwerelos.

Wir hatten vorher gewusst, dass es so werden würde. Ungemütlich. Machbar. Hinterher verstanden unsere Passagiere, warum wir immer so lange über den Windkarten brüteten, warum wir diesen Tag gewählt hatten für die Umrundung des Südkaps und nicht, wie im ursprünglichen Plan, noch einen Tag später, an dem der Wind noch stärker gewesen wäre. Wir kannten die Grenzen, die der Gäste, die der Crew, die des Schiffs, und wir achteten sie. Wir wussten, dass sich der Wind nicht scherte um unsere Pläne. Wir mussten uns um den Wind scheren.

Das leise »Pling« holte mich aus dem Schlaf. Nach zehn Tagen auf dem Inlandeis hatte mein System gelernt, dass ein metallisches Geräusch nicht dazugehörte, zum normalen Soundtrack einer Grönland-Durchquerung. »Pling« bedeutete, dass die doppelten Zeltstangen gebrochen waren. Weil das Zelt quer zum Wind stand; wir hatten es entweder schlecht aufgestellt, oder der Wind hatte sich gedreht. Eine Windmauer hatten wir nicht gebaut, weil wir zu müde gewesen waren. Wir hatten nicht aufgepasst, und der Wind hatte die Lücke gefunden, die wir ihm gelassen hatten. Es wurde eine der schlimmsten Nächte meines Lebens; zum ersten Mal verspürte ich die reale Gefahr, dass es nun vorbei sein könnte, dass wir alle sterben konnten, mit jeder neuen Böe, die sich wie ein wilder Hund gegen die Zeltwand warf. Nie empfand ich die menschliche Ohnmacht größer, den Menschen kleiner und lächerlicher als in jenen Stunden. Weil der Wind nicht noch stärker wurde, weil wir Glück hatten und das Zelt ganz blieb, ist in dieser Nacht nichts und doch so viel passiert.

In Spitzbergen saßen wir einmal am Strand und überlegten: Können wir das machen? Können wir hundert Gäste hier an Land bringen, in einem immer stärker werdenden Wind? Hundert Gäste, die unruhig waren, seit Tagen war das Wetter schlecht, es wurde Zeit, dass sie mal von Bord kamen. Weiße Schaumkronen tanzten auf den Wellen, wir beobachteten die Brandung. Können wir das machen? Ein guter Expeditionsleiter setzt sich feste Grenzen, es ist wichtig, sie vorher festzulegen, und noch wichtiger ist es, sie zu achten, wenn man unterwegs ist. Sich nicht hinreißen zu lassen, dem Druck – die Gäste müssen doch was erleben! – nicht nachzugeben. Wir fragten per Funk auf dem entfernt liegenden Schiff nach der Windstärke. 26 Knoten mit Böen bis 32 Knoten. 25 war unsere Grenze. Wir müssen abbrechen, sagte ich. Wir machen es nicht. Die Sonne schien, der Ort war ein Traum. Wir machten es nicht. Auf dem Rückweg wurden wir vollkommen durchnässt, das Schlauchboot tanzte so auf den Wellen, dass wir nur mit Mühe wieder auf das Schiff springen konnten, der Wind war nun bei mehr als 30 Knoten, das ist kein Wetter, um in der Arktis Boot zu fahren.

In Grönland und auf dem gefrorenen Polarmeer sagte uns der Himmel, was zu tun war. Wir marschierten vorwärts, die Skier sangen das Lied der Sastrugi, wenn die Kanten über die Schneeränder schleiften. Wir bemerkten jede Änderung am Horizont, sahen die Wolken aufziehen und griffen nach den dickeren Handschuhen, bevor der Wind bei uns war. Wir zurrten die Schlittenabdeckungen fest und zogen alle Reißverschlüsse zu, wir stülpten die Sturmmasken über, wenn die Wolken schneller über den Himmel jagten, und wenn die Böen bei uns ankamen, fanden sie keine Haut mehr. Der Himmel sagte, was zu tun war, und wir hörten auf ihn.

Wer möchte schon dem Himmel widersprechen, den Wind herausfordern, wenn er auf einer Eisscholle, auf einem Eisschild sitzt, mit nichts als einer dünnen Zelthaut zwischen sich und allem anderen.

Würden doch alle Menschen nur ein einziges Mal genau das erleben: wie viel Kraft die Natur hat. Dass sie nicht einmal niesen muss, um uns einfach auszulöschen, fortzuwehen, niederzuwalzen, mit einem klitzekleinen Fingerschnips. Es hilft nicht, derlei nur zu lesen, scheint mir. Wie groß die Natur ist und wie klein wir. Romantische Sätze, die ihre Wirkung doch verfehlen.

Würde ihnen doch bewusst, dass wir alle auf dieser Scholle sitzen mit nichts als einem Zelt. Denn wir hören schon lange nicht mehr auf den Himmel. Wir halten uns nicht mehr an Grenzen. Weil wir denken, dass der Himmel keine Rolle spielt für uns und wir jederzeit alles tun können, was wir wollen, überall. Der Mensch im 21. Jahrhundert sieht sich losgelöst von der Natur. Er hat sich die Erde untertan gemacht.

Denkt er.

Doch keine Spezies der Welt kann sich die Erde untertan machen, kann sich über alle anderen stellen. Weil am Ende alles mit allem zusammenhängt und erst das große Zusammenspiel aller einzelnen Teile ermöglicht, dass alle heute existierenden Arten auf unserem Planeten leben können.

Vielleicht ist eben dies das größte Missverständnis unserer heutigen Zeit: das Denken, dass der Mensch allein existieren kann und über allen Dingen steht. Entwickelt hat sich dieses Denken, weil die Menschen heute in stabilen Häusern leben, und viele davon stehen in Städten. Wenn die Menschen Hunger haben, kaufen sie in gut gefüllten Supermärkten ein, wenn es regnet, sind sie geschützt im Trockenen, wenn es kalt ist, wärmen sie ihre Behausungen, und wenn es warm ist, kühlen sie sie. Egal, was draußen passiert, es ist alles kontrollierbar, ausblendbar, was auch immer geschieht: Der Mensch kann sich eine Komfortzone erhalten, in der es ihm gut geht. Der Mensch hat alles unter Kontrolle. Es kommt immer Wasser aus der Leitung und Strom aus der Steckdose. Meistens. Noch.

Der Mensch, ganz oben. Alles im Griff.

Wenn mich meine Reisen in der Arktis, meine Touren auf Skiern in die kältesten Gebiete der Erde, meine Wanderungen in den heimischen Alpen eines gelehrt haben, dann, dass das nicht so ist. Dass das nie so war und nie so sein wird. Der Mensch, das ist eine so banale wie weitreichende Tatsache, hat gar nichts im Griff.

Auf den Schiffen studieren wir jeden Tag Wetter- und Eiskarten. Wir können Routen anders legen, wir können Stürme aussitzen, uns verstecken, ausweichen. Wir können deuten, vorhersehen, reagieren. Was wir niemals können, ist, an einem Plan festzuhalten, gegen den die Wetterkarte spricht. Wir würden immer verlieren. Jeder Mensch, jedes Kind sollte als Teil seiner Schulbildung ein Gewitter in den Bergen erleben müssen. Einen Sturm auf See.

Denn wer einmal wirklich den Elementen ausgesetzt war, der verinnerlicht, dass auf dieser Erde nicht der Mensch bestimmt. Dass es tatsächlich etwas gibt, dem man sich beugen muss. Wir sind daran gewöhnt, Dinge zu besprechen, zu verhandeln, zu erschaffen und zu verändern. Einen Sturm auf See kann man aber nicht wegplaudern oder -theoretisieren. Er ist da. Er bestimmt die Route. Die einzigen Gesetze der Welt, die unumstößlich sind, sind die der Natur, und wer langfristig Erfolg haben will, muss sie achten.

Wir können nicht erwarten, dass wir diesen Planeten ausbeuten, verunreinigen, natürliche Abläufe in globalem Maß beeinflussen, die Gesetze und Regeln der Natur missachten können – ohne dass das je Folgen haben wird für den Planeten und für uns.

Der Treibhauseffekt

Das Leben auf unserer Erde ist nur aufgrund von Treibhausgasen möglich. Die Erde ist umgeben von der Erdatmosphäre, die Gase enthält, die einerseits die Sonnenstrahlung einlassen, andererseits aber die Wärmeabstrahlung der Erde vermindern. Zu diesen Gasen zählen vor allem Wasserdampf und Kohlendioxid. Weil sie die Abstrahlung der Erdwärme absorbieren, entsteht eine globale mittlere Lufttemperatur von +15 °C. Ohne die Treibhausgase läge sie bei -18 °C, der Planet wäre vereist. Seit Beginn der Industrialisierung und dem Einsatz fossiler Brennstoffe erzeugt die Weltbevölkerung zusätzlich zu den natürlich vorkommenden Treibhausgasen selbst Gase, vor allem Kohlendioxid. Der Mensch greift also in das Zusammenspiel vieler Faktoren ein, welches die Erde erst bewohnbar macht. Durch die Zunahme von Gasen in der Atmosphäre wird weniger Erdwärme in den Weltraum abgestrahlt, und die Erde erwärmt sich. Man spricht hier vom anthropogenen – vom Menschen verursachten – Treibhauseffekt.

Wir Menschen sind abhängig und damit schwach geworden. Die wenigsten jagen sich noch ihr Essen oder bauen es selbst an, die allerwenigsten überleben mit wenigen Hilfsmitteln. Wir brauchen Kleidung, Häuser, Klimaanlagen,...

Erscheint lt. Verlag 9.11.2022
Zusatzinfo durchgehend farbig bebildert
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Welt / Arktis / Antarktis
Schlagworte 2022 • Arktis • Claudia Kemfert • eBooks • Eisbären • Klima • Klimawandel • Neuerscheinung • Nordpolexpedition • Reisebericht • Reisen • Stefan Rahmstorf
ISBN-10 3-641-28263-2 / 3641282632
ISBN-13 978-3-641-28263-9 / 9783641282639
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