Sina Pousset studierte Kunst- und Literaturwissenschaft in Karlsruhe, Paris und Oxford. Seit 2012 schreibt sie für die Süddeutsche Zeitung, jetzt.de sowie das Süddeutsche Zeitung Magazin. Sie lebt heute als freie Autorin in Berlin und wartet liebend gerne auf einen Bus, wenn es sie in die Ferne zieht.
3. Auge um Auge
Der Kampf an der Ladefläche
München – Stuttgart. Es ist Sommer, und der Bus ist voll von Teenies, die von einer Klassenfahrt zurückkommen. Über die Reihen werden Kopfhörer und Zeitschriften gereicht, eine Großpackung Gummibärchen von der Tanke wandert von Schoß zu Schoß. Der Geräuschpegel gleicht einem Klassenzimmer in der kleinen Pause. Die Jungs hören Hip Hop auf dem Handy, ein Mädchen mit Zöpfen schreit über die Sitze: »Ich hab voll Bock auf Pommes!« Beim Halt am Rastplatz protestiert sie: »Wo ist denn hier der Mäcces?!« Nach etwa zwei Stunden halten wir an einer unscheinbaren Bushaltestelle außerhalb von Stuttgart. Aus dem Beton erwächst ein einzelnes Haltestellenzeichen. Ein paar Erwachsene warten, darunter ein korpulenter grauhaariger Mann, Typ Harleyfahrer, dem zwei lange, sorgsam geflochtene Zöpfe über die Lederweste baumeln. Die Bustür öffnet sich, und die Teenager strömen auf den Bürgersteig, werden begrüßt und beküsst, während ihr Gesichtsausdruck zwischen cool und peinlich berührt changiert. Nur eine, das Mädchen mit den langen Zöpfen, stürmt mit einem breiten Lächeln auf die Reihe von Erwachsenen zu und fällt ihrem Vater, dem Harleyfahrer, in die Arme. Ihre Zöpfe sind fast gleich lang. Er nimmt ihr den Rucksack von den Schultern und sagt im Weggehen: »Mäcces?«
Menschen können sehr liebenswerte Eigenschaften haben: Hilfsbereitschaft, Herzlichkeit, Selbstlosigkeit, moralische Integrität. An Kinokassen, bei Schlussverkäufen und an Ladeflächen von Bussen kommen all diese Eigenschaften jedoch leider nicht zum Einsatz.
Wenn ich an der Ladefläche stehe, denke ich immer an Herrn Frisch. Herr Frisch war unser Schul-Bäcker, ein riesiger Mann mit weißem Haar, der jeden Morgen mit einem Transporter in den Pausenhof kam, der bis unters Dach mit duftenden Brötchen beladen war. Dieser Bäcker machte unter anderem die besten Donuts, die ich je gegessen habe: weich, fast noch warm und mit einer zartschmelzenden Schokoglasur überzogen. Nach der Doppelstunde Mathe waren diese Donuts so ziemlich das Einzige, was mich wiederbeleben konnte. Allerdings gab es täglich nur vier Stück davon, und das hieß leider, sich in eine drängelnde Meute von pubertierenden Kindern zu stürzen, am ganzen Körper schubsende Schultern, Ellbogen und Hände, vom Geschrei ein Klingeln in den Ohren. Denn alle wissen: Wer am meisten drängelt, bekommt den Donut.
An der Ladefläche eines Fernbusses wird die Hackordnung ähnlich festgelegt: Wer bekommt den Doppelsitz, den Donut der Fernbusfahrt? Wer sitzt später vorne, umweht von Dixieklogeruch? Zwar wird weniger offensichtlich geschrien und gedrängelt, aber auch hier herrscht eher ein ruppiges Klima: Schwer beladene und nervlich ausgereizte Reisende kämpfen um den ersten Platz an der Luke. An der Ladefläche offenbart sich deshalb der wahre Charakter der Mitreisenden. Während sie bei der Bussuche vielleicht noch hilfreich waren, sind sie beim Schlangestehen vorm Gepäckraum oft wenig zimperlich. Ellenbogen werden ausgefahren, Zehen malträtiert und Fragen kurz angebunden abgeschmettert. Zum Ziel gelangt nur, wer sich geschickt an diversen Gegenständen durch die Menge drückt. Psst! So habe ich früher auch den Donut bekommen.
Zur Ladefläche strömen alle mit allem: Riesenkoffern, Fahrrädern, Wanderrucksäcken und Zimmerlampen. Jeder möchte »seins« zuerst in die Luke legen.
Normalerweise ist es so: Ganz vorne steht der Drängler und tritt mir schon im Vorbeiquetschen auf den Zeh. Er ist der Fahrgast, der an der Gepäckladefläche seine Neandertalermentalität an den Tag legt und versucht, sich mit allen Mitteln (Drängeln, Schubsen, halb grobe Verbalattacken) an die Frontlinie zu kämpfen, um sich die Führungsposition bei der Platzwahl zu sichern. Da argumentativ hier nichts zu holen ist, hilft maximal mein laut-empörtes »’TSCHULDIGUNG?!?!« – und dabei die Zehen einzuziehen. Gut, dass gerade zwei Drängler aufeinandertreffen. Sie versperren sich gegenseitig den Weg mit ihren Koffern und beginnen ein lautes Wortgefecht. Jetzt ist der ideale Moment, sich einfach am Gerangel vorbei an die Gepäckluke zu schleichen.
Die Idee habe aber natürlich nicht nur ich. Die Ratte, ein subtiler Gepäcktaktiker, der von seiner kleinen Körpergröße oder allgemeinen Hintergrundoptik profitiert, ist mir schon auf den Fersen. Er rückt seine mausgraue Umhängetasche zurecht und schaut beiläufig nach vorn. Kaum wende ich mich wieder dem Treiben zu, schiebt er mich mit einer federleichten Handbewegung zur Seite und schlüpft mit einer eleganten Drehung einfach so an mir vorbei. Bevor ich die Ratte anrüpeln kann, ist sie schon längst Richtung Doppelsitz verschwunden.
Während ich weiter versuche, mit meiner wenig handlichen Kofferkombination zur Luke vorzurücken, bemerke ich eine schemenhafte Gestalt an meinen Fersen, die sich mit der Herde kaum merklich immer weiterschiebt. Der Schatten haftet sich mit beeindruckender Penetranz an Mitreisende und verwirrt mit der Scheinehentaktik: Er nähert sich mir so lange millimeterweise, bis er mit mir, seinem Opfer, auf derselben Höhe steht und von den Umstehenden als Teil eines Paars wahrgenommen wird. Als wir endlich fast vorne stehen, schmeißt er sein Gepäck in Sekundenschnelle über meinen Kopf in die Luke und verschwindet dann sofort im Bus. Zurück bleibe ich mit meinen Koffern. Jetzt muss ich schnell sein. Seitlich strömen immer mehr Drängler vorbei, vor mir bildet sich schon die nächste Reihe.
»Halt!«, schreit plötzlich eine Stimme von hinten. »Können wir uns hier nicht mal alle wie Erwachsene benehmen?« Es ist die Aktivistin, eine kleine Frau mit rechteckiger Brille, Einzelkämpferin der Menschlichkeit, die angesichts der Verrohung ihrer Mitreisenden einfach nur geschockt ist. Versucht verzweifelt, an Moral und Ordnungsgefühl der Meute zu appellieren, während der Rest drängelt, schleicht und schiebt. Am liebsten wäre ihr, alle würden sich an den Händchen halten und in ordentlichen Zweierreihen aufstellen. Da das aber schon beim Wandertag in der fünften Klasse nicht klappt, zieht sie sich nach einer Weile schimpfend und zähneknirschend in die hinteren Reihen zurück. Verfasst am Fensterplatz einen wütenden Essay auf den Verfall der Menschheit, den die FAZ aber leider wieder nicht abdrucken wird. Ich werfe ihr einen verständnisvollen Blick zu und ziehe mein Gepäck Richtung hintere Mitte. Hier sammeln sich die Phlegmatiker. Wie Deserteure im Zwangsdienst stehen sie in der Schlange und bewegen sich mit langsamem Schritt mit der Masse, bis sie irgendwann halt mal dran sind. Sitzen hinterher ebenso gleichgültig auf dem Arschkartensitz und schreiben ihrem »Schatz«: »Was für ein Stress hier.« Dank ihnen landet mein Koffer endlich in der Luke. Denn an ihnen lässt es sich wunderbar vorbeiquetschen.
Das passt auch noch rein
Gedanken zur Gepäckpolitik
Endhaltestelle Berlin ZOB. Jeder sucht sein Gepäck zusammen. Von hinten jemand: »Ist das Ihr Gummibaum?« Darauf ein anderer erfreut: »Oh, ja! Danke!«
Glückliche Menschen sind ja bekanntlich Minimalisten: Sie brauchen wenig und geben viel. Sie sind keine Sammler und Horter, die sich mit unnützen Besitztümern umgeben, sondern führen ganz kleinteilfrei ein federleichtes Leben. Das klingt erstrebenswert. Und eigentlich möchte ich mich zu diesen Menschen zählen. Ich habe mir vorgenommen, nur dann eine neue Hose zu kaufen, wenn meine alte Löcher hat (was erstaunlich oft vorkommt), oder stattdessen eine alte in die Altkleidersammlung zu geben. Ich bemühe mich, wenig Gepäck zu haben, auf Reisen und im Leben allgemein. Wer einmal sein Hab und Gut von einer Dachgeschosswohnung ein paar hundert Kilometer weiter in die nächste transportiert hat, wird das automatisch verstehen.
Im Urlaub bin ich stolz darauf, möglichst wenig mitzunehmen. Ich will nicht die sein, die für ein Wochenende in Madrid vier Paar Schuhe dabeihat oder Handtaschen, die zum jeweiligen Kleid passen. Stattdessen schlendere ich in mehrfach gewaschenen Einzelteilen auf immer gleichen Schuhen durch warme Gassen. Es stimmt: Ich fühle mich frei.
Anders auf Busreisen. Aus allen Ecken und Enden scheinen sich auf wundersame Weise Dinge zu akkumulieren, die an meinem Körper baumeln: meine Reisetasche, mein Rucksack, mein Schal, mein Provianttäschchen, die Wasserflasche, eine Geschenktüte. Ich bewundere gemäßigte Packer, die ihren Multifunktionskoffer elegant unter den Sitz »sliden«. Es sind wahrscheinlich dieselben Menschen, die eine zusammensteckbare Reisezahnbürste mit Minizahnpasta besitzen und sie auf Reisen auch tatsächlich mit sich führen. Ich sitze stattdessen auf einem explosionsähnlichen Gefüge aus persönlichen Gegenständen und ziehe am Ende beschämt meinen zerknitterten Schal unter meinen Beinen hervor, während neben mir sorgsam fusselfreie und gefaltete Mäntel aus der Hutablage gehoben werden. Brauche ich einfach nur eine Multifunktionstasche mit perfekten Maßen?
Dabei finde ich, dass meine Taktik Sinn macht: Ich wende beim Packen für den Bus weniger Zeit und Sorgfalt an als bei einer Flugreise, bei der jemand sorgfältig meinen Koffer beäugt und mich eventuell zwingt, mein ausgebeultes Gepäckstück durch ein genormtes Rechteck zu quetschen. Im Bus muss nicht alles in eine Tasche passen. Deshalb gebe ich mir weniger Mühe. Auf den letzten Metern fällt mir immer noch was ein, das fehlt. Wasser! Und der Baumkuchen! Nieselt es? Vielleicht sollte ich noch die Regenjacke …? Anders als auf einer zweimonatigen Rucksacktour durch Südamerika...
Erscheint lt. Verlag | 17.10.2016 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Comic / Humor / Manga |
Sachbuch/Ratgeber | |
Reisen ► Reiseberichte | |
Schlagworte | Berlin • eBooks • Fliegen • Flixbus • Gepäck • Hamburg • MeinFernbus • München • Reisen • Trend • Zug |
ISBN-10 | 3-641-19060-6 / 3641190606 |
ISBN-13 | 978-3-641-19060-6 / 9783641190606 |
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