Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will (eBook)

Ein Bergsteigerleben
eBook Download: EPUB
2020
400 Seiten
Piper ebooks (Verlag)
978-3-492-99798-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Freiheit, aufzubrechen, wohin ich will - Reinhold Messner
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»Was mich jung hielt, waren die Ideen, die ich in die Zukunft projizierte.« Einer der letzten großen Abenteurer unserer Zeit erzählt von seinem Werdegang. Vom ersten Dreitausender in den heimischen Dolomiten im Jahre 1949 führten Reinhold Messners Touren ins Eis der Westalpen, in die Anden und schließlich zu den grandiosen Achttausendern des Himalaja. Nach seiner Zeit als Felskletterer und Höhenbergsteiger marschierte er zum Nord- und Südpol und durch die großen Wüsten. In einem Wechselspiel zwischen bergsteigerischer Extrem- und persönlicher Selbsterfahrung schildert Messner Begehung für Begehung, Idee für Idee seinen Lebensweg als selbstbestimmter Grenzgänger.

Reinhold Messner, Grenzgänger, Autor und Bergbauer, wurde 1944 in Südtirol geboren und wuchs in einem Bauerndorf auf. Bereits 1949 ging er zum ersten Mal in Begleitung seines Vaters auf einen Dreitausender. Nach seinem Technik-Studium arbeitete er kurze Zeit als Mittelschullehrer, ehe er sich ganz dem Bergsteigen verschrieb. Seit 1969 hat er mehr als hundert Reisen in die Gebirge und Wüsten dieser Erde unternommen. Dabei gelangen ihm zahlreiche Erstbegehungen und Achttausenderbesteigungen sowie eine Längsdurchquerung Grönlands. Reinhold Messner war nie um Rekorde bemüht, ihm geht es um das Ausgesetztsein in möglichst unberührten Naturlandschaften und das Unterwegssein mit einem Minimum an Ausrüstung. Er hielt Vorträge in ganz Europa, den USA, Japan, Australien, Südamerika, drehte Dokumentarfilme und veröffentlichte Artikel, u.a. in »Stern«, »Spiegel«, »GEO«, »Epoca«, »Espresso«, »National Geographic«. Seine Buchveröffentlichungen wurden in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Von 1999 bis 2004 saß er für eine Legislaturperiode als Parteiloser für die Grünen im Europaparlament. Mittlerweile widmet Messner sich vor allem den Messner Mountain Museen (MMM) an sechs verschiedenen Standorten in den Alpen, seinen Film- und Buchprojekten sowie der Messner Mountain Heritage, die sich dem Narrativ des traditionellen Bergsteigens verpflichtet. Seine besondere Aufmerksamkeit gilt den Schlüsselgeschichten des Alpinismus. Zuletzt erschienen u.a. der SPIEGEL-Bestseller »Sinnbilder: Verzicht als Inspiration für ein gelingendes Leben« (mit Diane Messner) sowie »Gebrauchsanweisung für Südtirol«.

Reinhold Messner, 1944 in Südtirol geboren, gelangen zahlreiche Erstbegehungen und die Besteigung aller 14 Achttausender sowie die Durchquerung Grönlands und der Antarktis zu Fuß. Mittlerweile widmet er sich vor allem seinen Messner Mountain Museen (MMM) sowie Film- und Buchprojekten. Zuletzt erschienen bei MALIK u. a. seine Autobiografie, der SPIEGEL-Bestseller "Über Leben", und der große Bildband "m4 Mountains - Die vierte Dimension", der in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) entstand, sowie die Neuausgabe von "Vertical - 170 Jahre Kletterkunst" (mit Simon Messner), der Band "Mord am Unmöglichen" und die aktualisierte Fassung von "Torre - Schrei aus Stein". Seine besondere Aufmerksamkeit gilt heute dem Narrativ der Schlüsselgeschichten des Alpinismus.

1. Villnöß


Kinderjahre in den Dolomiten, mein erster Dreitausender


Es war Kriegsende, 1955, als dieses Foto entstand. Mein Vater hat es aufgenommen. Er war gerade aus dem Krieg heimgekehrt. Wir Kinder, Helmut war zweieinhalb, ich noch kein Jahr alt, hatten Keuchhusten, und die Eltern zogen mit uns auf die Brogles-Alm. Unter den Fernveda-Türmen, in einer Höhe von 2000 Metern, sollten wir uns erholen. Ob diese ersten Eindrücke von den schlanken Dolomitenfelsen und den Weiten der Hochalm mich geprägt haben, weiß ich nicht. Jedenfalls wurde ich rasch gesund und später ein Bergsteiger und Jäger wie mein Vater, der vor dem Krieg aus Neugierde auf die umliegenden Berge geklettert war und nach dem Krieg aus Not wilderte.

 

Unser Haus lag an der Dorfstraße. Ein Haus wie viele andere, mit roten Ziegeln am Dach, einem Kamin, einer Treppe aus Porphyrquadern und einer wilden Weinrebe, die im Sommer die Ostseite völlig überwucherte. Die Steinmauer unter der Treppe war kaum vier Meter hoch, und doch schimpfte der Vater immer, wenn wir an ihr herumkletterten.

Zum Spielen gingen wir deshalb in die Stadel der umliegenden Bauernhöfe, versteckten uns in Baumkronen oder stiegen hinauf bis zum Glockenstuhl, wenn die Kirchturmtür zufällig offenstand. Von dort konnten wir St. Magdalena sehen, die letzte Ortschaft im Tal, wo die Großeltern wohnten, bei denen wir die Sommermonate verbrachten. Wenn jeder von uns tief in seinem Herzen an eine Heimat als eine Art von Paradies glaubt, hier war sie.

Die mächtige Kette der Geislerspitzen war so nah und kam einer Herausforderung gleich. Sie ließ jene Harmonie in uns erwachen, die heute zwischen Hochhäusern und Autobahnen nicht entstehen kann. Es war alles friedlich und einfach und doch so reich, dass ich zufrieden war.

Der Vater pachtete für die Sommermonate eine Almhütte auf Gschmagenhart und war jedes Jahr ein paar Wochen lang mit der Mutter oben. Im Herbst brachten sie einen großen Sack mit Zirbelnüssen mit und erzählten von den Geislerspitzen, von der Mittagsscharte, von den Gemsen im Puezkar.

Oft saß ich zwischen den Hühner- und Kaninchenställen, in denen mein Vater Kleingetier züchtete, und schaute den Wolken zu, wie sie über den schmalen Streifen Himmel zogen, der zwischen hohen Waldrücken und düsteren Bergen zu sehen war. Sie kamen und gingen, oft dauerte ihr Spiel nur einige Minuten. So eingezwängt im Tal liegt dieser Ort, Pitzack, wo wir wohnten.

Jahrelang war Villnöß, das Tal, in dem ich aufwuchs, die ganze Welt für mich. Kindergarten gab es keinen, und so spielten wir Dorfkinder gemeinsam von früh bis spät. Als ich vier oder fünf Jahre alt war, wurde ich neugierig und wollte wissen, wohin die Wolken verschwanden. Was lag hinter diesen Bergen, die um mein Tal herum wie ein unüberschreitbarer Schutzwall standen? Die Bauern hatten kein Verständnis für so viel Neugierde. Nur selten fuhren sie mit dem Linienbus in die Stadt oder zum nächstgelegenen Markt. Im Ort gingen alle zu Fuß. Autos gab es nur einige wenige.

Der Troi-Clan (die Familie meiner Mutter) 1947. Links meine Eltern, vorne links mein Bruder Helmut, der mir den Arm um die Schulter legt.

 

Die Bauern im Tal waren fleißige Leute, zäh und bei der Feldarbeit auf zwei Pferde und ihre Kinder angewiesen. Große stattliche Höfe gab es nicht. Am Sonnenhang wirtschafteten kleine und mittlere Bauern, in der Talsohle einige Häusler. Die Felder zogen weit hinauf, und es überwogen die trockenen und kargen Böden. Die Almen reichten weit über die Waldgrenze, unmittelbar darüber standen die Dolomiten, die dem Talschluss einen wilden und zugleich harmonischen Abschluss verliehen.

Unser Vater war Lehrer in St. Peter. In seiner Jugend, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, war er in den Geislerspitzen geklettert. Nun, da seine Kletterpartner ausgewandert waren, wollte er uns Buben mitnehmen auf die Große Fermeda, die Furchetta, uns die Welt seiner Jugenderinnerungen zeigen.

Die Gespräche der Bauern verrieten, dass sie sich mehr mit Feld und Vieh beschäftigten als mit der Landschaft. Sie verstanden die Städter nicht, die zum Wandern und Bergsteigen nach Villnöß kamen. Sie hatten ihr Auskommen und begnügten sich damit. Wenn einer im Tal Geld ausgab für Urlaub, fuhr er in die Stadt oder ans Meer.

Pitzack (italienisch Pizzago) in Villnöß: Das Geburtshaus meiner Mutter und, unten rechts im zweiten Stock, unsere Wohnung.

 

Ich ging noch nicht zur Schule, als mich die Eltern erstmals auf die Gschmagenhartalm mitnahmen. Mein älterer Bruder Helmut und ich stapften hinter dem Vater her. Dort, wo der Fahrweg aufhörte und ein schmaler, steiler Steig begann, rasteten wir zum erstenmal. Während der Vater Himbeeren pflückte, fragte ich die Mutter, wie weit es noch sei, so müde war ich schon. Im Zickzack führte der Steig dann durch einen großen Kahlschlag, weiter oben querten wir andere Wege, stiegen über Wurzeln und Steinblöcke. Vereinzelt nur mehr standen Fichten zwischen den Zirbeln, und ganz oben blühten die Alpenrosen.

Als wir auf die freie Almwiese traten, standen die Geislerspitzen so unmittelbar über uns, dass sie mir wie mit dem Fernglas hergeholt erschienen; Aus dem fahlen Kar wuchsen sie erschreckend groß und bedrückend empor. So etwas Gewaltiges hatte ich nie zuvor gesehen.

Die Hütte stand zwischen Felsklötzen und einer Gruppe von Zirbeln. Der Vater machte die Läden auf und ging dann weg, um Wasser zu holen. Eigentlich hätten Helmut und ich noch am gleichen Tag zurück zu den Großeltern gehen sollen. Als sich aber herausstellte, dass wir die Petroleumlampe beim ersten Rastplatz vergessen hatten, kam für uns die Gelegenheit, mit der wir uns einige Ferientage auf Gschmagenhart verdienen konnten.

Florian Leitner und mein Vater auf dem Gipfel der Großen Fermeda. Rechts das » Wandl «.

 

»Ihr dürft dableiben, wenn ihr die Lampe bringt!« sagte der Vater, und in der Türschwelle noch: »Passt auf, es sind vier Quersteige, und beeilt euch, es wird bald Nacht!« Schon liefen wir über die Wiese hinunter. Alle Anstrengung war vergessen, alle Müdigkeit vorbei.

Im Wald war es schlüpfrig, und der Steig war oft nicht zu erkennen. Der einfache, klar vorgezeichnete Weg, auf dem wir hinter dem Vater hergestiegen waren, erschien jetzt geheimnisvoll. Die vorherige Gewissheit war eine Falle, die sich jetzt, da wir allein gingen, in jeder Abzweigung auftat. Ein erfahrener Bergsteiger oder Jäger findet sich im Wald immer zurecht. Wir aber suchten erstmals den Weg selbst und vermuteten hinter jedem Geräusch ein Reh. Bei jeder Wegbiegung standen wir vor einem Rätsel.

Von Schneise zu Schneise, von Baum zu Baum tasteten wir uns abwärts. Als wir die Lampe tatsächlich gefunden hatten, packte uns ein kindlicher Stolz. Wir durften also ein paar Tage auf Gschmagenhart bleiben!

Meine Mutter auf der Großen Fermeda. Die Kletterleidenschaft meiner Mutter hielt sich in Grenzen.

 

Bald kannten wir die Namen der Geislerspitzen: die Kleine Fermeda ganz rechts, die Große Fermeda, der Villnößer Turm, die Odla … das sind die kleinen Geisler, die Mittagsscharte trennt sie von der Hauptgruppe. Dort steht der breite Saß Rigais, mehr als 3000 Meter hoch, und links davon die schöne und schmale Furchetta, die fast gleich hoch ist. Dann kommen noch der Wasserkofel, die Valdussa-Odla, der Wasserstuhl und der Kampiller Turm. Ich erinnere mich an die Erzählungen des Vaters, der auf allen Gipfeln, die wir sahen, schon gestanden hatte. Vielleicht entstand damals der Wunsch, einmal alle diese Zacken zu erklettern.

Endlich kam der Tag, an dem auch wir mitgehen durften. Um fünf Uhr früh wurden wir geweckt. Ich kroch aus dem warmen Heu, schob die dicke Stadeltür zurück, sah, dass noch Sterne am Himmel waren, und zog mich zähneklappernd an. Ich war nicht aufgeregt, ich war voller Erwartung.

Eine halbe Stunde später gingen wir über die Wiese hinauf zum Waldrand. Reif hing am vergilbten Gras, und die Zirbelbäume hoben sich wie schwarze Ungeheuer gegen das helle Kar ab. Ein roter Farbfleck verriet den Beginn des Steiges, der zum Munkelweg hinabführt, am Nordlöß der Geislerspitzen entlang von Bogles bis St. Zenon. Eben war die Sonne aufgegangen und streifte die Nordkante der Furchetta. Das erweckte den Eindruck, oben sei ein Hauch von Wärme, in dieser unerreichbaren Welt – als ob die Geislerspitzen ein riesiger Vorhang wären, eine Trennwand zwischen zwei Welten. Die Luft war klar, durchsichtig vor Kälte. Sie trug jedes Geräusch weithin, so dass wir unwillkürlich flüsterten.

In Weißbrunn füllte der Vater die Wasserflasche. Der Steig führte durch ein Latschendickicht, dann im Zickzack durch die letzten Grasflecken und vorbei an verwitterten Zirbeln. Endlos erschien mir der Aufstieg im Kar hinauf bis zur Mittagsscharte. Im Morgenlicht schienen die Geislerspitzen jede Vorstellung von Höhe zu übertreffen. Dahinter ahnte ich ungezählte noch unberührte Geheimnisse.

Am letzten Baum, einer krummen Zirbel, die kaum zwei Mann hoch gewachsen war, rasteten wir. Ich erinnere mich an eine Episode, die ohne Bedeutung war: Der Vater versteckte seine Zigarettendose in ihrem hohlen Stamm. Er legte einen platten Stein darauf und mahnte zum Aufbruch. Damit wurde mir bewusst, dass mein Vater rauchte.

Das Steigen im Kar war anstrengender, als ich es mir nach den Erzählungen der Eltern ausgemalt hatte. Je höher wir kamen, desto feiner wurde der Schotter, desto mehr rutschte ich bei jedem Schritt zurück. Dabei lernte ich, dass man beim Steigen die ganze Schuhsohle aufsetzt und besser große Steinblöcke als Tritte ausnutzt. »Man muss langsam und gleichmäßig steigen, wenn man ans Ziel kommen will«, wusste mein Vater.

In...

Erscheint lt. Verlag 30.11.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Reisen Reiseberichte Welt / Arktis / Antarktis
Schlagworte Abenteuer • Abenteurer • Alpinismus • Autobiografie • Begehung • Bergsteigen • Bergsteiger • Bergsteigerleben • Bilder • Bildteil • Biografie • Buch • Bücher • Extremerfahrungen • Felskletterer • Fotos • Grenzerfahrungen • Grenzgänger • Höhenbergsteiger • Klettern • National Geographic • National Geographic Taschenbuch • NG • Porträt • Reisebericht • Reisebeschreibung • Reiseerzählung • Selbstbestimmt • Selbsterfahrungen • Taschenbuch • Werdegang • Zukunft • Zukunftsperspektiven
ISBN-10 3-492-99798-8 / 3492997988
ISBN-13 978-3-492-99798-0 / 9783492997980
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