Weit und weg (eBook)
656 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490457-3 (ISBN)
Andrew Solomon hat in Yale und Cambridge studiert. Unter anderem schreibt er für den New Yorker, Newsweek und den Guardian. Er ist Dozent für Psychiatrie an der Cornell University und beratend für LGBT Affairs am Lehrstuhl für Psychiatrie der Yale University tätig. Sein großes Buch über Depression »Saturns Schatten« war ein internationaler Bestseller und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem National Book Award und der Nominierung für den Pulitzer Preis. Er lebt mit seinem Mann und seinem Sohn in New York und London. Für »Weit vom Stamm« erhielt er den National Book Critics Circle Award 2013, für »Weit und Weg« den ITB BuchAward 2019. Literaturpreise: National Book Award (Nonfiction) 2001 für »Saturns Schatten« (»The Noonday Demon«)
Andrew Solomon hat in Yale und Cambridge studiert. Unter anderem schreibt er für den New Yorker, Newsweek und den Guardian. Er ist Dozent für Psychiatrie an der Cornell University und beratend für LGBT Affairs am Lehrstuhl für Psychiatrie der Yale University tätig. Sein großes Buch über Depression »Saturns Schatten« war ein internationaler Bestseller und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem National Book Award und der Nominierung für den Pulitzer Preis. Er lebt mit seinem Mann und seinem Sohn in New York und London. Für »Weit vom Stamm« erhielt er den National Book Critics Circle Award 2013, für »Weit und Weg« den ITB BuchAward 2019. Literaturpreise: National Book Award (Nonfiction) 2001 für »Saturns Schatten« (»The Noonday Demon«)
Gerade die Flüchtigkeit des historischen Moments, die die Reportagen eindrucksvoll festhalten, machen sie kostbar.
UdSSR
Das Spektrum des Winters
Harpers & Queen, 1988
Schon oft hatte mich gewundert, dass manche Menschen nach einem Besuch in Russland ganz vernarrt in dieses Land schienen. Warum das so war, wurde mir klar, als mich das britische Monatsmagazin Harpers & Queen für meine erste Auslandsreportage 1988 in die UDSSR schickte, von wo ich über Sotheby’s bahnbrechende Auktion zeitgenössischer sowjetischer Kunst berichten sollte. Drei Jahre danach veröffentlichte ich einen erweiterten Bericht über dieses Ereignis in der Zeitschrift Connoisseur. Der folgende Beitrag ist ein Konglomerat dieser beiden Artikel über jene aufregenden Entdeckungen, aufregend nicht nur für mich, sondern, als unsere persönlichen und politischen Welten aufeinandertrafen, auch für die beteiligten Künstler. Die hier geschilderten Begegnungen inspirierten mich zu meinem ersten Buch, The Irony Tower: Soviet Artists in a Time of Glasnost.
»Auf Breschnew!«, rief einer der Künstler. Da es kurz vor Sonnenaufgang und ich müde war, hob ich mein Teeglas, ohne auf den Namen zu achten. »Auf Breschnew!«, riefen wir alle im Chor und kippten unseren Tee hinunter. Erst in diesem Moment kam es mir seltsam vor, dass wir hier und jetzt, im Sommer 1988, auf das Wohl Breschnews und nicht auf das von Gorbatschow tranken. Es muss vier Uhr früh gewesen sein oder vielleicht auch fünf, und die Gespräche waren ausgeufert. Baudrillard hatten wir durch, ebenso den Dekonstruktivismus und die Postmoderne. Jetzt machten wir uns über japanische Touristen lustig. Zu siebt saßen wir um einen kleinen Tisch in einem kleinen Zimmer, alle redeten durcheinander und stürzten sich gierig auf das Essen, das einer der Künstler zubereitet hatte. Wir wechselten uns mit den Tellern ab, weil es nicht genügend für alle Anwesenden gab. Dann kam dieser Trinkspruch, nach dem jemand anmerkte, es sei ein guter Abend mit guten Gesprächen gewesen, »ganz wie zu Breschnews Zeiten«. Ich war so verdattert, dass ich nicht einmal nachfragte.
Um halb sieben in der Früh verließen wir die Ateliers in der Furmanni-Gasse, die in unfreiwilliger Ironie über einer Blindenschule lagen. Der Morgen dämmerte über Moskau, und die Straße schien unglaublich. Ich war seit elf am vorangegangenen Vormittag dort gewesen, und sie hatte sich in jene alleinige Realität verwandelt, die sich als zwangsläufige Konsequenz von endlosen Debatten und totaler Erschöpfung einstellt. Wir verabschiedeten uns noch einmal mit den Worten: »Auf Breschnew!« Zum Schluss erinnerte mich einer der Künstler: »Sei heute Mittag am Bahnhof. Bis dann.«
Ich kehrte in die zweifelhafte Opulenz meines Best-Western-Hotels zurück. Um elf klingelte mein Wecker wie ein schlechter Scherz, ich hievte mich mürrisch aus dem Bett und machte mich auf den Weg zum Bahnhof, wobei ich die ganze Zeit überlegte, was in mich gefahren sei, dass ich diese Verabredung getroffen hatte. Dort angekommen, entdeckte ich einige mir vertraute Avantgardisten, und als ich merkte, dass ich mich über das Wiedersehen freute, hörte ich auf, den verpassten Schlaf zu verfluchen. Und dann fiel mir auch wieder ein, warum ich überhaupt so lange aufgeblieben war.
Gemeinsam fuhren wir zu einem Ort in ländlicher Idylle, rund zwei Stunden von Moskau entfernt. Nur einer von uns – wir waren insgesamt an die vierzig – kannte unser Ziel, aber selbst er wusste nicht, was wir dort vorfinden würden. Wir waren auf dem Weg zu einer Aktion der Kollektiven Aktionsgruppe (K/D), und diese offene Frage war Teil der Performance. Als wir aus dem Zug stiegen, standen wir am Rand eines schmalen Waldstreifens. Im Gänsemarsch und uns leise unterhaltend, manchmal unterbrochen durch Lachen, zogen wir in gespannter Erwartung los. Hinter dem ersten Waldstück lagen wogende Getreidefelder, jenseits davon standen vereinzelte baufällige Häuser, dann folgte ein Birkenwald, danach ein von gerade verblühtem Schilf gesäumter See, anschließend ein Kiefernwald mit mächtigen Stämmen, die aus dem weichen Boden ragten. Das muss man sich vorstellen: Die gesamte Moskauer Avantgarde in all den Ausprägungen ihrer Genialität wandert zusammen mit ihren erwartungsvollen Akolythen durch einen Wald, der so still ist wie am ersten Tag der Schöpfung.
Wir kamen zu einer Ebene, durch die sich ein Fluss zog. Fischer in Schlauchbooten warfen ihre Leinen aus und beobachteten – mit gewissem Erstaunen, aber ohne großes Interesse – die Prozession der Künstler. Schließlich erreichten wir eine Anhöhe, auf der wir uns nebeneinander hinstellten und den Fluss betrachteten. Kurz darauf sahen wir Georgi Kiesewalter, einen der Künstler, am Ufer stehen. Er sprang in den Fluss, schwamm auf die andere Seite und verschwand. Alle Blicke richteten sich auf die Stelle, wo er verschwunden war. Schließlich tauchte er mit einem großen, flachen Paket wieder auf, sprang erneut in den Fluss und schwamm zurück. Dann kletterte er auf einen Hügel, der unserem gegenüberlag. Der Leiter von K/D, Andrei Monastirski, und ein weiterer Künstler gesellten sich zu ihm. Als sie die leuchtend bunte Verpackung von dem Paket entfernten, kam ein in Schwarzweiß gehaltenes Gemälde zum Vorschein. Vorsichtig lösten sie die Nägel, mit denen die Leinwand auf dem Rahmen befestigt war, und breiteten die Leinwand auf dem Boden aus. Dann zerlegten sie den aufwendig gestalteten Rahmen in seine hölzernen Einzelteile. Sie wickelten sie in die schwarzweiße Leinwand und diese wiederum in das Packpapier. Zum Schluss verteilte Monastirski Fotokopien des Gemäldes an die Zuschauer.
Die ganze Zeit über läutete auf einer Anhöhe hinter uns in einer blauen Schachtel eine Glocke, und niemand hörte sie.
Das war die ganze Aktion. Zwei Stunden, um hinzukommen, zwei Stunden zurück (ganz zu schweigen von dem zeitlichen Aufwand für den Weg zum Bahnhof und retour) sowie zehn Minuten für etwas, das mir als schwerfällig-wichtigtuerische Performance erschien. Im Anschluss daran gab es am Fluss ein Picknick, das fröhlich hätte sein können, wenn ich mich nicht so geärgert hätte. Der Ausflug in den Wald hatte mir zwar gefallen, und Brot und Käse waren prima, aber alles Übrige erschien mir wie reiner Schwachsinn. Sergei Anufriew, einer der Führer der Bewegung Medical Hermeneutics, nahm mich beiseite und erklärte mir die Aktion im Detail, erläuterte mir die zahlreichen Bezüge zu früheren Performances, sprach über das Verhältnis von Kunst und Natur, von alten und überholten sowjetästhetischen Ideen und von den Episoden aus dem Leben verschiedener Leute. Als er fertig war, hatte ich einen Moment lang das Gefühl, verstanden zu haben. Damals war ich jedoch zu müde, um darüber weiter nachzudenken.
Erst später wurde mir klar, dass ich nichts verstanden hatte und dass genau dies der entscheidende Punkt gewesen war. Denn ich begann zu begreifen, warum wir auf Breschnew, den Unterdrücker, getrunken hatten, und nicht auf Gorbatschow, den Befreier. Unter Breschnew konnten die sowjetischen Avantgardisten ebenso wenig wie unter Chruschtschow ihre Arbeiten öffentlich zeigen, weshalb sie sie in ihren Wohnungen oder Ateliers ausstellten und dazu Bekannte einluden. Die Einzigen, die ihre Arbeiten je zu Gesicht bekamen, waren andere Avantgardisten. Diese Künstler verhielten sich, nach eigenen Worten, »wie die frühen Christen oder die Freimaurer«. Sie erkannten einander auf den ersten Blick, gingen miteinander durch dick und dünn und ließen niemals Mitglieder ihres Zirkels im Stich. Sie glaubten sich im Besitz einer höheren Wahrheit als jene, die dem übrigen Sowjetvolk unterbreitet wurde, aber sie wussten, dass die Zeit für diese Wahrheit noch nicht gekommen war. Aufgrund der schwierigen Umstände, in denen sie lebten, lernten sie Integrität und schufen sich eine Welt des gegenseitigen Beistands. Auch wenn diese Lebenskraft von intensiven Sticheleien und kleinlichen Konflikten begleitet war, verlieh sie ihrer Arbeit einen Sinn in diesem Land, in dem für so viele Menschen jeglicher Einsatz bedeutungslos geworden war. Trotz des Elends bewahrten sie sich eine intensiv geteilte Freude, und die konstante Überraschung einer solch tiefgehenden Zielstrebigkeit lehrte sie den Wert ihres Talents.
Und dieses Talent war beeindruckend. Ihre Freude mag beträchtlich gewesen sein, aber der Weg dorthin war zu steinig, um irgend jemanden anzuziehen, der nicht zu Transzendenz fähig war. Darüber hinaus war der Versuch, das allumfassende Sowjetsystem mit einem unzureichenden Intellekt bekämpfen zu wollen, viel zu frustrierend und schlug rasch alle Narren aus dem Feld. Die Moskauer Künstlergemeinschaft hatte keinen Platz für passive Beobachter, das Engagement ihrer Mitglieder war enorm. Da die Erfahrung ihrer Arbeit stets von ihren eigenen Erfahrungen als Menschen abhing – da die etwa hundert Avantgardisten sowohl die Schöpfer der sowjetischen Kunst als auch deren Publikum waren – lag der Schlüssel zu dem, was sie erschufen, in der Persönlichkeit des jeweiligen Künstlers. Ihre starken Charaktere definieren sich zum Teil durch den Ort, den sie innerhalb der Kunstwelt besetzen, und zum Teil durch die Neigungen, durch die sie zur Avantgarde kamen, aber ihr Genie ist notwendigerweise das des Malers, des Poeten und des Schauspielers. Diese eigentümliche Verknüpfung macht sie überzeugend, bestechend, unversöhnlich und letztlich unergründlich. Aus diesem Grund kombinieren sie oft ihre unerbittliche Integrität mit listiger Undefinierbarkeit, die sich oftmals hinter der Maske der Unaufrichtigkeit versteckt. Ihre Arbeit ist voller Wahrheit, aber präsentiert in verstellter Sprache.
Anufriews...
Erscheint lt. Verlag | 28.11.2018 |
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Übersetzer | Gabriele Gockel, Bernhard Jendricke, Gerlinde Schermer-Rauwolf, Barbara Steckhan |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte ► Welt / Arktis / Antarktis |
Schlagworte | Afghanistan • Antarktis • Australien • Bericht • Brasilien • China • Demographie • Ghana • Grönland • Indonesien • Japan • Kambodscha • Kultur • Lebensweise • Libyen • Menschen • Mongolei • Myanmar • Reise • Ruanda • Rumänien • Russland • Salomon-Inseln • Sambia • Senegal • Südafrika • Taiwan • Türkei • UdSSR • USA • Veränderungen • Wandel • Weltreise |
ISBN-10 | 3-10-490457-X / 310490457X |
ISBN-13 | 978-3-10-490457-3 / 9783104904573 |
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