Der Inselvogt von Memmert (eBook)

Eine einsame Nordseeinsel, die Vögel und ich

(Autor)

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2021 | 1. Auflage
240 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-46127-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Inselvogt von Memmert -  Enno Janßen
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Wer träumt nicht vom Leben auf einer einsamen Insel? Enno Janßen ist der Inselvogt von Memmert, einer kleinen Insel im Wattenmeer zwischen Borkum und Juist. In diesem Buch erzählt Enno Janßen von seinem so einsamen wie erfüllten Leben auf der Nordsee-Insel und seiner spannenden Arbeit als Inselvogt und Vogelwart. Zwischen Anfang März und Ende Oktober ist er der einzige Mensch auf der Vogelschutzinsel mitten im Wattenmeer. Und nur schweren Herzens kehrt er für den Winter auf das Festland zurück, denn seine Liebe gehört der unberührten Natur, dem Tosen der Brandung und der faszinierenden Vogelwelt Memmerts. Sobald die Winterstürme vorbei sind, geht es los. Dann schnürt der groß gewachsene Mann mit dem Pferdeschwanz seinen Rucksack und setzt mit seinem kleinen Boot von der Nordseeinsel Juist aus über. Es ist seine einzige Verbindung zur Zivilisation, denn die Insel darf von anderen Menschen nur im Ausnahmefall betreten werden. Internet und E-Mail gibt es auf der Insel nicht, dafür ein reetgedecktes Häuschen, in dem er Inselvogt wohnt. Seine Nachbarn sind die Vögel. Memmert beherbergt knapp 60 Vogelarten, viele davon Zugvögel, die hier zum Brüten Zwischenstation machen und die Enno Janßen gewissenhaft zählt und beobachtet. Wenn die Brutsaison lange vorbei ist und viele der Vögel schließlich gen Süden weitergezogen sind, macht Enno Janßen sich daran, die Vogelschutzinsel und sein kleines Wohnhaus winterfest zu machen. Ende Oktober wird es dann auch Zeit für ihn, ans Festland zurückzukehren. Dann fährt er nach Hause zu seiner Familie - mit seinem kleinen Motorboot und gepacktem Rucksack.

Enno Janßen wurde 1961 an der Nordseeküste geboren, sein Vater stammte aus einer Fischerfamilie. Von Kindesbeinen an träumte er vom Leben auf einer einsamen Insel. Seit 2003 ist er Inselvogt auf Memmert, wo er den Großteil des Jahres verbringt. 

Enno Janßen wurde 1961 an der Nordseeküste geboren, sein Vater stammte aus einer Fischerfamilie. Von Kindesbeinen an träumte er vom Leben auf einer einsamen Insel. Seit 2003 ist er Inselvogt auf Memmert, wo er den Großteil des Jahres verbringt. 

2 So nah und doch so fern


Memmert … Sie werden nie hier gewesen sein. Auch ich habe mich von Memmert wohlweislich ferngehalten, als ein anderer noch Inselvogt war und ich von meinem jetzigen Dasein nicht mal zu träumen wagte. Denn über der legendären Vogelinsel schwebte ein großes, wenn auch unsichtbares Betreten-verboten-Schild, und das ist bis heute so. Memmert ist tabu, für Urlauber und Freizeitkapitäne, aber auch für meine nächsten Nachbarn auf Borkum und Juist.

Die Situation ist recht bizarr, das gebe ich zu. Juist ist zum Greifen nah, Borkum ebenfalls in Sichtweite, und des Nachts empfange ich die Lichtsignale des einen wie des anderen Leuchtturms. Um mich herum, am Himmel, auf dem Wasser, auf den Nachbarinseln, herrscht also normales Leben. Hubschrauber überfliegen Memmert auf dem Weg zu den Windkraftanlagen draußen im Meer, Tanker und Frachter ziehen in einiger Entfernung vorbei, und was die Yachthäfen am Festland und auf den Inseln an Booten fassen, das schwimmt früher oder später auch hier vorüber. Dazu kommen die alteingesessenen Insulaner, die Memmert genauso zu ihrem Revier rechnen wie das Wattenmeer und die offene See. Und sie alle, deutsche Touristen, holländische Touristen, Einheimische von der Küste und Ureinwohner der Inseln, freiheitsliebend oder unternehmungslustig, wie sie sind, sollen bis zu ihrem Lebensende von diesem geheimnisvollen Eiland gleich vor ihrer Haustür ausgeschlossen bleiben?

Das wurmt den einen oder anderen. Was gibt es auf der verbotenen Insel zu sehen, was keiner sehen darf (außer mir)? Und wie kommt der Inselvogt eigentlich so zurecht? Ist der Mann vom ewigen Meeresrauschen und Vogelkreischen nicht längst verrückt, trunksüchtig, zumindest wunderlich geworden oder führt er – immerhin auch möglich! – eine beneidenswerte Existenz? Solche Fragen können nach einer Woche Ferien quälend werden, und dann rücken sie doch an: Neugierige wie die beiden holländischen Motorbootfahrer, die ich bei Niedrigwasser im Watt vor Memmert entdeckte. Sie hatten sich trockenfallen lassen, und praktisch denkend, wie unsere niederländischen Nachbarn sind, waren sie prompt darangegangen, ihren Bootsrumpf zu lackieren – sechs Stunden Wartezeit sollten nicht ungenutzt verstreichen.

Solche Leute nehme ich mir vor. Nicht, weil ich ungestört sein will (Na gut, das auch. Ungestörtsein ist eins der Privilegien des Inselvogts.). Aber wir befinden uns hier, verflucht noch mal, im Nationalpark. Wir befinden uns hier sogar in der hochsensiblen Ruhezone 1. Obendrein ist hier alles Weltnaturerbe, das Wattenmeer steht für die UNESCO mit sensationellen Landschaften wie dem Grand Canyon auf einer Stufe. Da gibt es Spielregeln, und ich bin weit und breit der Einzige, der Unheil von diesem einmaligen Fleckchen Erde abwenden kann.

Was mich freut: Meine Sportsfreunde da draußen sitzen auf dem Trockenen, die können nicht fliehen. Ich laufe also los, die Dünen runter über den Strand und raus ins Watt. Die sollen mich kennenlernen … Noch nie was von Weltnaturerbe gehört? Welt-Natur-Erbe? Na, klingelt da was bei euch? Oder wollt ihr mir weismachen, davon stehe in eurer Seekarte nichts drin? Mein Vorgänger wäre jetzt jedenfalls in die Vollen gegangen, der war ein streitbarer Mensch.

Doch der Weg zieht sich, und da passiert’s: Mein anfänglicher Groll verfliegt. Aber zeigen muss ich mich. Wenn sich herumsprechen würde, dass der Inselvogt ungebetene Gäste verschläft, kämen sie über kurz oder lang mit einer kleinen Armada zurück. Dann würden die Gewässer ringsum zum Eldorado für Sportschiffer, und auf Memmert wäre Party. Sie kämen aus allen Richtungen und würden hier Grillfeste veranstalten. Bloß nichts einreißen lassen. Am Ende verfallen auch die zwei da vorne auf die Idee, am Strand ein Feuerchen zu machen und den Gettoblaster anzuwerfen, wenn sie mit ihrem Bootsanstrich fertig sind. Die sollen wenigstens wissen, dass sie hier im Watt jederzeit unter Beobachtung sind. Aber gut, versuchen wir’s zunächst auf die freundliche Tour; zusammenfalten kann ich sie immer noch.

Aha, meine holländischen Freunde verstehen kein Wort Deutsch. Große Augen, verständnislose Mienen, kalte Schultern. Schön, ich kann auch Plattdeutsch reden, und einen Holländer, der mein Platt nicht versteht, den gibt es nicht; folglich werde ich jetzt doch etwas strenger. »Komisch. Ich kann euch verstehen – und ihr wollt mir erzählen, dass ihr mich nicht versteht?«

Jedes Wort verstehen sie. Und langsam tauen sie auf. Werden zugänglich. »Ihr wisst, dass ihr hier nicht liegen dürft? Bitte schön, sobald das Wasser kommt, habt ihr zu verschwinden.« Das kennen sie eigentlich, in den Niederlanden ist es nämlich strengstens verboten, sich im Watt trockenfallen zu lassen. Der niederländische Naturschutz fährt sogar mit Patrouillenbooten rum, und wer sich erwischen lässt, für den wird’s richtig teuer. »Ich behalte euch im Auge, und wenn die halbe Tide erreicht ist, zieht ihr weiter.«

Was sie dann auch getan haben.

So wie alle anderen, die ich in den letzten Jahren erwischt habe. Viele waren es, offen gesagt, nicht, und wenn, stellten sie sich als Auswärtige aus den großen Hafenstädten an der Küste heraus, aus Cuxhaven, aus Hamburg oder Bremen. Segler und Motorbootfahrer, denen vielleicht gar nicht klar war, dass Memmert tabu ist. Es gab sogar Jahre, in denen es zu keiner einzigen Störung des Inselfriedens gekommen ist.

Grundsätzlich setze ich auf Diplomatie und freundliche, wenn auch deutliche Worte.

 

Mein Vorgänger, wie gesagt, betrieb eine andere Außenpolitik. Der lag mit vielen in Fehde. Aber die Zeiten waren auch andere. Der musste kämpfen, um den Nationalpark durchzusetzen, und damals traf Dickschädel auf Dickschädel. Zur großen Verstimmung kam es dann so: Schutzgebiet war die Insel schon lange, wegen der Vögel, aber im Lauf der Jahre gesellte sich Titel zu Titel: 1907 wurde Memmert zur Vogelfreistätte erklärt, in den Zwanzigerjahren zum Naturschutzgebiet, dann zum Biosphären-Reservat, und 1986 schließlich kam der Nationalpark hinzu, und zwar in seiner verschärften Form, das heißt: als Ruhezone 1. Nun war fast alles verboten, und jetzt stelle man sich vor: Nicht allein Memmert kam in den Genuss der strengsten Regeln, auch das Wattenmeer als Ganzes, selbst bestimmte Teile von Juist.

Die Freude darüber hielt sich in engen Grenzen, denn die Insulaner waren nicht gefragt worden. Die Einteilung ihres Lebensraums in Schutzzonen – und zum Lebensraum der Inselbewohner gehört natürlich auch die Zwischenwelt des Wattenmeeres – war über ihre Köpfe hinweg geschehen. Nun sind die Insulaner von allen freiheitsliebenden Ostfriesen die freiheitsliebendsten. Diese Menschen nehmen es seit Menschengedenken mit unerbittlichen Gewalten auf, mit höheren Gewalten jedenfalls als einer Landesregierung, nämlich mit Sturm und Meer, und jetzt sollten sie nicht mal mehr Herren der eigenen Insel sein? Jetzt sollten sie sich in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken und vorschreiben lassen, wo sie herumlaufen durften und wo nicht? Man kann sich ihre erste Reaktion denken: Empörung und Ablehnung. Müssten sie jetzt alle Badegäste in der Ferienzeit an die Leine legen? Und wer wollte sie wohl daran hindern, mal eben nach Memmert rüberzufahren? Dazu würde man nicht mal ein Motorboot brauchen, dass ließe sich auch rudernd mit jedem Kahn bewerkstelligen …

Nun, ganz einfach: der Inselvogt von Memmert hinderte sie. Mein Vorgänger. Der nämlich kämpfte – für die Vögel, für den Nationalpark und gegen alle Versuche, Gewohnheitsrecht auf Kosten des Tierschutzes durchzusetzen. Er war mit Memmert verwachsen und setzte die neuen Regeln rigoros durch. Er war mein Vorkämpfer, und ich werde von diesem großartigen Mann später mehr erzählen. Für den Augenblick aber möchte ich zum besseren Verständnis der eigentümlichen Mentalität eines Inselvogts Bilder aus der Vergangenheit von Memmert beschwören. Bilder, die jedem Inselvogt in den Sinn kommen, wenn er ungebetener Gäste ansichtig wird. Es sind abstoßende Bilder.

Vor mehr als hundert Jahren war Memmert nämlich alles andere als ein Vogelparadies. Es diente als Ausflugsziel für schießwütige Einheimische und Badegäste. Zur allgemeinen Belustigung setzte man an schönen Tagen von Juist aus über, mit Vorliebe in der Brutzeit, jeder mit einer Flinte ausgerüstet, und schoss dann nicht selten auch auf brütende Vögel in ihren Nestern, auf Möwen und Seeschwalben in der Luft, auf die Kaninchen am Boden. Tote und verletzte Vogelkörper wurden achtlos liegen gelassen, man plünderte Nester und zertrümmerte Eier. Allenfalls riss man geschossenen Vögeln ein paar Schwanzfedern aus, um sie sich an den Hut zu stecken.

Heute, wo ein ganz anderes Verständnis für die Einzigartigkeit der Vogelwelt Memmerts herrscht, ist eine solche Freizeitbeschäftigung unvorstellbar – aber damals waren eben andere Zeiten, und die Menschen hatten mit Naturschutz noch nicht viel im Sinn. Auch später noch, in den Fünfzigerjahren, wollten Fischer, Schiffer und Inselbewohner nicht von der lieb gewordenen Gewohnheit lassen, auf Memmert Möweneiner zu sammeln und Kaninchen zu schießen – und wo man schon dabei war, auch mal ein paar Enten. Ja, selbst in den Achtzigern noch trafen sich aufgebrachte Sportbootfahrer, die sich ihre Strandpartys vom Inselvogt nicht nehmen lassen wollten, vor Memmert und versuchten, die Insel einzukreisen, als Protestaktion, als Drohgeste. Man versteht jetzt: Die idyllischen Verhältnisse, unter denen ich hier lebe, mussten der Ignoranz und dem Amüsierbedürfnis abgetrotzt werden. Es...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Deutschland
Reisen Reiseführer Europa
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ISBN-10 3-426-46127-7 / 3426461277
ISBN-13 978-3-426-46127-3 / 9783426461273
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