Rivertime (eBook)
272 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99757-7 (ISBN)
Ana Zirner, Jahrgang 1983, ist freiberufliche Autorin, Bergsportlerin und Bergwanderführerin, die insbesondere durch ihre langen Solotouren in den Bergen auf sich aufmerksam machte. Aufgewachsen im Bayerischen Voralpenland, zieht es sie immer wieder in die Berge, wo sie leidenschaftlich gern Mehrtages- und Gipfeltouren unternimmt. Ana Zirner hält zahlreiche Vorträge zu ihren Reisen und dem nachhaltigen Leben unterwegs und engagiert sich, auch als Mitglied in der POW (Protect our Winters) Riders Alliance, für Klimaschutz. Zuletzt veröffentlichte sie bei Malik ihren Band »Rivertime«, in dem sie von ihrer 90-tägigen Reise entlang des Colorado Rivers erzählt, und bei Piper zusammen mit ihrem Vater August Zirner die Geschichte ihrer Großmütter »Ella und Laura«. Derzeit lebt Ana Zirner mit Partner und gemeinsamer Tochter in Oberaudorf im oberbayerischen Inntal.
Ana Zirner, 1983 geboren, ist freiberufliche Autorin, Bergsportlerin und Bergwanderführerin. Aufgewachsen im Bayerischen Voralpenland, zieht es sie immer wieder in die Berge. Über ihre Alpenüberquerung von Ost nach West verfasste sie ihr Buch "Alpensolo", seitdem hält sie zahlreiche Vorträge zu ihren Reisen und dem nachhaltigen Leben unterwegs. Derzeit lebt sie in Oberaudorf am Wilden Kaiser.
Geburt
Wo alles beginnt: An der Quelle des Colorado River hoch oben in den Rocky Mountains
Erste Schritte
Es ist still. Mein linker Fuß steht im Schnee, der rechte hängt noch in der Luft. Ich verharre mitten im Schritt, dehne den Moment und lausche. Ich atme ein, meine Lungen füllen sich mit der kalten Luft, und ich schaue nach oben. Auf den Wipfeln der hohen Tannen lagert eine dicke Schicht Schnee, die die eleganten Bäume träge wirken lässt. Kein Wind, kein Rascheln, kein Plätschern. Es ist still.
Langsam setze ich meinen Fuß in das Weiß vor mir und verursache damit wieder das leise Knirschen, das seit einigen Stunden den Takt in meinem Bewegungsrhythmus bildet. Die Steigung ist sanft und stetig, und in dem lichten Wald komme ich gut voran. Vor etwa einer Stunde endete die Spur, die Schneeschuhgeher vor mir hinterlassen hatten. Sie waren an einer Lichtung umgekehrt. Seitdem setze ich selbst die ersten Abdrücke in den Schnee und empfinde bei jedem Schritt einerseits einen kleinen Stich, weil ich die Jungfräulichkeit der Schneedecke durchbreche, aber andererseits auch diese erfüllende Kraft der Tat, die das Beschreiten neuer Wege mit sich bringt.
Ich bin in den US-amerikanischen Rocky Mountains im nördlichen Colorado, genauer gesagt auf der Westseite der Front Range, etwa vier Autostunden von Denver entfernt. Westlich von hier liegen die Never Summer Mountains, deren Name an noch kältere Zeiten erinnert. An diesem Ort, der nordamerikanischen kontinentalen Wasserscheide, knapp unterhalb des La Poudre Pass auf etwa 3000 Metern, entsteht der Colorado River. Er wird aus unzähligen kleinen Bächen geboren und beginnt seine 2330 Kilometer lange Reise zum Meer, auf der ich ihn in den nächsten Monaten bis zu seinem Ziel in Mexiko, dem Golf von Kalifornien, begleiten will.
Der Schnee ist jetzt, Ende Februar, mehr als hüfttief, und ohne Schneeschuhe wäre kein Vorankommen. Der Winter entspricht dieses Jahr endlich einmal wieder seiner Natur – wegen der Stürme in den letzten Tagen habe ich meinen Aufbruch immer wieder verschieben müssen. Die Straßen waren gesperrt, und es hat unaufhörlich geschneit. Gestern wurde dann endlich gutes Wetter vorhergesagt, und ich nutze das Wetterfenster, auch wenn die Temperaturen weiterhin unter null bleiben und es damit ein paar Grad kälter ist, als ich erwartet hatte. Ich lasse es einfach langsam angehen und passe mich der Ruhe des Schnees an.
Ich habe für drei Tage Essen dabei, meine Ausrüstung habe ich vorerst auf ein Minimum reduziert, was bei diesen Temperaturen dennoch alles andere als wenig ist. An Paddeln ist hier noch nicht zu denken, und so liegen mein Packraft – ein leichtes, aber stabiles, aufblasbares Boot – und einige andere Sachen unten im Kawuneeche Visitor Center. Von dort aus werde ich entlang des noch gefrorenen Flusses weiter talabwärts gehen.
Die Rangerin im Nationalparkhaus war ziemlich überrascht, als ich mit meinem großen Rucksack hereinkam und erklärte, dass ich zu den Quellwassern des Colorado unterwegs sei. Als ich meinen Namen und das Datum meiner geplanten Rückkehr in das Besucherbuch eingetragen habe, verstand ich, warum. Die letzten Leute vor mir hatten sich vor zwei Wochen, und nur für eine Tagestour, registriert.
Als sich der Wald lichtet, gelange ich auf eine weite Hochebene. Ich mache ein paar Schritte in die große weiße Fläche vor mir hinein, dann bleibe ich stehen. Wie eine Flutwelle durchströmt mich ein überwältigendes Glücksgefühl. Ich bin hier oben gerade weit und breit der einzige Mensch. Um mich herum sind nur Natur, Mystik und diese tiefe winterliche Stille. Die Monate, die vor mir liegen, sind noch so unberührt wie der Schnee. Seine ebenmäßige Oberfläche ist gleichsam ein Spiegel des großen Vertrauens, das ich empfinde. Bei aller Aufregung, aller Spannung und auch Ungewissheit fühle ich mich dieser Welt verbunden. Und das Bewusstsein, dass es Dinge gibt, die außerhalb meiner Kontrolle liegen, verängstigt mich nicht – es gehört dazu. Ich weiß, egal, wie gut ich vorbereitet bin, es wird das Unplanbare, das Unerwartete, das Überraschende immer geben. Mir stehen alle meine Sinne zur Verfügung, genauso wie ein gesunder Körper und ein Kopf, der fähig ist, uneingeschränkt aufmerksam zu sein und entsprechend Entscheidungen zu treffen.
Ein leichter Windhauch weckt mich aus meinen Gedanken und bringt mich zurück auf die Hochebene. Er bewegt weit oben die Wipfel der einzelnen Bäume, die am Rand der Lichtung zu schlafen scheinen. Der fluffige Schnee darauf wird aufgewirbelt und tanzt glitzernd durch das Licht.
Es ist kalt, aber auf diese klare und trockene Art, die ich so gerne habe. Ich überquere die Ebene und gehe wieder in den Wald hinein, der sich nun steiler am Hang hinaufzieht. Plötzlich höre ich ein leises Geräusch. Ich gehe ihm nach, und bald wird deutlich, dass es ein Plätschern ist. Als ich nach einer Weile noch immer kein Wasser sehe, wird mir klar, dass es unter der festen Kristalldecke gluckert, auf der ich gehe. Auf einer kleinen Lichtung entdecke ich schließlich ein Loch im Schnee, das von einer elegant geschwungenen Linie aus Eis eingefasst ist. Darin sehe ich es glitzernd fließen. Ich gehe ganz vorsichtig, um nicht einzubrechen, nah an das Loch heran und knie mich in den Schnee. Mit einer Hand erreiche ich das eiskalte Wasser und lasse es zwischen meinen Fingern hindurchströmen. Das ist er also, der neu geborene Colorado River. Mir fällt auf, dass mein Kniefall fast zeremoniell wirkt, aber das passt, denn für mich ist es ein großer Moment. »Hallo, Colorado«, sage ich leise und etwas unbeholfen und zerstöre damit, was ebenso passend ist, die Feierlichkeit. Natürlich bekomme ich keine Antwort, schließlich ist das ein Fluss. Und außerdem kennen wir uns ja noch gar nicht.
Ab jetzt begleitet mich das Plätschern. Der Fluss ist überall, um mich herum und unter mir. Mir gefällt diese Art von Lebensbeginn, die so weitflächig ist, so fein verzweigt wie eine riesige Wurzel, so sensibel und doch so zielstrebig. Immer wenn ich jetzt irgendwo ins Wasser schauen kann, denke ich: Mann, wenn du wüsstest, was noch vor dir liegt!
Essen, Schlafen, Spuren folgen
Als ich kurz vor Sonnenuntergang den Sattel des Passes erreiche, ist es bitterkalt. Mein GPS-Gerät zeigt minus fünfzehn Grad an, ich nehme aber an, dass es weitaus kälter ist, denn es bläst nun stetig ein eisiger Wind. Auf der ihm abgewandten Seite einer kleinen verschlossenen Holzhütte, die ich in der Planung schon im Satellitenbild gesehen hatte, baue ich schnell mein Zelt auf, blase die warme Matte auf und krieche in meine Schlafsäcke.
Ich werde auf dieser Tour ein Temperaturspektrum von etwa sechzig Grad durchreisen, da schienen mir zwei unterschiedlich dicke Schlafsäcke am praktischsten. So kann ich sie jetzt übereinanderziehen, später im wärmeren schlafen, und zuletzt, wenn ich weit im Süden und damit in der Hitze ankomme, wird mir der leichte aus Kunstfaser sicher reichen. Die Vorstellung, dass es mir irgendwann auf dieser Reise heiß sein könnte, ist gerade völlig abwegig, und ich grinse. Was wohl bis dahin alles passieren wird? Wird mich der Fluss als Begleiterin annehmen? Und wie wird es mir mit ihm und der für mich völlig neuen Fortbewegungsart in einem Boot auf dem Wasser gehen?
Darüber denke ich nach, während ich in den Schlafsäcken hockend mein Abendessen zubereite. Im Kocher erhitze ich Wasser, gieße es in mein verschließbares Thermogefäß auf das gefriergetrocknete indische Dal, das ich für heute gewählt habe, und schließe den Deckel, um es garen zu lassen.
Ich denke an die gemütlichen und lustigen Tage in meinem Elternhaus zurück, als ich mit Kieran Creevy, einem irischen Expeditionskoch, meine Menüs für diese Reise entworfen habe. Wir hatten uns auf einer Messe kennengelernt, wo Kieran mit einfachsten Mitteln köstliche Gerichte zauberte. Ich erzählte ihm ein bisschen von meinen mehrmonatigen Unternehmungen unter freiem Himmel und davon, wie wichtig mir leckeres und gesundes Essen ist. Weil wir uns auf Anhieb so gut verstanden, entschieden wir zusammenzuarbeiten. Mithilfe einer Ernährungswissenschaftlerin fand ich heraus, welche Nährstoffe mein Körper für dieses Abenteuer braucht, und mit Kieran redete ich darüber, was mir schmeckt. Er suchte passende Zutaten aus, und schließlich kochten und aßen wir mehrere Tage lang zusammen. Für die fertig gekochten Gerichte fanden wir zu hundert Prozent kompostierbare und versiegelbare Beutel. Mir war das besonders wichtig, weil ich mich um ein Leben ohne Müll bemühe.
Als ich nach ein paar Minuten den Deckel öffne, duftet es köstlich, und kurz darauf wärmt mich die Mahlzeit wohltuend von innen. Ich kuschle mich tief in meine Schlafsäcke und schlummere bald so tief wie die Schwarzbären, die das glücklicherweise noch den ganzen Winter tun werden.
Kyle, die ebenso lebenslustige wie pragmatische Managerin des Nationalparks, hatte mich vor meinem Aufbruch beruhigt: Grizzlys gibt es im Rocky Mountain National Park schon lange nicht mehr, und eine Begegnung mit Schwarzbären ist sehr unwahrscheinlich. Nicht nur, weil sie derzeit selig schlafen, sondern auch, weil sie grundsätzlich versuchen, Begegnungen mit Menschen zu vermeiden. Dafür warnte Kyle mich vor Elchen, den mit bis zu zwei Metern Körperhöhe größten Wildtieren hier draußen. Sie halten sich im Winter gern in höheren Lagen auf, und man hört sie trotz ihrer 600 Kilo kaum, da sie sich sehr leise bewegen können. Sollte ich auf frische Elchspuren treffen, wäre es besser umzudrehen, denn die Elchkühe hätten zu dieser Zeit Junge und seien deshalb oft aggressiv, so Kyle.
Bleiben noch die...
Erscheint lt. Verlag | 5.10.2020 |
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Zusatzinfo | mit 16 Seiten Farbbildteil und einer Karte |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte ► Nord- / Mittelamerika |
Reisen ► Reiseführer | |
Schlagworte | Abenteuerbericht • Abenteuer-Bericht • Abenteuer reisender Frauen • Amerika • amerikanische Politik • amerikanischer Westen • Biwak • Buch • Bücher • Camping • Colorado • Colorado River • Donald Trump • Erfahrungsbericht • Erfahrungs-Bericht • Fluss-Reisen • Golf von Kalifornien • Grand Canyon • Klima-Wandel • Langstrecken-wandern • Langstreckenwandern • Mauer • Mexiko • Minimalismus • Nachhaltigkeit • Nature writing • Packraft • Reisebericht • Reise-Bericht • Reisebuch • Reise-Buch • Reiselektüre • Reiseliteratur • Reise-Literatur • Schlauchboot • Schneeschuhwandern • Schneeschuh-Wandern • slow traveling • slow travelling • Solo-Reise • Soloreisen • Soloreisen Frau • Stromschnellen • Umweltschutz • Umwelt-Schutz • USA • Utah • Wandern • Wasserkrieg • Wüste |
ISBN-10 | 3-492-99757-0 / 3492997570 |
ISBN-13 | 978-3-492-99757-7 / 9783492997577 |
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Größe: 37,0 MB
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