Gebrauchsanweisung für Finnland (eBook)
240 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60176-4 (ISBN)
Roman Schatz, 1960 in Überlingen geboren, verliebte sich während des Studiums in Berlin in eine Finnin und folgte ihr 1986 in ihre Heimat. Er schrieb Deutschlehrbücher und Drehbücher fürs Schulfernsehen und arbeitet als Produzent, Regisseur, Buchautor, TV-Moderator und Schauspieler. Auf Deutsch erschienen »Der König von Helsinki« und »Telewischn«. Dank seiner satirischen Sendungen ist er Finnlands bekanntester Deutscher. Er lebt in Helsinki.
Roman Schatz ist Finnlands bekanntester Deutscher. 1960 in Überlingen am Bodensee geboren, folgte er einer Finnin der Liebe wegen 1986 in ihre Heimat. Er arbeitet in Helsinki als Journalist, TV- und Radiomoderator und Buchautor. Auf Deutsch erschienen u.a. »Der König von Helsinki« und »Telewischn«.
Auf der Suche nach sich selbst – Die finnische Identität
Eines haben die meisten Finninnen und Finnen gemeinsam, ganz egal, ob sie jung oder alt sind, Rechtskonservative oder Ökorevolutionäre, Feministinnen oder Patriarchen, Bauern oder Professorinnen, religiöse Pietisten oder linientreue Kommunisten: Sie sind fast alle wirklich gerne Finnen und sind, jede und jeder auf eigene Art, mächtig stolz darauf, diesem exotischen kleinen Volk anzugehören.
Wenn man vor meiner Haustür auf die hübsche grüne Helsinkier Straßenbahn wartet und gerade einer der etwa zwei Dutzend amtlichen Beflaggungstage des Jahres ist, kann man, wenn man sich einmal um die eigene Achse dreht, mindestens siebenundvierzig blaue Kreuze auf weißem Grund flattern sehen. Dann kommt die Straßenbahn.
Beflaggt wird unter anderem am Tag der Kriegsveteranen, am Tag der finnischen Sprache, am Tag des Gedichts und des Sommers (dem Geburtstag des Poeten Eino Leino), am Tag der Gefallenen, am Tag der Gleichberechtigung (dem Geburtstag der Schriftstellerin Minna Canth), am Tag der finnischen Literatur, am Tag des Finnentums, am Tag des Nationaldichters Johan Ludvig Runeberg und am Vatertag. Letzterer findet hier am zweiten Sonntag im November statt, vermutlich, damit finnische Väter nicht auf die Idee kommen, sich mit einer Kiste Bier und ihren Söhnen in die sommerliche Natur zu verdrücken. Der Muttertag ist am zweiten Sonntag im Mai, wie auch im Rest der Welt.
Stolz auf sich selbst als Nation, als Kultur, als Sprache und als Volk zu sein ist für Finnen etwas völlig Selbstverständliches. Für jemanden, der in Deutschland aufgewachsen ist, ist dieser überbordende, ungehemmte Patriotismus anfangs etwas gewöhnungsbedürftig. Das Wort suomalaisuus, Finnentum, ist allgegenwärtig im täglichen Sprachgebrauch, die eigene Identität ist Gegenstand unzähliger Bücher, Thema vieler Talkshows und Podiumsdiskussionen, etwas, worüber man gern und viel spricht.
In Deutschland ist schon die Vokabel problematisch. Deutschtum, das tümelt eben und erinnert sofort an die Sünden und Verbrechen, die sich Deutschland in den letzten Jahrhunderten zuschulden kommen ließ.
Hier aber denkt man gern und intensiv über die eigene Nation nach und schämt sich nicht für die eigene Vergangenheit, denn im Gegensatz zu fast allen anderen sogenannten zivilisierten europäischen Staaten hat Finnland nie versucht, die gesamte bekannte Welt oder wenigstens seine Nachbarn zu erobern. Hier ging es nie darum, aggressive oder expansive Außenpolitik zu betreiben, Finnland hatte nie Kolonien. Die Priorität lag immer im eigenen Überleben, im Entwickeln der eigenen Sprache und Identität, im Etablieren einer eigenständigen finnischen Kultur und Nation in Europa.
Finnland – die Wiege der Zivilisation
Vielleicht ist die hartnäckige Nabelschau der Finnen dadurch zu erklären, dass sie gar nicht wissen, wo sie herkommen. Der Ursprung dessen, was man ein finnisches Volk oder eine finnische Kultur nennen könnte, liegt nämlich im Dunkel der Geschichte. Es hat die verschiedensten Ansätze gegeben, Licht in dieses Dunkel zu bringen: Man hat die Bibel interpretiert und glaubte lange Zeit, die Finnen seien ein Stamm, der sich nach der babylonischen Sprachverwirrung in den Norden Europas verirrt habe. Man hat kraniologische Studien betrieben, also die Schädelknochen verschiedener Stämme vergleichend vermessen, und ist zu dem Schluss gekommen, dass finnische Jochbeine denen der Mongolen ähneln. Man hat die heutige finnische Sprache mit anderen, ähnlichen Sprachen verglichen und ein Dutzend verwandter Dialekte entlang der Wolga in Sibirien gefunden, man hat mitochondrische DNS untersucht und überraschenderweise entdeckt, dass die Vorfahren der meisten Finnen aus Mitteleuropa stammen, sich aber Ostfinnen und Westfinnen genetisch weit mehr voneinander unterscheiden als beispielsweise Deutsche von Briten.
Bisher gibt es also widersprüchliche Indizien, aber keine Erklärung für die große Frage, die die Finnen umtreibt: Woher kommen wir? Sicher ist nur: Die Finnen sind eine echte Rarität.
Der römische Historiker Tacitus schreibt im Jahr 98 am Schluss seines Werkes Germania auch über den Stamm der Fennen: »Die Tierähnlichkeit der Fennen ist erstaunlich, ihre Armut abschreckend. Sie haben keine Waffen, keine Pferde, kein Haus. Ihre Nahrung besteht aus Kräutern, ihre Kleidung aus Tierhäuten, ihre Lagerstätte ist der Erdboden; ihre einzige Hoffnung sind die Pfeile, die sie aus Mangel an Eisen mit spitzen Knochen versehen. Dieselbe Jagd gibt Männern und Frauen in gleicher Weise ihren Lebensunterhalt, denn die Frauen kommen überall mit hin und beanspruchen ihren Anteil an der Beute. Auch die kleinen Kinder haben keine andere Zufluchtsstätte vor wilden Tieren und vor dem Regen als den Unterschlupf unter irgendein Geflecht von Zweigen; hierhin kehren die jungen Männer zurück, und es ist auch das Asyl der Greise. Aber sie meinen, man sei glücklicher, als wenn man über schwerer Ackerarbeit seufze, mühsam Häuser baue, eigenes und fremdes Hab und Gut in Furcht und Hoffnung umzusetzen suche. Ohne sich um die Menschen und ohne sich um die Götter zu kümmern, haben sie das Schwerste von allem erreicht: wunschlos zufrieden und glücklich zu sein.«
Allerdings kann Tacitus mit dieser Beschreibung gar nicht die heutigen Finnen gemeint haben, denn erstens sind die nicht wunschlos zufrieden und glücklich und zweitens waren sie vor knapp zweitausend Jahren nachweislich noch gar nicht in Finnland. Nur der Name, den Tacitus verwendet, ist bis auf den heutigen Tag an ihnen hängen geblieben. In Tacitus’ Text geht es ziemlich sicher um die Samen, die Ureinwohner der nordischen Länder, die auch heute noch in der sogenannten Kalotte leben, dem Teil von Norwegen, Schweden, Finnland und Russland, der nördlich des Polarkreises liegt.
Für ein kleines Volk mit einer seltenen Sprache ist es natürlich äußerst ärgerlich, keinen klaren Stammbaum zu haben, und so erfreuen sich in Finnland Ahnenforschung, Regional- und Lokalgeschichte, Heimatmuseen, Dialektpflege, Folklore, Sippentreffen, Trachten und dergleichen großer Beliebtheit.
Die finnische Sehnsucht nach einer glorreichen Vergangenheit hat bisweilen auch sehr amüsante Blüten getrieben. Der Künstler und Hobby-Ägyptologe Sigurd Wettenhovi-Aspa, seines Zeichens »Fennomane«, wie man sich damals als glühender Patriot nannte, stellte 1935 die Theorie auf, dass sämtliche Bildung und Zivilisation der Welt eigentlich aus Finnland stamme. Die ägyptische Hochkultur habe sich vor mehreren Tausend Jahren gebildet, weil damals Finnen via Indonesien und Indien an den Nil ausgewandert seien. Alle indoeuropäischen Sprachen – so der Freizeitlinguist, der Tausende von Wörtern miteinander verglich – stammten von einer finnisch-ägyptischen Ursprache ab. Seine Theorie nannte er »Fenno-Ägyptologie«, und ihr zufolge sind auch die Deutschen ein altes ugrisches Volk, das im Lauf der Zeit die deutsche Sprache anstelle der finnischen angenommen hat.
Mag auch der Ursprung der Finnen im Ungewissen liegen, Wettenhovi-Aspa muss als blinder Passagier mit einem Meteoriten auf die Erde gekommen sein. Oder aber er widmete sein Leben einer groß angelegten Wissenschaftsparodie – bis heute ist nicht sicher, ob er es mit seiner waghalsigen Theorie wirklich ganz ernst meinte. Bei Finnen weiß man so etwas eben nie.
Freunde und Feinde kann man sich aussuchen …
… die Nachbarn aber kriegt man von Gott. Finnland, sein Bedürfnis nach Nation und den trotzigen Stolz auf seine Unabhängigkeit kann man nur verstehen, wenn man das Verhältnis der Finnen zu Schweden und Russland kennt. Zwar hat Finnland noch ein drittes Grenzland, im nördlichsten Zipfel gibt es eine gemeinsame Grenze mit Norwegen, aber dort wachsen nur noch Moose und Flechten, weshalb Finnlands Nordgrenze selten von historischer Bedeutung war. Umso stärker aber haben Schweden und Russland das Land geprägt, schon von Anbeginn der modernen Geschichte.
Schweden und Finnland sind sich nicht nur von der Topografie her sehr ähnlich – viele Seen, Granit, Schären, rote Holzhäuschen mit weißen Randbalken, schweigsame Fernsehkommissare –, ...
Erscheint lt. Verlag | 26.5.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte ► Europa |
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ISBN-10 | 3-492-60176-6 / 3492601766 |
ISBN-13 | 978-3-492-60176-4 / 9783492601764 |
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