Gebrauchsanweisung für die Niederlande (eBook)
224 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60068-2 (ISBN)
Kerstin Schweighöfer, Jahrgang 1960, besuchte nach ihrem Studium der Romanistik, Politologie und Kunstgeschichte in München und Lyon die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg. Seit 1990 lebt sie als freie Autorin und Auslandskorrespondentin in den Niederlanden und arbeitet vorwiegend für die ARD-Hörfunkanstalten, den Deutschlandfunk, das Nachrichtenmagazin Focus und das Kunstmagazin Art. Sie veröffentlichte unter anderem den Bestseller »100 Jahre Leben«, verschiedene Reiseführer über Flandern und zuletzt mit Dieter Quermann 'Ein Herz bricht selten allein«.
Kerstin Schweighöfer, Jahrgang 1960, besuchte nach ihrem Studium in München und Lyon die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg. Seit 1990 lebt sie als freie Autorin und Auslandskorrespondentin in den Niederlanden und arbeitet vorwiegend für die ARD-Hörfunkanstalten, den Deutschlandfunk, das Nachrichtenmagazin Focus und das Kunstmagazin Art.
Die Niederländer – ein Crashkurs
Um das gleich am Anfang zu klären: Alle Holländer sind Niederländer, aber nicht alle Niederländer Holländer. Dazu zählen nur die in den beiden Küstenprovinzen Süd- und Nordholland lebenden Menschen. Doch weil die schon vor Jahrhunderten, damals, als die Niederlande entstanden, am mächtigsten und reichsten waren, bürgerte sich Holland als Synonym für die Niederlande ein. Wobei bei Weitem nicht alle Niederländer damit einverstanden sind, auf Holländer reduziert zu werden. Weil das ungefähr so ist, als bezeichnete man alle Deutschen als Bayern oder Schwaben. Wie würden Sie sich da als Nicht-Bayer oder Nicht-Schwabe fühlen? Na, sehen Sie! Genauso geht es auch den Nicht-Holländern.
Und damit nicht genug: Wir Deutschen beschränken unser kleines Nachbarland im Westen auch gerne auf Tomaten und Tulpen, auf Kiffen, Käse und Holzschuhe, die Klompen. Hand aufs Herz: An was denken Sie bei Holland als Allererstes? Ertappt? Sie brauchen gar nicht so schuldbewusst dreinschauen, mir ging es nicht anders, als ich vor gut dreißig Jahren der Liebe wegen die Alpen gegen die Nordsee eintauschte. Ich bin da aufgewachsen, wo der Rhein entspringt, im Bodenseeraum. Jetzt lebe ich an seinem anderen Ende – da, wo er in die Nordsee mündet. Für mich als Süddeutsche waren die Niederlande wirklich extrem weit weg. Ich war es gewohnt, nach Süd oder Südwest zu schauen, nach Frankreich und Italien. Aber doch nicht über die Schulter rauf nach Nordwest!
Und auch ich dachte bei Holland (ja, Holland!) als Erstes an Tomaten und Tulpen, an Kiffen, Käse und Klompen. Vielleicht auch noch an den Kampf gegen das Wasser. Und die sprichwörtliche Lässigkeit der Niederländer, die so herrlich unkompliziert sein sollten, ohne Respekt vor Autoritäten. Die nicht nur jeden sofort duzten, sondern auch den Drang hatten, alles zu verkleinern und zu verniedlichen, indem sie überall ein je oder tje dranhängten. Dropje voor dropje kwaliteit – mit diesem Reklamespruch für Dosenmilch bin ich aufgewachsen. Aus einer Tasse wird hinter den Deichen ein Tässchen, ein kopje. Aus einem Bier ein biertje. Und ihr Land selbst bezeichnen die Niederländer gerne liebevoll als kikkerlandje, als Froschländchen. Weil es angeblich so kühl und nass ist.
Glauben Sie mir: Das ist das einzige der genannten Klischees und Vorurteile, das NICHT stimmt. Jedenfalls nicht mehr. Der Klimawandel hat den Sommern an der niederländischen Nordseeküste mediterranen Charakter verschafft, der (auch in meinem Garten) Palmen gedeihen lässt. Es werden am laufenden Band Hitzerekorde gebrochen. So wie 2020: Da dauerte die Hitzewelle im August zwei Wochen lang an; an acht Tagen hintereinander wurden weit über dreißig Grad gemessen. Das hatte es noch nie gegeben. Zum Leidwesen der kikker.
Ansonsten aber haben die aufgeführten Stereotypen durchaus ihre Richtigkeit: Käse, Tomaten und Tulpen gehören nun mal zu den beliebtesten Exportschlagern der Niederlande (Hasch übrigens auch, es liegt Schätzungen zufolge vor der Salatgurke und nach den Champignons auf Platz vier, aber daran werden die Niederländer eher ungern erinnert). Wobei den Tomaten in Deutschland nach wie vor das Image von Wasserbomben anhaftet – zum Leidwesen ihrer Züchter und inzwischen auch völlig zu Unrecht. Die Tulpe dagegen hat es schon vor Jahrzehnten geschafft, zum Nationalsymbol aufzusteigen. Für eine Immigrantin aus Kleinasien eine beachtliche und heute recht utopische Karriere.
Was den Verkleinerungsdrang der Niederländer betrifft: Der kann, ohne zu übertreiben, als Wahn bezeichnet werden, vor dem nichts sicher ist – weder plantjes und beestjes, also Flora und Fauna, noch mannetjes und vrouwtjes, also die Menschheit. Eigentlich werden nur Verbrecher und der König nicht verkleinert.
Gegen das Duzen hingegen ist wirklich niemand gefeit – noch nicht einmal Willem Alexander samt Gattin Máxima und Mutter Beatrix. Aber die Niederländer sind nun mal weitaus weniger formell als Deutsche oder Franzosen. Obrigkeitsdenken ist ihnen fremd. Dafür sind sie sehr direkt und halten selbst einfachste Höflichkeitsregeln für überflüssig, auch bei Wildfremden. Willem, ein holländischer Kollege von mir, kam vor nicht allzu langer Zeit fassungslos von einer Radtour entlang der Mosel zurück: Er war bei Koblenz vom Weg abgekommen, genauer gesagt vom Fluss, hatte sich den erstbesten Passanten geschnappt, ihm im schönsten Rudi-Carrell-Deutsch (»Weißt DU vielleicht, wo ich hier bin?«) die Landkarte direkt vor die Nase gehalten – und sich dann gewundert, dass der arme Mann erschrocken mehr als einen Meter zurücksprang.
Meine neuen Landsleute sind auch allergisch gegen Bevormundung. »Laat me«, lass mich, heißt nicht umsonst eines der schönsten und bekanntesten Lieder des 2009 verstorbenen niederländischen Chansonniers Ramses Shaffy, das auch zu meinen Lieblingsliedern gehört: »Lass mich einfach gewähren«, singt er da. »Laat me mijn eigen gang maar gaan.«
An dieser Stelle eine kleine Aussprachehilfe: ij wird e-i ausgesprochen, das Rijksmuseum ist also das Re-iksmuseum. Oe ist u – Koe wie Kuh. Ou ist au – bouwen wie bauen. Und eu ist ö – Europa wird hier also Öropa ausgesprochen. Und der Keukenhof (da, wo so viele Tulpen blühen) ist der Kökenhoff. Die belgische Stadt Leuven wird wie Löwen ausgesprochen. Und Köln ist Keulen, Kölen. Das hilft enorm beim Lesen, dann versteht man sofort deutlich mehr. Ach ja, und g ist natürlich ein ch wie im deutschen ach.
Eigenverantwortlichkeit wird in meiner Wahlheimat großgeschrieben, von radikalen Verboten nicht viel gehalten. Dazu sind die Niederländer viel zu pragmatisch. Und sie haben einen ungeheuren Drang nach Transparenz. Das hat mit dem Calvinismus zu tun, denn bei guten Calvinisten wird nichts verborgen (deshalb die einst offenen Gardinen, die allerdings hinter immer mehr Fenstern zugezogen werden). Jedenfalls schrecken die Niederländer davor zurück, etwas zu verbieten: Es könnte ja trotzdem weiterhin geschehen, nur heimlich, unkontrollierbar und eben nicht mehr transparent. Und da ist durchaus was dran.
Das hat zur Politik des gedogens geführt, ein Schlüsselbegriff in der niederländischen Gesellschaft. Gedogen bedeutet tolerieren oder dulden. Ein berühmtes Beispiel für gedogen ist das blowen, wie das Kiffen hier heißt – also der Konsum weicher Drogen. Sie sind auch in den Niederlanden nach wie vor illegal. Aber um den Haschraucher von der kriminellen harten Drogenszene fernzuhalten, darf er unter bestimmten Bedingungen in den Coffeeshops kiffen. Bei Prostitution und Abtreibung sind die Niederländer einen Schritt weiter gegangen: Beides ist inzwischen legal, wurde zuvor aber jahrelang nur gedoogd.
Ebenfalls ein mustergültiges Beispiel für den niederländischen Pragmatismus ist der Sterbehilfeparagraf: Es mag einige von Ihnen überraschen, aber auch in den Niederlanden ist Sterbehilfe verboten. Nur wenn der Arzt bestimmte Richtlinien einhält, muss er keine strafrechtlichen Folgen fürchten – dann wird Sterbehilfe gedoogd. Mit dieser Regelung hatten die Niederländer 2002 allen Protesten aus dem Ausland zum Trotz den internationalen Alleingang gewagt und wurden zu Wegbereitern.
Apropos Wegbereiter: Auch das ist typisch niederländisch, diese Unbefangenheit, diese Unerschrockenheit, mit der hier Neues umarmt und unbekannte Wege eingeschlagen werden. »Die Niederländer probieren es einfach aus«, erzählte mir ein deutscher Polizist aus dem Grenzgebiet einmal nicht ohne Neid und einigermaßen perplex. »Wenn’s schiefläuft, wird’s eingestellt, wenn’s gut ist, behält man es bei. Wir Deutsche hingegen – wir führen erst einmal jahrelang zig Studien und Untersuchungen durch.«
So kommt es, dass die Niederländer immer wieder die Nase vorne haben und als progressiv gelten. Weil sie sich mehr trauen als andere. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die gleichgeschlechtliche Ehe: Als erstes Land der Welt haben die Niederlande sie 2001 eingeführt. Weil jeder die Freiheit haben sollte, den zu heiraten, den er liebt – auch Männer einen Mann und Frauen eine Frau. Der beliebte homosexuelle Komiker und Schauspieler André van Duin bezeichnete die Niederlande als »Land, wo jeder er selbst sein kann«.
Doch auch wenn viele Stereotypen und Vorurteile ihre Berechtigung haben – machen Sie jetzt nicht den Fehler zu denken, damit habe sich die Sache erledigt, ansonsten werde es auf der anderen Seite der Grenze schon nicht sehr viel anders zugehen als zu Hause. Klingt nicht auch die Sprache der Niederländer ein bisschen wie ein drolliger deutscher Dialekt?
Schon wieder...
Erscheint lt. Verlag | 31.3.2022 |
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Zusatzinfo | Mit einer farbigen Karte |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte ► Europa |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
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ISBN-10 | 3-492-60068-9 / 3492600689 |
ISBN-13 | 978-3-492-60068-2 / 9783492600682 |
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