Irrenhaus am Ende der Welt (eBook)

Die Reise der Belgica in die dunkle antarktische Nacht. Die Belgica-Expedition von 1897-1899
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2021 | 1. Auflage
496 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99916-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Irrenhaus am Ende der Welt -  Julian Sancton
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»Ein seltenes Juwel der Sachbuchliteratur« Walter Isaacson Im August 1897 bricht der belgische Kommandant Adrien de Gerlache auf, um die Antarktis zu erobern. Bereits auf dem Weg gen Süden gibt es zahlreiche Rückschläge: Stürme, Beinahe-Meutereien, Strandungen. Als der nach Ruhm strebende de Gerlache schließlich vor der Wahl steht, geschlagen nach Hause zurückzukehren oder kurz vor Wintereinbruch tiefer ins Eis zu fahren, entscheidet er sich für Letzteres - mit fatalen Folgen. Die Belgica bleibt im Packeis stecken. Gefangen in völliger Isolation und endloser Nacht, geplagt von Krankheit, Hunger und Monotonie, greift bald der Wahnsinn um sich. Der Arzt Frederick Cook und der junge Roald Amundsen werden mit ihrem grenzenlosen Optimismus für die Mannschaft überlebenswichtig ... »Dieser packende Bericht über die Belgische Antarktis-Expedition von 1897 bietet Meuterei, Gefahr und das Urteil des jungen Roald Amundsen über rohes Robbenfleisch.« The Guardian

Julian Sancton wuchs in den Vereinigten Staaten und in Frankreich auf und arbeitete nach dem Studium der europäischen Geschichte in Harvard als Journalist u.a. für Vanity Fair, Esquire, The New Yorker und Wired. Er hat von jedem Kontinent der Welt berichtet, einschließlich der Antarktis, die er erstmals für die Recherche zu seinem ersten Buch »Irrenhaus am Ende der Welt« besuchte. Derzeit ist er Redakteur bei The Hollywood Reporter und lebt mit seiner Familie in Larchmont, New York.

Julian Sancton wuchs in den Vereinigten Staaten und in Frankreich auf und arbeitete nach dem Studium der europäischen Geschichte in Harvard als Journalist u.a. für "Vanity Fair", "Esquire", "The New Yorker" und "Wired". Mittlerweile berichtet er für das Magazin "Departure" über Kultur- und Reisethemen. Er lebt in Larchmont, New York; "Irrenhaus am Ende der Welt" ist sein erstes Buch.

KAPITEL 1


WARUM NICHT BELGIEN?


16. August 1897 Antwerpen

Die Schelde wand sich träge vom Norden Frankreichs durch Belgien und bog beim Hafen von Antwerpen, wo sie tief und breit genug für Hochseeschiffe wurde, scharf nach Westen ab. Es war ein wolkenloser Sommermorgen, und mehr als 20 000 Menschen drängten sich in der Stadt entlang des Flussufers, um der feierlich auslaufenden Belgica zuzujubeln. Der 34 Meter lange, dreimastige Walfänger – ausgestattet mit einem frischen, stahlgrauen Anstrich und einem kohlebefeuerten Motor – war auf dem Weg in die Antarktis, um ihre unerforschten Küsten zu kartieren und Erkenntnisse über ihre Fauna, Flora und Geologie zu gewinnen. Was die Menge heute jedoch hierherführte, war weniger die Aussicht auf wissenschaftliche Entdeckungen als vielmehr Nationalstolz: Das kleine Land Belgien, das erst 67 Jahre zuvor seine Unabhängigkeit von Holland erklärt hatte und damit jünger war als viele seiner Einwohner, machte sich daran, die Grenzen der Forschungsgeschichte neu zu ziehen.

Um zehn Uhr lichtete das Schiff den Anker und segelte gemächlich Richtung Nordsee, so schwer beladen mit Kohle, Proviant und Ausrüstung, dass sein Deck nur einen halben Meter aus dem Wasser herausragte. Begleitet von einer Flottille von Jachten, auf denen sich Regierungsvertreter, Gratulanten und Journalisten versammelt hatten, glitt die Belgica stolz durch Antwerpen: vorbei an den beflaggten Häusern des Hafenviertels, der prächtigen gotischen Kathedrale, die die Silhouette der Stadt dominierte, und an Het Steen, der Festung, die seit dem Mittelalter am Flussufer aufragte. Von einem Ponton aus hörte man eine Militärkapelle »La Brabançonne« spielen, die Nationalhymne Belgiens, deren Motiv so groß war wie das Land klein. Zu beiden Ufern der Schelde wurden Böllerschüsse abgefeuert. Schiffe aus der ganzen Welt ließen ihr Nebelhorn ertönen und hissten die schwarz-gelb-rote belgische Flagge. Jubelrufe wogten durch die Menge, als die Belgica vorübersegelte. Die ganze Stadt schien zu vibrieren.

Auf der Schiffsbrücke, den Blick zurück auf das aufgewühlte Meer aus Fahnen, Hüten und Taschentüchern gewandt, stand der 31-jährige Kommandant der Expedition, Adrien de Gerlache de Gomery. Sein Gesichtsausdruck ließ keine Gemütsregung erkennen, doch hinter seinen schweren Lidern verbarg sich eine glühende Begeisterung. Sein Äußeres war bis ins kleinste Detail auf diesen Augenblick abgestimmt, bis hin zu den aufwärts gezwirbelten Schurrbartenden, dem sorgfältig getrimmten Bart und dem Knoten in seiner Krawatte. De Gerlaches dunkler, zweireihiger Mantel war zu warm für diesen Augustmorgen – wenn auch bei Weitem nicht warm genug für das Eis am Ende der Welt –, doch er verlieh seinem Auftreten eine gewisse Schneidigkeit, wie sie einem Mann, der drauf und dran war, Geschichte zu schreiben, durchaus zustand. Der Kommandant schien den Beifall zu genießen, denn er griff immer wieder nach dem lackledernen Schirm seiner mit dem Emblem der Belgica verzierten Kappe, nahm sie vom Kopf und winkte damit der jubelnden Menge zu. Er hatte sich so lange nach diesem Jubel gesehnt, dass ihm der Startpunkt der Expedition fast wie die Ziellinie vorkam. »Meine Gemütsverfassung«, schrieb er, »war die eines Mannes, der soeben sein Ziel erreicht hat.«

In gewisser Weise traf dies sogar zu. Dass das Schiff überhaupt auslief, war de Gerlaches persönlicher Triumph. Trotz des tief empfundenen Patriotismus, der an diesem Morgen zu spüren war, war die Belgische Antarktis-Expedition weniger eine nationale Unternehmung als vielmehr Ausdruck Adrien de Gerlaches eisernen Willens. Über drei Jahre hatte er damit verbracht, die Route zu planen, eine Mannschaft zusammenzustellen und die nötigen Mittel für die Fahrt aufzubringen. Nur dank seiner Entschlossenheit hatte er Skeptiker überzeugen, Geldhähne sprudeln lassen und eine ganze Nation dazu bringen können, sein Vorhaben zu unterstützen. Auch wenn ihn noch 16 000 Kilometer von seinem Ziel trennten, gewährte ihm dieser Moment bereits einen Vorgeschmack auf den ersehnten Ruhm. Die Aufbruchsstimmung und seine ihm zujubelnden Landsleute ließen de Gerlache nur allzu leicht vergessen, dass dieser Ruhm nur geborgt war. Um ihn sich tatsächlich zu verdienen, würde er seine Reise in eine der unwirtlichsten Gegenden der Erde, durch einen Kontinent, der so lebensfeindlich war, dass es noch keinem Menschen gelungen war, mehr als ein paar Stunden an seinen Küsten zu verbringen, erst einmal überleben müssen.

Etwa zwanzig Kilometer nordwestlich von Antwerpen verlief die Grenze zwischen Belgien und den Niederlanden, quer über die Schelde hinweg. Bevor die Belgica sie kreuzte, legte sie am Kai von Liefkenshoek an, um eine letzte Sache zu erledigen. Während die Feierlichkeiten an Deck und auf den Jachten, die das Schiff umschwärmten, munter weitergingen, lief die Besatzung emsig zwischen Landungsplatz und Laderaum hin und her, um eine halbe Tonne Tonit zu verladen, einen Sprengstoff, dem eine größere Sprengkraft zugeschrieben wurde als Dynamit. Die Tonitstangen, die mehrere große Kisten im Laderaum des Schiffes füllten, waren de Gerlaches Lebensversicherung. Was genau ihn im antarktischen Eis erwarten würde, wusste er nicht, doch ihm war klar, dass man sich einem Kontinent, der die Menschen bis zum 19. Jahrhundert erfolgreich hatte abwehren können, mit einigem Respekt nähern musste. Aus seiner Sicht gab es gleich mehrere Möglichkeiten, wie das Schiff dort zerstört werden könnte: Es könnte einen Eisberg rammen oder auf ein unkartiertes Riff auflaufen. Doch das wohl gefürchtetste Szenario war, dass das Eis die Belgica einschließen würde und ihre Mannschaft verhungern ließe. Schon etliche berüchtigte Expeditionen in die Nordpolregion waren von einem solchen Schicksal ereilt worden. De Gerlache ging jedoch davon aus, dass eine halbe Tonne Tonit ausreichen würde, um den Griff des Meereises nötigenfalls zu lösen. Es war das erste Mal, dass er die Naturgewalten der Antarktis unterschätzte, doch es würde nicht das letzte Mal sein.

Während die Mannschaft das Tonit in den Laderaum brachte, verließ ein Grüppchen von Würdenträgern eine der Jachten und ging an Bord der Belgica, um de Gerlache und seinen Männern eine gute Reise zu wünschen. Als leidenschaftlicher Seemann fühlte sich der Kommandant auf dem Meer wesentlich wohler als in der Menge, und in den letzten drei Jahren war er des freundlichen Händeschüttelns überdrüssig geworden. Er hatte mehr Zeit damit zugebracht, anderen Geld abzuschwatzen, als er voraussichtlich in der Antarktis verbringen würde. So spürte er, während er Höflichkeiten mit Ministern, vermögenden Förderern und den weisen alten Herren der Königlichen Belgischen Geografischen Gesellschaft austauschte, seine Verpflichtungen ihnen gegenüber schwer auf sich lasten. Sein Respekt vor dem gefrorenen Kontinent war, wie sich später herausstellen sollte, nicht besonders groß; das Urteil dieser Männer aber fürchtete er umso mehr.

Sollte seine Unternehmung scheitern, würde er die Enttäuschung eines ganzen Landes auf sich nehmen müssen. Viel schlimmer jedoch war für ihn die Vorstellung, welche Schande dies für seine angesehene Familie bedeuten würde. Die de Gerlaches zählten zu den ältesten Adelsdynastien Belgiens und ihr Stammbaum ließ sich bis in das 14. Jahrhundert zurückverfolgen. Ein Verwandter, Baron Etienne-Constantin de Gerlache, war einer der Gründer der belgischen Nation, einer der maßgeblichen Mitgestalter der Verfassung des Landes sowie dessen erster Ministerpräsident gewesen (auch wenn seine Amtszeit gerade einmal neunzehn Tage gewährt hatte). Sowohl Adriens Großvater als auch sein Vater hatten sich als Militäroffiziere verdient gemacht. Ein de Gerlache war zu Höherem bestimmt – und das erwartete auch die Öffentlichkeit. Adriens Familie hatte der Presse und den Mitgliedern des Brüsseler Hochadels gegenüber demonstrativ ihre Unterstützung für sein Antarktisprojekt zugesagt und damit ihren guten Ruf auf seinen Erfolg verwettet. Das alles verstärkte den Erwartungsdruck, dem der Kommandant sich ausgesetzt sah.

Adriens Eltern, seine Schwester und sein Bruder – ein vielversprechender Leutnant – waren ebenfalls an Bord der Belgica gekommen, wo sie auch dann noch blieben, als die Würdenträger bereits auf ihre Jachten zurückgekehrt waren. Aus den Reihen der Förderer durfte lediglich Léonie Osterrieth bleiben, die engagierteste und leidenschaftlichste Unterstützerin der Expedition. Die füllige 54-jährige Witwe eines bekannten Antwerpener Kaufmanns behandelte de Gerlache wie ihren eigenen Sohn. Er wiederum nannte sie »Maman O.« und betrachtete sie als seine zuverlässigste Vertraute. (Angesichts ihrer großzügigen finanziellen Beteiligung an der Expedition verliehen die Männer ihr später den Spitznamen Mère Antarctique, was »Mutter Antarktis« bedeutet, aber auch gleichlautend mit Mer Antarctique – »Antarktisches Meer« – ist.) Als es ans Abschiednehmen ging, umarmte Adriens Vater, der ehrwürdige Auguste, sämtliche Mitglieder der Expedition, vom einfachen Matrosen bis zum Wissenschaftler, und nannte sie alle mit zitternder Stimme seine »lieben Kinder«. Emma, die Mutter des Kommandanten, schluchzte hemmungslos, als hätte sie eine Vorahnung, dass sie ihren ältesten Sohn vielleicht nie mehr wiedersehen würde. Georges Lecointe, der 28-jährige Kapitän des Schiffes, ein kleiner, streitbarer Bursche, schwor, er und der Rest der Männer würden für ihren Sohn ihr Leben einsetzen – und er war zweifellos jemand, der seine Versprechen hielt. Dann ließ er die Besatzung ein dreifaches »Lang lebe Madame de Gerlache!« anstimmen. Noch während der letzte...

Erscheint lt. Verlag 14.10.2021
Übersetzer Ulrike Frey
Zusatzinfo Mit 16 Seiten Bildteil und vier Karten
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Welt / Arktis / Antarktis
Reisen Reiseführer
Schlagworte 1897-1899 • Adrien de Gerlache • Antarktis • Belgica-Expedition • Frederick Cook • Historisches Abenteuer • Isolation • Packeis • Polar-Forschung • Polar-Geschichte • Polarnacht • Roald Amundsen • Schiff • Skorbut
ISBN-10 3-492-99916-6 / 3492999166
ISBN-13 978-3-492-99916-8 / 9783492999168
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