Gebrauchsanweisung für Schweden (eBook)

Aktualisierte Neuausgabe 2022
eBook Download: EPUB
2022 | 1., Auflage
256 Seiten
Piper ebooks (Verlag)
978-3-492-60170-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gebrauchsanweisung für Schweden - Antje Rávik Strubel
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Pippi Langstrumpf, Männer mit Kinderwagen und leuchtend rote Holzhäuser - die Autorin spürt ihrer Sehnsucht nach und verrät, wie Wintersport in Schweden zum Volksfest wurde und womit Köttbullar und Safrankuchen am besten schmecken. Weshalb es hier kaum Ikea-, aber so viele Antikmärkte gibt. Was Gotland zum Paradies für Alleinreisende macht und was bei dreimonatiger Dunkelheit gegen Schwermut hilft. Wieso der Wodkagürtel so locker sitzt und der Polarkreis gleichzeitig in zwei Richtungen wandert. Dass bei den Schweden schon die Nationalhymne von der Liebe der Natur erzählt. Wie es wirklich um die supersoziale Marktwirtschaft bestellt ist. Und was Sie tun sollten, wenn Sie beim Himbeerpflücken von einem Elch überrascht werden.

Antje Rávik Strubel, 1974 in Potsdam geboren, aufgewachsen in Ludwigsfelde, arbeitet nach Ausbildung zur Buchhändlerin und Studium als Übersetzerin und Schriftstellerin. Sie lebt in Potsdam und veröffentlichte u.a. die Romane »Tupolew 134«, »Kältere Schichten der Luft«, »Plunge of Days into the Night« und »In den Wäldern des menschlichen Herzens«. Bei Piper erschienen von ihr die »Gebrauchsanweisung für Schweden«, »Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg« sowie »Gebrauchsanweisung fürs Skifahren«. Antje Rávik Strubel wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutschen Buchpreis 2021 für ihren neuen Roman »Blaue Frau«. 

Antje Rávik Strubel, 1974 in Potsdam geboren, aufgewachsen in Ludwigsfelde, arbeitet nach Ausbildung zur Buchhändlerin und Studium als Übersetzerin und Schriftstellerin. Sie lebt in Potsdam und veröffentlichte u.a. die Romane »Tupolew 134«, »Kältere Schichten der Luft«, »Sturz der Tage in die Nacht« und »In den Wäldern des menschlichen Herzens«. Bei Piper erschienen von ihr die »Gebrauchsanweisung für Schweden«, »Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg« sowie »Gebrauchsanweisung fürs Skifahren«. Antje Rávik Strubel wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Deutschen Buchpreis 2021 für ihren neuen Roman »Blaue Frau«. www.antjestrubel.de

Sehnsucht


Noch immer sehe ich sie stehen. Am Kai. Auf der Mole. Am Leuchtturm in Sassnitz. Am Strand.

Menschen in bunten Hemden, mit flatternden Hosenbeinen, schief gewehten Hüten, Menschen in DDR-Niethosen, die Hosenbeine bis zum Knie aufgerollt. Ich sehe sie stehen, ich sehe sie mit einer Hand die Augen abschirmen und den Fähren nachschauen. Fähren, die über die Ostsee fuhren, nach Trelleborg und weiter. Ich sehe sie aufs Meer hinausschauen, der Schwedenfähre nach, die aus dem Sassnitzer Hafen auslief. Die Fähre fuhr in greifbarer Nähe vorbei, Reling, Rettungsboote, Rauch und Bullaugen waren für das bloße Auge sichtbar. Die Blicke aber waren auf Unsichtbares gerichtet : auf schwimmende Paläste, die das schnöde Hier mit einem Traum verbanden, mit der anderen, unbekannten Seite der Welt, mit dem Westen. Die Fähren waren real und irreal zugleich und entzündeten Wahnvorstellungen. Die Menschen winkten ihnen nach und malten sich aus, wie es wäre, in einem Werkzeugkasten in den Maschinenraum geschmuggelt zu werden, als Matrose verkleidet an Bord zu gehen oder sich, an den Unterboden eines Lkws gekettet, als Frachtgut verladen zu lassen. Manche übten sich im Weitspucken. Einmal, das wussten sie, würde die Spucke die Bordwand treffen und dort hängen bleiben, und dann würde das Ungeheuerliche geschehen : Die Spucke würde in weniger als fünf Stunden das ersehnte Ufer erreichen; ihre Spucke. Ein Teil ihrer selbst. Sie aber mussten jede dieser Fähren davonziehen lassen.

Die Fähren zogen schmerzhaft langsam dahin. Sie wurden zu weißen Punkten, sie standen noch lange am Horizont, bevor sie verschwanden. Mit ihnen verschwanden teurer Sekt und glitzernde Pools auf dem Oberdeck, coole Musik, glänzende Zeitschriften und Düfte, die schwindlig machten und in der salzig-öligen Ostseeluft beinahe schon zu wittern waren. Es verschwanden lässige Kellner, lässige Eltern, rosenlippige Mädchen und schmalbrüstige Jungs und vor allem eines : echte Jeans. Stonewashed.

Erst als auch die letzte Fähre hinter dem Horizont verschwunden, als sie abgetaucht war hinter der unsichtbaren Grenze, die irgendwo zwischen den Kreidefelsen, der Mole und dem fernen gelobten Land verlief, war man nicht mehr so sicher, dass es alles das auch tatsächlich dort gab. Man hatte es zwar vor dem inneren Auge gesehen, in vagen Bildern, flüchtig und wie aus der Erinnerung. Aber die Erinnerung wurde durch nichts gestützt. Schließlich war niemand je dort gewesen. Und wenn es einem doch gelungen sein sollte, mit einem Segler, einem Schlauchboot oder auf der Luftmatratze lebend die Grenze zu überqueren, dann war er nie zurückgekehrt, um davon zu berichten.

Der Himmel reichte nicht weiter als der Blick. Was dann kam, glich so sehr dem Nichts, dass man sich sagte, die Sehnsucht lohne vielleicht nicht. Vielleicht waren auch die Fähren nur Gaukelei, Hitzebilder der Ostseeluft. Dieser Gedanke war tröstlich. Allerdings hielt er nicht lange, weil er so durchschaubar war. Sogar der Trost schmeckte schal.

Ich sehe sie stehen.

Ich selbst stand auch da. Aber ich war zu jung, als dass alle diese Erinnerungen meine eigenen sein könnten. Erinnerungen an ein Schweden im Kopf, das in einem gleißenden Licht erschien.

Ein Licht, in dem es leuchtend rote Häuser, gepflegte Straßen, wohlhabende, ausgeglichene Menschen gab, riesige, gesunde Wälder, ABBA und Lachs; ein Luxus, der meine Vorstellungskraft gänzlich überstieg.

Ich war zu jung. Aber jedes Mal, wenn heute die Fähre in Sassnitz ablegt und ich auf dem Weg nach Schweden bin, sehe ich sie da stehen und winken.

Wenn über diesem Buch eine silberne Melancholie hängt, wenn sich ein tief stehendes, blendendes Licht wie ein Weichzeichner über die Landschaft der Sätze legt, wenn der Holzgeruch des Sommers zu intensiv aus den Zeilen strömt und der Himmel größer wird, als er es in Wirklichkeit je sein könnte, dann vergeben Sie mir.

Noch immer entzündet jede Fähre die Sehnsucht in mir erneut, und seit die Grenzen offen sind, bin ich häufig an Bord gegangen. Ich habe die eisklaren Dalsland-Seen mit dem Kanu befahren, das Klirren der Segelstangen in den Stockholmer Schären gehört, ich habe im Schatten der Stadtmauer von Visby auf Gotland gesessen und schlaflos im unermüdlichen Junilicht in Lapplands Nächten gelegen.

Die Sehnsucht hat sich nach der Wende verändert und wurde zunächst zu einer Kindersehnsucht, zu einer Sehnsucht nach Abenteuer und am Lagerfeuer gebratenem Fisch, was ich mir unter dem rauen Leben draußen so vorstellte, das auf den mittlerweile geordneten Campingplätzen an der Müritz nicht mehr zu haben war.

Später hatte ich genug Westen im Kopf, im Blut und im Portemonnaie, um mich wieder nach einer besseren Welt zu sehnen.

Was ich hier fand, war eine Ahnung davon. Was ich hier fand, war eine Gesellschaft, die einer real existierenden Utopie am nächsten kam.

Ich weiß : Die Sehnsucht bildet immer Übertreibungen aus. Aber erst die Übertreibung lässt die Gegenstände der Sehnsucht am Ende Wirklichkeit werden.

» Nähme ich Flügel der Morgenröte und machte mir eine Wohnung zuäußerst am Meer «, ließ Astrid Lindgren in » Ferien auf Saltkrokan « ihre Hauptfigur im Rausch der Begeisterung rufen; ein Bibelvers übrigens, der in der DDR in ein Protestlied einging.

Und Olof Palme sagte : » Wir sind mutig genug, Veränderungen zu wollen, weil Veränderungen Utopien wirklich machen können. «

Was ich hier fand, waren Menschen, die mich manchmal an meine Kindheit erinnerten. Ihre Rücksicht und ihre Eckigkeit waren mir vertraut. Die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen Berufe ausübten und Kinder in Kindergärten gingen, hatte ich im vergleichsweise rückschrittlichen Gesamtdeutschland beinahe vergessen, bevor ich sie hier wiederfand. Hier fiel mir auch wieder ein, dass ich Small Talk früher nicht hatte ertragen können : In Schweden wird nicht herumgelabert. Manche mögen die Schweden deshalb für schwer zugänglich halten, für wortkarg und unfreundlich. Es gibt Witze, in denen Schweden vorkommen, die nur dann mit ihren Nachbarn reden, wenn sie sich aus ihrem eigenen Haus ausgesperrt haben und den Nachbarn um den hinterlegten Ersatzschlüssel bitten müssen. Peter Berlin schreibt in seinem » Xenophobe’s Guide to the Swedes « ironisch : » Das Image, das die Schweden weltweit haben, ein bisschen eckig zu sein, täuscht; sie sind definitiv quadratisch. Der Autor Herman Lindquist fasst das folgendermaßen zusammen : Die Schweden betrachten die Welt durch einen Rahmen, der zusammengenagelt wurde von Martin Luther, Gustav Vasa, der Abstinenz-Bewegung und hundert Jahren Sozialismus. Luther steuerte die schwedische Vorliebe für Einfachheit bei, Vasa das Nationalgefühl, die Abstinenz-Bewegung die Frömmelei und der Sozialismus die arbeitsame Bescheidenheit. «

Eigentlich machen die Schweden nur nicht gern viel Aufhebens um sich. Niemand scheint mit aufgepumptem Ego herumlaufen zu müssen. Was nicht heißt, dass sie schüchtern wären oder voller Selbstzweifel. Im Gegenteil. Die meisten scheinen so zufrieden zu sein, dass sie es in den letzten zweihundert Jahren nicht nötig hatten, auch nur ein einziges anderes Land zu überfallen und auszurauben; und diese Unterlassung scheint mir, wenn ich mir die geopolitische Weltkarte so ansehe, nicht gerade die einfachste Übung einer Nation zu sein … Das wiederum macht den schwedischen Nationalstolz so ungewöhnlich und erklärt vielleicht, warum sich die Schweden – natürlich nur insgeheim und ohne es an die große Glocke zu hängen – sogar für überlegen halten : Sie sind immerhin weltweit die Ersten, die es sich leisten können, gerade auf das Nichtkriegerische ihrer Geschichte stolz zu sein.

Ihre still vorausgesetzte Überlegenheit mag auch darin begründet liegen, dass sie es in hundert von diesen zweihundert Jahren geschafft haben, die Balance zu halten zwischen Kapitalismus und Sozialismus, zwischen Fortschritt und Menschlichkeit, dass es ihnen irgendwie immer noch gelingt, zwischen extremem privaten Reichtum und Armut auszugleichen und ein ausgeprägtes Gemeinschaftsbewusstsein mit einem ebenso ausgeprägten Freiheitswillen in Einklang zu bringen. Olof Palme, der, um gesellschaftliche Hierarchien zu durchbrechen, das Duzen gesellschaftsfähig machte, sagte dazu : » Gemeinsam Verantwortung zu tragen und das Gefühl, eine Gemeinschaft zu sein, stellen wir über Egoismus und ...

Erscheint lt. Verlag 24.2.2022
Zusatzinfo Mit einer farbigen Karte
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Europa
Reisen Reiseführer Europa
Schlagworte Blaue Frau • Buch • Bücher • Elch • Fjord • Gebrauchsanweisung für Potsdam und Brandenburg • Gewinnerin Deutscher Buchpreis 2021 • Gold des Moores • Göteborg • Janssons Versuchung • Lagerlöf • Lappland • Malmö • Mitternachtssonne • Norden • Reisebericht • Reiseerfahrung • Schären • Schwedisch • Skandinavien • Stockholm • Urlaub • Vasalauf
ISBN-10 3-492-60170-7 / 3492601707
ISBN-13 978-3-492-60170-2 / 9783492601702
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