Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin (eBook)

Deutschland, wohin gehst Du

(Autor)

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2022 | 2. Auflage
100 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-7549-5936-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin -  Dirk Prüter
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Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin - der alljährliche Traum eines jeden Fußball Begeisterten. Dass er nur Wirklichkeit wird für zwei Teams und deren Anhänger wenn es darum geht, mit dem DFB-Pokal in den Händen den Heimweg anzutreten? Stört Dirk Prüter nicht. Für ihn muss nicht das Runde ins Eckige, für ihn müssen auch nicht zuvor fünf Gegner bezwungen werden, ihm reicht es, wenn einfach nur die Räder rollen - aus eigener Kraft. Seine Welt ist das Radeln. Wettbewerbsbedingungen? Für den Wahlkölner ein Fremdwort. Er bevorzugt den Spaß. Seit er sich mit dem Drahtesel unter dem Hintern 2011 nach Barcelona aufmachte ist diese Form des Reisens für ihn das Maß der Dinge. Er bekommt reichlich zu sehen, erlebt etwas und hat Zeit, Gedanken kreisen zu lassen. Karneval 2020 bricht er mit seinem Liegedreirad auf in die Hauptstadt der Republik, nicht wissend, dass die Welt eine andere sein wird, als er vier Wochen später zurück kehrt. Doch Corona ist nicht das Einzige, das ihn beschäftigt. Was ihn auf seinen 2.000 Kilometern viel mehr bewegt ist eine ganz andere Frage: Deutschland, wohin gehst du?

Dirk Prüter, Jahrgang 1963, lebt zusammen mit seiner Frau Ute in Köln. Über die Elektronik fand er in den späten 70'ern, frühen 80'ern seine Begeisterung für das Thema Software Entwicklung. Einem erfolgreich absolvierten Informatikstudium folgten über zwei Jahrzehnte in diesem Metier, bevor widrige Umstände eine neue Leidenschaft entfachten: Das Reisen mit dem Fahrrad. Und fängt man erst einmal an, Erlebnisse schriftlich festzuhalten, ist es auch nicht mehr weit bis zum ersten Buch ...

Tag 1


Vier Uhr.

Gongggggg.
Der Schlag mit dem Klöppel auf die Metallscheibe zerreißt die morgendliche Stille. Morgendliche? Nächtliche! Verschlafen reibe ich mir die Augen. Während der Ton nachhallt, fällt ein verschwommener Blick aus dem Fenster. Stürzte da gerade ein Vogel vom Baum?

Gongggggg.
Ich schaue mich um. Was ich sehe? Ein knappes Dutzend verschlafener Mitschnarcher. Ihnen ergeht es ähnlich wie mir. Die Frage, die durch ihren Kopf wabert? Wohl die gleiche, die in meinem Schädel nach Orientierungshilfe sucht. Wo bin ich, was mache ich hier?

Gongggggg.
So langsam dämmert es uns. Wir haben es nicht anders gewollt. Empören, mitleidiges Zulächeln, tröstende Worte? Ist nicht. Wir gelobten, einander zu ignorieren.

Stunden später. Der Rücken schmerzt. Ich weiß nicht mehr, wie ich sitzen soll. Was ich von den anderen aufschnappe? Wieder ergeht es ihnen wie mir. Sie rutschen von der linken Pobacke auf die rechte oder wieder zurück, strecken das Kreuz, lassen die Schultern fallen, sacken einmal mehr in sich zusammen, verfluchen innerlich den Schneidersitz, das Yogakissen und die monotone Stimme des Herren aus Fernost der uns versucht einzureden, wir mögen uns in Gleichmut üben, alles sei vergänglich. Auch die Pein. Warum wir nicht rebellieren? Gute Frage. Weil wir es nicht anders wollten. Jeder wusste, was auf ihn zu kommt. Muss man ja schließlich unbedingt heraus finden ob das, was einen am Reiseradeln so begeistert, auch ohne körperliche Ertüchtigung erreicht werden kann – so jedenfalls mein Beweggrund. Was die anderen sich vorstellten unter Vipassana? Keine Ahnung. Soll mich ja aber auch nicht interessieren. Was uns hingegen eint? Dass Zeit sich ziehen kann. Zermürbend. Doch wo wandern meine Gedanken schon wieder hin. Ich soll mich auf das Atmen konzentrieren. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Durch die Nasenflügel ein, beobachten, wie frische Luft den Körper durchflutet, jede einzelne Zelle mit Sauerstoff betankt, wie sich der Brustkorb hebt, wie sich der Brustkorb wieder senkt, alles Verbrauchte mitreißt und ein warmer Atem durch die Nasenlöcher wieder entweicht. Einatmen. Ausatmen. Spüren, wie der Treibstoff des Lebens mich durchströmt, sich in mir ausbreitet. Beobachten, wie es sich von der Stirn bis zum Hinterkopf anfühlt, sich Haut spannt, wie Arme und Beine leichter und wieder schwer werden oder es in Finger- und Fußspitzen kribbelt. Den Körper Stück für Stück wahrnehmen, abscannen, Ärger, Ängste, Sorgen und Nöte vergessen, einfach nur sein. Ob ich Erleuchtung erlange, meinen Geist vom Weltlichen befreie, eine Hand breit über dem Boden schwebe? Mist. Schon wieder abgelenkt. Verdammtes Kopfkino. Doch halt. Ich soll nicht verurteilen, soll nicht bewerten, soll nicht erwarten. Ich soll einfach nur beobachten, in mich hinein hören, soll hinnehmen was ist. Also zurück in den Trott. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Aus...

Stopp. Ein Geräusch. Eines, das hier nicht her gehört.

Piep-piep-piep-piehhhhhhp. Piep-piep-piep-piehhhhhhp. Piep-piep-piep-piehhhhhhp.

Pause.

Jedenfalls einen Augenblick lang.

Dann erneut: Piep-piep-piep-piehhhhhhp. Piep-piep-piep-piehhhhhhp. Piep-piep-piep-piehhhhhhp.

Was zur Hölle soll das? Gelobten wir nicht auch, Handys und andere Elektronik für zehn Tage aus unserem Leben zu verbannen.

Piep-piep-piep-piehhhhhhp. Piep-piep-piep-piehhhhhhp. Piep-piep-piep-piehhhhhhp.

Abermals dämmert es. Diesmal nur mir. Acht Uhr. Mein Smartphone. Der Wecker. Erneut reibe ich mir verschlafen die Augen.

Piep-piep-piep-piehhh...

Ich wische über den Bildschirm. Augenblicklich verstummt das Gepiepe. Stille. Ich blicke mich um. Neben mir liegt Ute. Meine Frau räkelt sich, gibt mir, halb bedustelt, einen Kuss.

„G'n Morgen.“

Ich brauche noch einen Augenblick, um zu verstehen. Natürlich. Auf meine Anmeldung zu dem Meditationskurs hin erhielt ich eine Absage. Die Glücksfee hatte sich für jemand anderen entschieden. Musste ich Karneval anders überbrücken.
Karneval? Überbrücken? Als Kölner?

Zu meiner Entschuldigung, dass ich das darf, muss ich ein wenig weiter ausholen. Ich bin Immi. Zugereister. Ich bin weder am Rhein geboren noch sog ich den Frohsinn in mir auf mit der Muttermilch. Ich weiß wovon ich rede. Einst stürzte ich mich mit Ureinwohnern in das närrische Treiben, doch blieb ich vom Virus verschont. Mein Immunsystem war intakt. Decke Trumm, die dicke Trommel, Bütze, anderswo sagt man Küsschen, Schunkeln und Kölle-Alaaf? Vermochten nicht mich zu infizieren. Mer losse de Dom en Kölle? Logisch. Will ja auch sonst niemand, die Dauerbaustelle. Das andere Liedgut? Nicht viel besser. Was den beseelten Jecken mit dem ersten Takt in Ekstase versetzt, löst in mir das Gegenteil aus. Fluchtreflex – nichts wie weg.

Zwei Jahre zuvor, nach über einem Vierteljahrhundert des Kennenlernens, Erduldens und Erleidens, dann eine bahnbrechende Feststellung: nimmt man rechtzeitig Reißaus, tut es gar nicht mehr weh. Ein Gefühl wie Zahnarzt ohne Bohren. Anfang Januar war ich mit dem Rad nach Barcelona gestartet und hatte Ute gesagt, ich sei Ostern wieder zurück. Das Eierfest beginnt sieben Wochen nach Karneval. Was einen zu dieser Jahreszeit in den sonnigen Süden treibt? Lange Geschichte. Die Kurzfassung: Es galt, Dinge zu erledigen. Papierkram. Das Fazit: nicht schlecht. Reiseradeln geht auch im Winter. Ist ein wenig anders als im Sommer, hat aber seinen Charme.

Im Jahr darauf dann der bewusstere Entschluss, dem närrischen Treiben zu entkommen. Eine Cousine in Frankfurt hatte Mitte Januar eingeladen zum Jahresgedenken an die viel zu früh verstorbene Schwester. Den Anlass als willkommen zu bezeichnen? Klingt nicht nur pietätlos, ist es sicherlich auch, bot sich aber dennoch an. Da selbst in meinem Tempo zu Drahtesel die Strecke nicht ausreicht, um dem Karneval zu entgehen, konstruierte ich einen Kilometer reicheren Rückweg. Von der Mainmetropole ist es nicht weit bis nach Hanau, von dort ist die Fulda nicht fern und folgt man dem Fluss sowie der aus ihr mit gespeisten Weser bis hinter Bremen, kann man nicht nur einen Freund während seiner Kur in Bad Oeynhausen besuchen sondern auch noch einen Onkel vor den Toren der Hansestadt. Und hat man es auch anschließend zurück an den Rhein nicht all zu eilig, ist schnell Aschermittwoch Vergangenheit. Dass Tage dabei waren, an denen die Limonade für den Feierabend gefror, Zahnpasta nicht mehr aus der Tube zu quetschen war, ich den Brennspiritus im Schlafsack vorwärmen musste, um ihn entzünden zu können, und sich mein Zelt in eine Eishöhle verwandelte? Erfahrungen. Die unsanfte Bauchlandung mit dem Rad auf überfrorener Nässe? Schmerzhaft. Insbesondere beim Lachen. Wahrscheinlich eine geprellte Rippe. Doch was soll's – was einen nicht umbringt, härtet ab. Und meinen Spaß hatte ich trotzdem.

2020 dann die Idee mit dem Meditationskurs. Sollte genau über die „Feiertage“ stattfinden, im bayerisch/thüringisch/tschechischen Dreiländereck. Das Blöde nur: man änderte das Anmeldeprozedere. Nicht mehr der frühe Vogel fängt den Wurm sondern derjenige, der sich innerhalb der Anmeldefrist registriert UND dem Losglück beschert ist. Vermochte ich das in meiner Macht stehende zu leisten, blieb mir Fortunas Gunst verwehrt. Nun denn. Pech gehabt. Vielleicht ein andermal. Vielleicht? Vielleicht auch nicht. Die Sache mit dem Gleichmut scheint bereits verinnerlicht.

Mit Lektion Eins in der Tasche konstruierte ich mir eine Alternative. Berlin sei immer eine Reise wert – heißt es. Also Berlin. War ich aus eigener Kraft noch nicht. Eine Route? Dank Internet kein Problem. Start und Ziel bei Naviki, einem Routenplaner im Netz, eingegeben, angeklickt, es möge eine Freizeitstrecke werden, und schon lagen erste knapp 700 Kilometer vor mir. Der Rückweg? Nicht viel komplizierter. Die Spree rauf an die Quelle, von dort die paar Kilometer weiter nach Zittau, ins Dreiländereck Deutschland, Polen, Tschechien, und schon ist der eine Endpunkt eines deutschlandweiten Fernradwanderweges erreicht, dessen anderes Ende dort liegt, wo Deutschland, Belgien und die Niederlande aneinander stoßen. Der Weg dazwischen? Führt mehr oder minder an Köln vorbei. Strecke im Kasten. Mit allem, was das Navi benötigt. Zeitpunkt? Erst recht kein Ding. Über Karneval. Zurück sein müsste ich Ende März. Für das letzte Wochenende hingen bereits Konzerttickets an der Pinnwand. Anfang November, genauer gesagt am zehnten, drehte ich zusammen mit einem Freund eine Runde in die Stadt. Am Tanzbrunnen dabei vertraute Klänge. Das Intro von Ulla Meineckes Tänzerin. Wir waren hin und weg. Probte die Künstlerin nebst Band selbst? Leider nicht. Lediglich ein Soundcheck. Die Frage wofür? Konnte nur ein Zugereister stellen – tags drauf war der Elfte im Elften. Beginn der fünften Jahreszeit. Startschuss für den Karneval. Wie sich Kreise schließen. Doch egal – Ulla Meinecke weckte Erinnerungen und wie es der Zufall wollte, gab es einen Termin für einen Auftritt. Im Senftöpfchen Theater, eine der Kleinkunstbühnen Kölns, vier Wochen nach der Nubbelverbrennung beziehungsweise Aschermittwoch. Blieb lediglich die Überlegung: wann aufbrechen? Einmal kurz zurück gerechnet und die Sache war klar. Starte ich Mitte Februar, sollte es klappen. Über Karneval unterwegs sowie am letzten Freitag im Monat Ankunft am Brandenburger Tor. Was diesen Zeitpunkt so besonders macht? Am letzten Freitag im Monat findet die Critical Mass statt. Wem der Begriff nichts sagt oder wer ihn lediglich mit der Menge an spaltbarem Material verbindet, das in der Atomphysik benötigt wird um die Kettenreaktion der Kernspaltung aufrecht zu erhalten, dem sei erklärt: die Critical Mass ist ebenso der Haufen Radler, der sich allmonatlich zu einer...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Reisen Reiseführer Europa
Schlagworte Abenteuer • Berlin • Liegedreirad • Liegerad • Radreise • Reisetagebuch • Wintertour
ISBN-10 3-7549-5936-0 / 3754959360
ISBN-13 978-3-7549-5936-7 / 9783754959367
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