Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen (eBook)
224 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99951-9 (ISBN)
Jaroslav Rudi?, geboren 1972 in der Tschechoslowakei, lebt heute in Lomnice nad Popelkou und Berlin und ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Dramatiker und Musiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Bei Luchterhand erschienen u.a. seine Romane 'Grand Hotel', 'Vom Ende des Punks in Helsinki', 'Nationalstraße', 'Winterbergs letzte Reise' und bei btb 'Der Himmel unter Berlin'. Zudem publizierte er die Graphic Novels 'Alois Nebel' (mit Jaromír 99) und 'Nachtgestalten' (mit Nicolas Mahler). 2012/13 hatte Rudi? die Siegfried-Unseld-Gastprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. 2014 wurde er mit dem Usedomer Literaturpreis ausgezeichnet und 2018 erhielt er den Preis der Literaturhäuser. 2019 wurde er für seinen Roman 'Winterbergs letzte Reise' - der erste Band, den er auf Deutsch verfasst hat - auf der Leipziger Buchmesse in der Kategorie 'Belletristik' nominiert. 2020 erhielt er dafür den Chamisso-Preis. Rudi?' Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und verfilmt.
Jaroslav Rudiš, geboren 1972 in der Tschechoslowakei, lebt heute in Lomnice nad Popelkou und Berlin und ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Dramatiker und Musiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Bei Luchterhand erschienen u.a. seine Romane "Grand Hotel", "Vom Ende des Punks in Helsinki", "Nationalstraße", "Winterbergs letzte Reise" und bei btb "Der Himmel unter Berlin". Zudem publizierte er die Graphic Novels "Alois Nebel" (mit Jaromír 99) und "Nachtgestalten" (mit Nicolas Mahler). 2012/13 hatte Rudiš die Siegfried-Unseld-Gastprofessur an der Humboldt-Universität zu Berlin inne. 2014 wurde er mit dem Usedomer Literaturpreis ausgezeichnet und 2018 erhielt er den Preis der Literaturhäuser. 2019 wurde er für seinen Roman "Winterbergs letzte Reise" – der erste Band, den er auf Deutsch verfasst hat – auf der Leipziger Buchmesse in der Kategorie "Belletristik" nominiert. 2020 erhielt er dafür den Chamisso-Preis. Rudiš' Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und verfilmt.
Wunsch, Eisenbahner zu werden
Diese verdammte Brille, die ich tragen muss. Doch es geht nicht anders. Ohne Brille verschwindet die Welt um mich herum in dichtem Nebel. Alles bleibt verschwommen und geheimnisvoll zurück. Die Stadt wird zum Wald. Die Menschen auf der Straße zu Tieren. Eigentlich ist es manchmal ganz angenehm, so die Realität verschwinden zu lassen, etwas Unerwartetes zu erleben und sich in diesem Nebel ein wenig zu verstecken, doch das habe ich erst viel später gelernt.
Für einen Jungen, der Lokführer werden möchte, ist eine Sehschwäche allerdings ganz schlecht. Zumindest war es damals so, Mitte der Achtziger in der ČSSR, wo ich aufwuchs. Die Tschechoslowakischen Staatsbahnen, Česko-
slovenské státní dráhy, kurz ČSD, wollten leider niemanden, der die Signale in der Ferne nicht richtig erkennen kann und die roten Schlusslichter eines Schnellzuges womöglich mit den Sternen am Himmel verwechselt. Niemanden mit vernebelten Augen. Niemanden, der nicht blind ist, aber in gewisser Weise eben doch. Niemanden wie mich.
Dabei sah alles so gut aus! Ich hatte für den Beruf eines Eisenbahners alle Voraussetzungen, die man sich nur vorstellen kann. Ich liebte die Eisenbahn, und dank meiner Familie hatte ich die perfekte Vorausbildung. Und auch heute bin ich noch fest davon überzeugt, dass aus mir ein guter und treuer Eisenbahner geworden wäre, der das ganze Leben lang stolz die blaue Uniform getragen hätte. Ein Lokführer wie mein Cousin Ivan. Ein Fahrdienstleiter und Bahnhofsvorsteher wie mein Onkel Miroslav. Oder ein Weichensteller wie mein Großvater, der melancholische Alois, der alte Fahrpläne auswendig kannte.
Vor allem mein Onkel Miroslav und mein Großvater Alois waren stolz auf ihren Berufsstand. Sie heirateten in ihrer Eisenbahneruniform und wurden in ihrer Eisenbahneruniform auch begraben. Ja, ganz sicher wäre ich heute auch dabei, wie ein richtiger Bahner. Aber auch das wird mir die Brille verwehren, eine schöne Eisenbahnerhochzeit und ein schönes Eisenbahnerbegräbnis, auf dem manchmal zum Trost die Zugabläufe aus den Kursbüchern rezitiert werden, wie mir mein Onkel erzählte.
Doch diese verdammte Brille. Für die ČSD war man blind und muss sich deshalb auch noch Gedanken darüber machen, was für einen Anzug man mal auf seiner Beerdigung tragen soll, denn man hat im Schrank nicht diese Uniform hängen: die Hose, das Jackett, den Mantel und die flache Mütze. Alles in einem satten Dunkelblau. Mein Onkel sah darin wie ein Matrose aus. Mit der Mütze und den Schulterstücken sogar fast wie ein Kapitän. Oder ein Major. Der Schnitt der Uniform wirkt bis heute ein wenig militärisch. Deshalb nennt man die Eisenbahner auch manchmal die »Blaue Armee«. Doch es wird noch besser: Im Christentum ist Blau die Farbe des Himmels und der Gottesmutter Maria. Von wegen Kapitän oder Major. Eisenbahner sind Geistliche, Heilige und Märtyrer, deren heilige Schrift das Kursbuch ist. Und das Flügelrad, das viele Bahner stolz auf ihren Mützen tragen, sieht wie ein kleiner Engel mit Flügeln aus. Dieses internationale Ursymbol der Eisenbahn hat ebenfalls etwas Göttliches. Nicht umsonst bezeichnet man die großen Bahnhofsgebäude auch als »Kathedralen des Verkehrs«. Die kleineren Bauten, so wie in Lomnice nad Popelkou, wo ich aufwuchs, sind dann Kirchen. Und die Haltepunkte Kapellen.
Ich wäre ein guter Eisenbahner geworden. Entweder ein guter Matrose oder Heiliger oder Soldat der Blauen Armee, dessen Schlachtpläne zum Glück die Fahrpläne wären. Und dessen Waffen keine Panzer wären, sondern Lokomotiven, die jedoch genauso schwer und gewaltig sein können und die man auch zu fahren und zu bedienen lernen muss. Vier Jahre hätte ich dafür in die Eisenbahnerschule nach Česká Třebová gehen müssen. Und das hätte ich natürlich gemacht, ganz klar. Ich war für alles bereit. Doch diese verdammte Brille, die ich bis heute tragen muss, machte mir einen Strich durch die Rechnung.
Ich weiß nicht mehr genau, wie meine Liebe zur Eisenbahn entflammte. Aber ziemlich sicher hängt es mit meiner Familiengeschichte zusammen. Ich kenne mittlerweile viele echte Bahner und Bahnerinnen, aber natürlich auch viele Hobbybahner und Hobbybahnerinnen, bei denen es ähnlich verlief, die sich schon während ihrer Kindheit in die Eisenbahn verliebten. Der Vater war bei der Eisenbahn, die Mutter war bei der Eisenbahn, und so später der Sohn, die Tochter. Es lohnt sich ja auch, bei der Eisenbahn zu arbeiten. Man bekommt neben der Uniform den wunderbaren schwarzen Lokführerrucksack, in den alles passt, was man für eine Reise braucht, oder sogar einen Rollkoffer, in den noch mehr passt, wenn man länger unterwegs ist. Und dazu noch eine Netzkarte für Freifahrten, manchmal sogar für die ganze Familie. Und früher gab es bei der ČSD für wenig Geld auch eine Wohnung am Bahnhof und einen Haufen Kohle für den langen böhmischen Winter. Und eine gute Pension. Das war sicher bei den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), der Deutschen Bundesbahn (DB), der Deutschen Reichsbahn (DR) oder den Schweizer Bundesbahnen (SBB) ähnlich. Doch allein deswegen macht man diesen anstrengenden Job mit den vielen Nachtschichten und nicht freien Feiertagen natürlich nicht. Man muss ihn vor allem lieben.
Meine Eltern waren zwar nicht bei der Eisenbahn angestellt. Doch bestimmt hängt die Liebe zur Eisenbahn mit meinem Onkel Miroslav zusammen, der in Lomnice als Fahrdienstleiter ein paar Jahre auf die Züge aufpasste und den ich oft am Bahnhof besuchte. Oder vielleicht auch damit, dass sich meine Eltern im Zug kennenlernten? Mein Vater war damals Soldat, meine Mutter kurz davor, ihre Ausbildung zur Kindergärtnerin abzuschließen. Im Zug zwischen Stará Paka und Jaroměř bekam sie Bauchschmerzen, mein Vater machte sich Sorgen und brachte sie vom Bahnhof sofort ins Militärkrankenhaus in der alten Festungsstadt Josefov, einem Vorort von Jaroměř, wo er bei der Luftabwehr stationiert war. Eine böse Blinddarmentzündung. Eine lebensrettende Operation. Eine große Liebe, die bis heute anhält. Und auch eine Brille, die beide tragen und mir vererbten. Doch kann man da böse sein? Nein, kann man nicht.
Lomnice nad Popelkou ist ein Industriestädtchen mit fünftausend Einwohnern. Unmittelbar in der Mitte Europas gelegen, wenn ich auf meine Eisenbahnkarte von Europa aus dem Jahr 1913 schaue, die über meinem Schreibtisch in Berlin hängt. Die hügelige Gegend, aus der ich komme, heißt Český ráj – Böhmisches Paradies. Malerisch ist es dort: ein paar Burgen, Barockschlösser, Felsen, Seen und auch gute kleine Brauereien. Und natürlich gleich mehrere Eisenbahnstrecken.
Zum Paradies wurde für mich schon früh unser kleiner Bahnhof mit den kurzen Gleisen und den Weichen, die man heute noch von Hand und mit viel Muskelkraft umstellen muss, wenn ein Gegenzug kommt oder wenn rangiert wird. Die Schlüssel zu den Weichen und damit zum ganzen Bahnhof hängen weiterhin in einem kleinen Glasschrank im Zimmer des Fahrdienstleiters.
Alles genauso wie 1906, als Lomnice an das endlose Eisenbahnnetz von Österreich, dessen Teil Böhmen vierhundert Jahre lang bis 1918 war, angeschlossen wurde und somit auch an die ganze Welt. Bis 1918 wurden die meisten Strecken auf dem Gebiet des heutigen Tschechien gebaut. Aber nicht nur dort. Auch in der Slowakei, in Ungarn, Kroatien, Polen und Deutschland. Oder in der Schweiz.
Als am 1. Juni 1906 der erste Zug von Stará Paka nach Lomnice kam, war es eine wahre Revolution, die man vielleicht nur mit der Eröffnung der lokalen Brauerei ein paar Jahrhunderte vorher vergleichen kann. Man sagt, dass Wallenstein auf den Schlachtfeldern des Dreißigjährigen Krieges gern unser Bier trank. Vielleicht ist der Anschluss unserer Stadt an das Streckennetz auch noch mit dem Anschluss an das Internet etwa hundert Jahre später vergleichbar. Plötzlich wurde alles greifbar nah, und die Stadt profitiert bis heute davon. Nicht nur die lokale Textil- und Keksindustrie, sondern auch die Menschen wurden dadurch mit der Welt verbunden.
Von da an war es nicht nur möglich, nach Hradec Králové oder Liberec zu fahren, beides Städte, die schon 1859 mit der Eisenbahn erreichbar waren, sondern auch nach Prag, in die Hauptstadt von Böhmen und heute von ganz Tschechien. Oder nach Wien, in unsere Hauptstadt während der K.-u.-k.-Monarchie.
Doch wenn man Lust gehabt hätte, hätte man auch bis nach Hamburg reisen können. 1906, in diesem für Lomnice schicksalhaften Jahr, strömten hier zum ersten Mal Massen von Reisenden durch den neuen Hauptbahnhof, so wie sie es heute noch tun. Man konnte auch nach Klagenfurt und weiter nach Aßling, ins heutige Jesenice in Slowenien, fahren, das damals ebenfalls ein Teil von Österreich war. 1906 ratterte hier der erste Zug durch den Karawankentunnel der Rosentalbahn Richtung Süden, auf einer wichtigen Strecke der sogenannten Neuen Alpenbahnen. Es war möglich, von hier aus mit der Wocheinerbahn, die auch 1906 eröffnet wurde, nach Triest, heute Italien und damals ebenso Österreich, weiterzureisen.
Hamburg, Wien, Triest, wie schön sich das schon anhört, wenn man sich nur die einzelnen Stationen vor Augen führt. Man hat sofort Lust, in den Zug zu steigen und loszufahren. Doch als Kind und Teenager hinter dem Eisernen Vorhang konnte ich davon nur träumen. Alles schien mir so fern und unerreichbar zu sein. Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwann wirklich mal in Hamburg oder Triest aus dem Zug steigen würde. Denn wie so viele war ich eingesperrt in einem Land, dessen Bürgern es gerade mal erlaubt war, in die DDR oder mit dem Nachtzug über Ungarn nach Bulgarien oder manchmal bis nach Jugoslawien zu reisen. Viel mehr ging nicht. Sogar die Sowjetunion...
Erscheint lt. Verlag | 30.9.2021 |
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Zusatzinfo | Mit einer farbigen Karte |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Natur / Technik ► Fahrzeuge / Flugzeuge / Schiffe ► Schienenfahrzeuge |
Reisen ► Reiseberichte ► Europa | |
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ISBN-10 | 3-492-99951-4 / 3492999514 |
ISBN-13 | 978-3-492-99951-9 / 9783492999519 |
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