Oh, wie schön ist Afrika ... (eBook)

Meine Couchsurfing-Abenteuer in sechs Ländern bei 18 Hosts

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022
320 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-27620-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Oh, wie schön ist Afrika ... - Sören Sieg
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Afrika ist vielleicht der Kontinent auf diesem Planeten, den wir in Europa am wenigsten kennen und verstehen. Bestsellerautor und Globetrotter Sören Sieg hat sich auf den Weg dorthin gemacht, Hotelzimmer gegen private Unterkunft getauscht und in sechs Ländern auf den Couches von achtzehn Gastgebern übernachtet. Auf Hochzeiten und Beerdigungen, in Tonstudios und Moskitoschwärmen, in abgelegenen Dörfern und lauten Megacitys hat er unzählige unglaubliche Geschichten erlebt und gehört. Lebendig berichtet er von afrikanischer Musik, neuen Freundschaften, halsbrecherischen Motorradtaxitouren auf der Gegenfahrbahn und Menschen, deren Energie, Witz, Optimismus und Mut ihresgleichen suchen. Ein vielschichtiger und gleichzeitig ernsthafter Reisebericht mit Einblicken in die Wohnzimmer und das Leben südlich der Sahara.

Sören Sieg, geboren 1966, veröffentlichte bereits elf Bücher, darunter die SPIEGEL-Bestseller »Ich bin eine Dame, Sie Arschloch« und »Ich hab dich rein optisch nicht verstanden«. Er tourte 18 Jahre lang mit dem A-cappella-Quartett LaLeLu durch Deutschland und schrieb die Kolumne »Schönen Sonntag!« im Weser-Kurier. Seine afrikanisch inspirierte Kammermusik feierte Premieren auf der ganzen Welt. Mit Frank Lüdecke schreibt er Stücke für die Stachelschweine in Berlin. Er lebt als freier Autor und Komponist in Hamburg.

Der andere Planet


Ich bin ein geborener Angsthase. Gerade mal 1,68 Meter groß, schmächtig und unsportlich, als Kind immer einen Kopf kleiner als meine Mitschüler, die mich zu ihrem Vergnügen schon mal in den Papierkorb steckten. Ich hatte Angst vor Hunden und Einbrechern, habe keinen Kampfsport gelernt, kann nicht mit Waffen umgehen, fürchte Schmerzen und gehe körperlichen Konflikten aus dem Weg. Ich bin sozusagen Pazifist aus Alternativlosigkeit. Aus Angst, jemanden zu verletzen, habe ich nie einen Führerschein gemacht und bin seit meinem achtzehnten Geburtstag Vegetarier. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich einmal in der Weltgegend landen würde, die die meisten Deutschen vor allem mit Gefahr verbinden, mit katastrophalen Straßen, geringer Lebenserwartung, unheimlichen Krankheiten, mit Moskitos und Malaria, wo Straßenbeleuchtung und fließendes Wasser eine Seltenheit sind, wo von Polizisten und Soldaten fast schon erwartet wird, dass sie sich unter Verweis auf ihre Bewaffnung etwas dazuverdienen, die Wahrscheinlichkeit also, dass ich mich dorthin trauen würde, für längere Zeit und abseits aller touristisch-westlichen Infrastruktur, war in etwa so gering wie, dass jener zu klein geratene Sohn eines Polizisten und einer Kellnerin aus einem bayerisch-österreichischen Grenzdorf 2005 der erste deutsche Papst seit 500 Jahren wurde. Wie konnte es nur dazu kommen?

Diese Geschichte beginnt 1984 mit der CD African Marketplace von Dollar Brand, einem schwarzen Pianisten aus Südafrika. Ich spiele Klavier und komponiere, seit ich fünf bin, ich liebe die Melancholie Chopins, das Pathos Beethovens und Schuberts Wehmut, aber diese Musik, Dollar Brand, hat mich mitten ins Herz getroffen. Diese unbedingte Energie, dieses Ja zum Leben, dieser Enthusiasmus, darin habe ich mich wiedererkannt. Hier war endlich Musik, die meinem Lebensgefühl entsprach: wild, emotional, hemmungslos positiv, vor Freude übersprudelnd. Meine Liebe zu Afrika begann also als Fernbeziehung: Ich hörte afrikanische Musik und begann wenige Jahre später, Musik für klassische Ensembles zu komponieren, die von diesem Geist inspiriert war. Aber im Traum wäre ich nicht auf die Idee gekommen, selbst dorthin zu reisen.

Und dann kam Couchsurfing. Eine klassische Subkultur: Obwohl die meisten noch nie davon gehört haben, sind allein in Deutschland über 1,2 Millionen Gastgeber bei Couchsurfing.com registriert. Sie nehmen kostenlos Reisende bei sich zu Hause auf – für eine Nacht, eine Woche oder sogar länger. »Wir hatten diesen Christoph, er kam auch aus Deutschland, so wie du«, erzählt Ruth, meine Gastgeberin in Naivasha, Kenia. »Er wollte nur einen Monat bleiben. Am Ende blieb er zwei Jahre – und heiratete ein Mädchen hier aus dem Dorf. Inzwischen leben die beiden in Deutschland.«

Ich selbst begann 2012 damit, Couchsurfer aus aller Welt in meiner Hamburger Wohnung aufzunehmen: einen Opernsänger aus Sydney, ein Filmemacherpärchen aus Sankt Petersburg, eine wanderlustige Chinesin, eine Konzertpianistin aus Südkorea, eine nach Indien ausgewanderte französische Fotografin, eine ehrgeizige Geigerin aus Spanien, eine türkische Liedermacherin, eine vor Energie sprühende Körpertherapeutin aus der Schweiz.

Und viele, viele mehr. Und dann war da Douglas, ein amerikanischer Christ, der über zehn Jahre Entwicklungshilfe in Afrika geleistet hatte. Wir tranken Kaffee, liefen um die Alster, aßen Kaiserschmarrn im Cliff, und Douglas erzählte mir von seiner Zeit in Tansania. Das ist dieser magische Moment beim Couchsurfing: Zwei Wildfremde begegnen sich, öffnen einander ihr Herz, erzählen sich ihr Leben. Als hätte man beim Schicksal ein Los gezogen. Der Zauber funktioniert fast immer: Man hat sich einander anvertraut. Also vertraut man einander. Und gibt sich preis. Das ist etwas anderes als ein Smalltalk mit einem Kellner, einem Tourguide oder einem Sitznachbarn im Zug. Es geht immer ums Ganze.

Zehn Jahre hatte Douglas in einer abgelegenen Gegend Tansanias verbracht. Ein Engländer spendete seinem Dorf eine ganze Bibliothek und eröffnete sie feierlich. »Das war bestimmt gut gemeint«, erzählt Douglas. »Aber es waren lauter englische Bücher. Und dort kann niemand Englisch. Wenn überhaupt, dann Kiswahili.« Douglas zeigte den lokalen Künstlern, welche Art von Kunst die Touristen mögen und wie man sie im Netz präsentieren könnte. Er hatte einen Waisenjungen von der Straße aufgelesen und adoptiert und ein Musik- und Tanzfestival ins Leben gerufen, das zu internationaler Berühmtheit gelangte und sich vor Besuchern nicht retten konnte. Leider ging das Festival ein, sobald er in die USA zurückgekehrt war.

Und während Douglas erzählte und erzählte, pflanzte er in mein Herz den Traum, endlich den Kontinent zu bereisen, auf den ich mich nie getraut hatte. Denn obwohl er zehn Jahre dort gelebt hatte, saß er jetzt vor mir und aß Kaiserschmarrn, ohne Narben, Prothesen und Augenklappe. In dem Moment wusste ich: Die Zeit der Ausreden und Ängste ist vorbei. Ich muss nach Afrika.

Und so machte ich mich – trotz der panikartigen Warnungen meiner Freunde und meiner Familie – auf meine erste, große Afrikareise im Januar und Februar 2017. Sie führte mich durch Äthiopien, Uganda, Südafrika und Ghana. In Addis Abeba, Kampala und Accra meldeten sich über fünfzig Couchsurfing-Gastgeber, die mich unbedingt eine Woche bei sich aufnehmen wollten. »Ich habe noch nie mit einem Weißen gesprochen«, schrieb mir ein Gastgeber in Kampala, »ich möchte dich unbedingt hosten!« Was ich davon zu Hause erzählte, beeindruckte meinen Sohn so sehr, dass wir 2018 zusammen vier Wochen durch Uganda reisten. 2019 couchsurfte ich durch Kenia und 2021, mitten in der Pandemie, fünf Wochen durchs restriktionsfreie Tansania, eine fast surreale Erfahrung.

Ich bin also Wiederholungstäter. Mich zieht es immer wieder auf den Kontinent. Das hat zum einen mit mir persönlich zu tun. Für mitteleuropäische Verhältnisse rede ich nämlich zu laut und zu hektisch, lache zu wild und umarme Menschen zu schnell. In Afrika bin ich damit eher etwas unter dem Durchschnitt. Dort fällt dieses Verhalten nicht weiter auf: Wenn ich Afrikanern diese Geschichte erzähle, lachen sie überrascht. Sie rechnen nicht damit, dass ein Weißer etwas Selbstironisches erzählt. Aus ihrer Sicht sind wir Menschen, die nicht zu leben verstehen: kein Spaß, kein Tanz, keine Party, kein Sex, keine Religion, keine Tradition, keine Kinder. Nur Geld und Karriere. Armer Muzungu!

Nach Afrika zu reisen ist auch eine Art Reality Check. Ein anderer Planet. Bei uns zahlt man sechzig Euro Strafe, wenn man bei einer leeren Straße über eine rote Ampel geht. Dort gibt es kaum Ampeln. Wir beklagen uns über die Verspätungen der Deutschen Bahn. Dort gibt es fast keine Züge. Bei uns kann man fast kostenlos studieren, dort nehmen sogar die Grundschulen Gebühren (die sich keineswegs alle leisten können). Dort stellen sich die Menschen, die ich treffe, mit ihrem Namen und ihrem Tribe vor, und beim Einchecken im Hotel muss ich angeben, zu welchem Tribe ich gehöre. Bei uns bringen Eltern ihre Kinder zum Ballett, zum Fechten und zum Klavierunterricht, dort laufen die meisten Kinder in großen Gruppen durch die Gegend, ohne einen Erwachsenen in Sichtweite. Bei uns hat der Pfarrer Mühe, die wenigen Gottesdienstbesucher zum Singen zu motivieren, dort kann ein überfüllter Gottesdienst nach fünf Stunden wegen Lärmbelästigung von der Polizei beendet werden. Bei uns kosten fünfzehn Minuten Taxifahren fünfundzwanzig Euro, dort zahle ich für eine ähnliche Strecke auf dem Motorradtaxi dreißig Cent, und der Fahrer gestikuliert mit einer Hand oder sogar beiden Händen, während er im Stockdunkeln ohne Helm eine Schotterpiste entlangrast. Bei uns wird der Müll getrennt und zwei Mal die Woche abgeholt, dort sammelt er sich am Strand, am Stadtwald, neben Häusern oder auch mitten auf dem Gemüsemarkt in spontanen Haufen, die niemand wegräumt. Bei uns heiratet man, weil man sich dazu entschieden hat, dort muss man der Familie der Frau einen Brautpreis zahlen – in Höhe von mehreren Jahreseinkommen. Bei uns bekommt man für einen Ladendiebstahl eine kleine Bewährungsstrafe, dort kann man mit ein wenig Pech für ein geklautes Huhn zehn Jahre ins Gefängnis wandern. Wir verdienen im Schnitt ein paar Tausend Euro im Monat, Ugander und Tansanier verdienen zwischen 400 und 600 Dollar im Jahr. Das ist für sie völlig normal. Und meistens tragen sie trotzdem schickere Schuhe als wir.

Das Improvisationstalent kennt keine Grenzen. Holzbrettbuden dienen als Läden, Wellblechhütten als Kirchen, Wassereimer als Dusche, ein Loch im Boden als Toilette, eine nackte, schwache Glühbirne als Wohnzimmerbeleuchtung und zerbeulte, uralte Kleinbusse (»Matatus«) als Hauptverkehrsmittel. Es sind Lebensumstände, die viele von uns als widrig und deprimierend empfinden – und wenn zwei Muzungus in Afrika aufeinandertreffen, reden sie sehr bald darüber, wie man die Dinge dort verbessern könnte. Aber dann gibt es eben das, was ich das afrikanische Paradox nenne: Wir sind diejenigen, die eher Grau und Schwarz tragen, ihre Kleider sind bunt. Unsere Lieder sind traurig, ihre fröhlich; wir leiden unter Depressionen und schlechter Laune, sie sprühen vor Energie und Selbstironie; wir sehen das Ende der Welt nahen, sie bersten vor Optimismus. Man verzeihe mir diese fürchterlichen Verallgemeinerungen. Aber der Kontrast ist so offenkundig, so spürbar, so allgegenwärtig wie der zwischen europäischem Einzelkind und afrikanischer Großfamilie, zwischen hochmodernem ICE und zerbeultem Matatu, zwischen ekstatischem Gesang und leise gemurmeltem Vaterunser. Ich liebe diese Energie. Ich...

Erscheint lt. Verlag 25.7.2022
Zusatzinfo mit 16-seitigem vierfarbigen Bildteil
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Afrika
Schlagworte 2022 • Abenteuer & Reiseberichte • Afrika • Bestsellerautor • Diversität • eBooks • Erika Fatland • Ich bin eine Dame, Sie Arschloch! • Ich hab dich rein optisch nicht verstanden • Kolonialismus • Kolonialismus Afrika • Neuerscheinung • Reise • Reisebericht • Reisen • Stephan Orth • Subsahara
ISBN-10 3-641-27620-9 / 3641276209
ISBN-13 978-3-641-27620-1 / 9783641276201
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