Benelux (eBook)
216 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-369-5 (ISBN)
Jahrgang 1970, Studium der Germanistik, Romanistik und Niederlandistik, Dozentin für niederländische Literatur und Kulturgeschichte an den Universitäten Oldenburg und Köln, 2005 Promotion, Autorin mehrerer Sachbücher, seit 2008 selbständig als Trainerin für interkulturelle Kommunikation mit Schwerpunkt Benelux-Länder.
Jahrgang 1970, Studium der Germanistik, Romanistik und Niederlandistik; Dozentin für niederländische Literatur und Kulturgeschichte an den Universitäten Oldenburg und Köln, 2005 Promotion; Autorin mehrerer Sachbücher; seit 2008 selbständig als Trainerin für interkulturelle Kommunikation mit Schwerpunkt Benelux-Länder.
Niederlande: Alte Werte auf dem Prüfstand
Durch die Falltür ins Wohnzimmer: Ein erster Eindruck
Ein Sommerabend in Amsterdam: Auf dem Bürgersteig vor den alten Grachtenhäusern stehen kleine Campingtische, an denen die Hausbewohner bei einem Glas Wein zusammensitzen und auf die gegenüberliegenden Fassaden blicken. Kein Haus gleicht dem anderen, das eine ist ein bisschen höher, das andere ein bisschen niedriger, die Form der jahrhundertealten Giebel mal rund, mal stufig. Die meisten Häuser sind mit ihren sieben bis acht Metern recht schmal, fast alle haben große Fenster. Sie stehen etwas schief, es wirkt, als schmiegten sie sich eng aneinander und stützten sich gegenseitig. Vorherrschende Farben sind das verblichene Ziegelrot oder Anthrazitgrau der Fassaden, Tür- und Fensterrahmen in einem hellen Weiß, dazu das satte Dunkelgrün der alten Haustüren. Viele Grachten sind von Bäumen gesäumt, dazwischen liegt träge das Wasser.
Dieses Bild ist an Postkartenidylle natürlich kaum zu überbieten, ausgiebig besungen in unzähligen Schlagern und beschrieben in Reiseführern. Und dennoch: Es sieht alles sehr natürlich aus, die Häuser sind nicht überrenoviert, später rekonstruierte Gebäude wirken authentisch und haben Patina. Die riesigen Fenster lassen zudem den Blick nach innen zu, denn viele Niederländer verzichten traditionell auf Gardinen: Jeder darf schließlich sehen, dass drinnen keine ungehörigen Dinge passieren. So kann man tief in die Häuser hineinschauen – wobei es allerdings für Niederländer zum guten Ton gehört, genau dies nicht zu tun. Guckt man aber doch, sieht alles sehr gemütlich aus: Sofas mit Kissen, schicke Lampen, schöne Esstische, viele Pflanzen. Die Bewohner legen Wert auf ihre Einrichtung – wohnlich soll es sein, aber bitte mit Stil. Oft räkelt sich dazu noch eine Katze genüsslich auf dem Fensterbrett, das Schnurren beinahe hörbar. Viele Niederländer sind große Katzenliebhaber, und besonders in Amsterdam gibt es eine Menge Hauskatzen. Ebenso wie Mäuse und Ratten – das heißt, die Katzen sind nicht nur kuschelig, sondern auch nützlich.
Bleiben wir noch kurz in der Hauptstadt (dies ist nämlich Amsterdam, Den Haag ist nur Regierungssitz): Sie besteht überwiegend aus Vierteln, in denen alles eine Nummer kleiner ist als an den großen Grachten, etwa im Stadtteil Jordaan, einem ehemaligen Arbeiterviertel im Nordwesten der Innenstadt, oder im südlich gelegenen De Pijp. Wenn man in ein Amsterdamer Haus kommt, steht man meist direkt vor einer steilen und engen Treppe nach oben. Das ist platzsparend. Oft gehen Wohnungen auch über zwei Etagen, und man betritt so manches niederländische Wohnzimmer durch eine Falltür am oberen Ende der Treppe.
Große Nachfrage, begrenztes Angebot – das führt zu hohen Mieten. Amsterdam gehört denn auch zu den teuersten Städten Europas – gleich hinter London, Paris und Rom. Die Preise sind in den letzten 20 Jahren derartig explodiert, dass man für eine Wohnung von rund 80 Quadratmetern in einer mittleren Gegend in einem mittleren Zustand ohne Weiteres 1700 Euro für die Kaltmiete hinblättern muss.
Auch in anderen niederländischen Städten und in den ländlichen Gegenden ist das Preisniveau hoch. Entlang der deutsch-niederländischen Grenze lässt sich inzwischen das Phänomen beobachten, dass viele Niederländer ein Häuschen in Deutschland kaufen, aber weiter in den Niederlanden arbeiten. Und das, obwohl der niederländische Osten im Vergleich zu den westlichen Gebieten des Landes deutlich günstiger und weniger dicht besiedelt ist. Die durchschnittliche Bevölkerungsdichte des Landes liegt bei etwa 409 Einwohnern pro Quadratkilometer (Stand März 2016) und ist damit eine der höchsten in Europa. In Deutschland sind es nur gut die Hälfte: 226 Einwohner pro Quadratkilometer (2016).
Im Ausland werden die Niederlande oft als kleines Land wahrgenommen. Was die Einwohnerzahl angeht, stimmt das sicher nicht, denn im Vergleich zu anderen europäischen Ländern ist das Land mit seinen 17 Millionen Einwohnern eher mittelgroß. Zum Vergleich: Schweden und Portugal haben jeweils rund zehn Millionen Einwohner, Österreich knapp neun Millionen.
In der Stadt Amsterdam leben 810 000 Menschen, im Großraum Amsterdam rund 1,3 Millionen. Die Bevölkerungsdichte in der Hauptstadt beträgt damit 3698 Einwohner pro Quadratkilometer, aber das ist für Großstädte nicht ungewöhnlich. Allerdings müssen sich all diese Leute irgendwie fortbewegen. Sobald man auf der Straße steht, ist es daher mit der Gemütlichkeit vorbei – denn hier fängt das Reich der Fahrradfahrer an. In die Luft guckende Touristen werden lautstark weggeklingelt und im Vorbeifahren oft nochmal kurz angeraunzt. Die Amsterdamer fahren mit ihrem fiets in einem rasenden Tempo, und auch als geübter Radfahrer braucht man eine Weile, um hier mitzuhalten oder zumindest kein Verkehrshindernis mehr darzustellen. Dabei sind die Räder meist alt und klapprig, echte Packesel, oft noch mit zerfledderten Fahrradtaschen. Trotzdem muss man gut auf sie aufpassen, zwei Schlösser sind fast schon zu wenig.
Ein völlig anderes Bild jedenfalls als in deutschen Städten, wo man deutlich mehr schicke Tourenräder und vor allem Helme sieht. In den Niederlanden trägt fast niemand einen Helm. Radfahrer haben hier aber auch sozusagen Vorfahrt. Das heißt, falls es zu einem Unfall kommt, trägt der Autofahrer im Zweifel immer eine Mitschuld. Das veranlasst die Radfahrer nicht unbedingt zu zurückhaltendem Fahren.
Regionale Unterschiede, Wasser und Wirtschaft
Holland oder Niederlande? Das lässt sich schnell abhandeln, ist aber nicht ganz unwichtig. Kurz gesagt, war Holland eine westliche Provinz der Niederlande, und zwar die größte und traditionell einflussreichste. Sie ist inzwischen aufgeteilt in die Provinzen Nord-Holland mit der Hauptstadt Haarlem und Süd-Holland mit der Provinzhauptstadt Den Haag. Meint man hingegen den ganzen Staat und seine Bewohner, sind die Bezeichnungen Niederlande und Niederländer korrekt. Die Einwohner anderer Provinzen, etwa Gelderland im Osten oder Limburg im Süden, würden sich selbst nicht als Holländer bezeichnen.
Nur im Ausland stellen sich manche Niederländer als Holländer vor, auch wenn sie eigentlich gar keine sind – weil sie denken, dass das leichter zuzuordnen ist. Auch die Tourismus- und Werbebranche spricht in der Regel von »Urlaub in Holland«, »Tulpen aus Holland« und »Käse aus Holland«. Dass so oft von Holland die Rede ist, wenn eigentlich die Niederlande gemeint sind, hat also auch mit Marketing zu tun, nicht nur mit Unwissenheit. Die Marke Holland ist einfach gut eingeführt, leicht auszusprechen und weltweit bekannt.
Mit einer maximalen Nord-Süd-Ausdehnung von 300 Kilometern und rund 180 Kilometern in west-östlicher Richtung gehört das Land der Fläche nach zu den kleineren Staaten in Europa. Die geringe Ausdehnung bedeutet aber nicht, dass es keine Unterschiede zwischen den Regionen gibt. Im Westen konzentriert sich alles: Hier befinden sich mit Amsterdam, Utrecht, Den Haag und Rotterdam die größten Städte, hier lebt die Hälfte aller Einwohner und sind die bedeutendsten Unternehmen angesiedelt. Dieses westliche Ballungsgebiet wird Randstad genannt.
Eine Art Trennlinie bilden die großen Flüsse Lek und Waal (Fortsetzungen des Rheins), die sich quer durch die Mitte des Landes ziehen und in das Rhein-Maas-Delta münden. Hier verläuft zugleich auch eine Mentalitätsgrenze: Die südlich der Flüsse liegenden Provinzen Nord-Brabant und Limburg sind überwiegend katholisch geprägt – ihren Einwohnern wird zugeschrieben, eine gediegene Esskultur zu pflegen und das Leben zu genießen. Die Gebiete nördlich der Flüsse sind traditionell protestantisch, ihre Einwohner gelten als eher nüchtern und sparsam. Diese Unterschiede haben heutzutage allerdings weniger mit konfessioneller Bindung als vielmehr mit kultureller Prägung durch die frühere religiöse Zugehörigkeit zu tun: Nur etwas mehr als die Hälfte der Niederländer sind heute noch Mitglied einer Religionsgemeinschaft (darunter rund 26 Prozent Katholiken, 16 Prozent Protestanten, 5 Prozent Muslime).
Außerdem wichtig zu wissen: Mehr als ein Viertel der niederländischen Staatsfläche liegt unter dem Meeresspiegel, und 65 Prozent der niederländischen Gesamtbevölkerung leben in Gebieten, die bei Sturm oder Hochwasser überflutet würden, wenn sie nicht durch Deiche geschützt wären. Daher gibt es in den Niederlanden über 3000 Kilometer Deiche. Seit dem 12. Jahrhundert werden Gebiete trockengelegt, die sogenannten Polder. »Gott schuf die Erde, wir schufen Holland« ist ein viel zitierter Ausspruch, der gar nicht so weit hergeholt ist. Hier zeigt sich der Stolz auf die eigene Tatkraft, die durchaus kennzeichnend für das niederländische Selbstverständnis ist und daher auch als maakbaarheids-Mentalität bezeichnet wird.
1927 starteten die Niederlande den Bau des damals größten Polderprojekts der Welt: die komplette Abriegelung des heutigen Ijsselmeers durch einen 32 Kilometer langen Deich, der das Wasser von der Nordsee trennt und die Provinzen Nord-Holland und Friesland miteinander verbindet. Nach nur fünf Jahren Bauzeit war das Projekt abgeschlossen. In den nächsten Jahrzehnten entstanden vier neue Polder mit einer Gesamtfläche von 165 000 Hektar oder 1650 Quadratkilometern, gut 60 Prozent der Fläche des Saarlandes.
Nachdem 1953 bei einer Sturmflut in der...
Erscheint lt. Verlag | 7.12.2016 |
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Reihe/Serie | Länderporträts |
Zusatzinfo | 1 Karte/Tabelle |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Schlagworte | Amsterdam • Belgien • Brüssel • Flamen • Luxemburg • Niederlande • Wallonen |
ISBN-10 | 3-86284-369-6 / 3862843696 |
ISBN-13 | 978-3-86284-369-5 / 9783862843695 |
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Größe: 1,7 MB
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