Abseits (eBook)
192 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-403269-6 (ISBN)
Günter de Bruyn wurde am 1. November 1926 in Berlin geboren und lebte seit 1969 im brandenburgischen Görsdorf bei Beeskow als freier Schriftsteller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Böll-Preis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung, dem Eichendorff-Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören u.a. die beiden kulturgeschichtlichen Essays »Als Poesie gut« und »Die Zeit der schweren Not«, die autobiographischen Bände »Zwischenbilanz« und »Vierzig Jahre« sowie die Romane »Buridans Esel« und »Neue Herrlichkeit«. Zuletzt erschien bei S. Fischer der Titel »Der neunzigste Geburtstag« (2018). Günter de Bruyn starb am 4. Oktober 2020 in Bad Saarow. Literaturpreise: Heinrich-Mann-Preis (1964) Lion-Feuchtwanger-Preis (1982) Ehrengabe des Kulturkreises des Bundesverbandes der deutschen Industrie (1987) Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck (1989) Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (1990) Ehrendoktor der Universität Freiburg (1990) Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der schönen Künste (1993) Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (1996) Brandenburgischer Literaturpreis (1996) Jean-Paul-Preis (1997) Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität, Berlin (1998) Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik (2000) Friedrich-Schiedel-Literaturpreis (2000) Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung (2002) Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache (2006) Hanns Martin Schleyer-Preis (2007) Hoffmann-von-Fallersleben-Preis (2008) Preis für deutsche und europäische Verständigung der Deutschen Gesellschaft e.V. (2010) Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay (2011)
Günter de Bruyn wurde am 1. November 1926 in Berlin geboren und lebte seit 1969 im brandenburgischen Görsdorf bei Beeskow als freier Schriftsteller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Böll-Preis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung, dem Eichendorff-Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören u.a. die beiden kulturgeschichtlichen Essays »Als Poesie gut« und »Die Zeit der schweren Not«, die autobiographischen Bände »Zwischenbilanz« und »Vierzig Jahre« sowie die Romane »Buridans Esel« und »Neue Herrlichkeit«. Zuletzt erschien bei S. Fischer der Titel »Der neunzigste Geburtstag« (2018). Günter de Bruyn starb am 4. Oktober 2020 in Bad Saarow. Literaturpreise: Heinrich-Mann-Preis (1964) Lion-Feuchtwanger-Preis (1982) Ehrengabe des Kulturkreises des Bundesverbandes der deutschen Industrie (1987) Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck (1989) Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (1990) Ehrendoktor der Universität Freiburg (1990) Großer Literaturpreis der Bayerischen Akademie der schönen Künste (1993) Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (1996) Brandenburgischer Literaturpreis (1996) Jean-Paul-Preis (1997) Ehrendoktorwürde der Humboldt-Universität, Berlin (1998) Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik (2000) Friedrich-Schiedel-Literaturpreis (2000) Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung (2002) Jacob-Grimm-Preis für Deutsche Sprache (2006) Hanns Martin Schleyer-Preis (2007) Hoffmann-von-Fallersleben-Preis (2008) Preis für deutsche und europäische Verständigung der Deutschen Gesellschaft e.V. (2010) Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay (2011)
Von Straßen und Wegen
Die Vorzüge der hier zu beschreibenden Gegend bestehen vor allem in dem, was ihr fehlt. Sie hat weder eine nennenswerte Industrie noch fruchtbare Äcker, weder allgemein als sehenswert geltende landschaftliche Reize noch berühmte historische Denkmäler oder Denkwürdigkeiten, und auch in Flora und Fauna kommen Besonderheiten nicht häufiger als anderswo vor. Massentourismus findet in ihr also nur wenige lohnende Ziele, was auch das Gastgewerbe am Aufblühen hindert, und da mit der fortschreitenden Technisierung der Landwirtschaft sich die Zahl ihrer Arbeitsplätze immer weiter verringert und in anderen Bereichen keine neuen geschaffen werden, kehren viele junge Leute der Gegend den Rücken, so daß sich die immer schon geringe Bevölkerungsdichte von Jahr zu Jahr weiter vermindert und bald ein Aussterben der Dörfer zu befürchten wäre, gäbe es nicht auch im Zeitalter der Großstädte und der Lust an der Menge einige Leute, die hier ihren Wohnort wählen oder behalten, weil ihnen der Mangel an Menschen, Reizen und Geräuschen behagt.
Auch fehlt der Gegend ein ansprechender Name, wie die Bewohner des Breisgaus, des Oderbruchs oder der Goldnen Aue ihn haben. Wer hier wohnt, wie ich heute, wird sich auf Reisen bei Fragen nach seinem Zuhause auf größere Räume wie den Osten, die Mark Brandenburg oder die Umgebung Berlins zu berufen versuchen; denn er weiß aus Erfahrung, daß die Ortsnamen Beeskow und Storkow, die an Stelle eines Landschaftsnamens seit Jahrhunderten schon seine Gegend behelfsmäßig bezeichnen, sich anderswo nur in seltenen Fällen mit der Vorstellung ihrer geographischen Lage verbinden lassen, so daß bei genauerem Fragen ein weiteres Ausholen nötig ist.
Der Bahnhof Kohlsdorf an der stillgelegten Eisenbahnstrecke von Beeskow nach Lübben
Fährt man mit Bahn oder Auto von Berlin aus auf den Schnellstrecken nach Osten oder nach Süden, nähert man sich zwar unserer Gegend, wird sie aber verfehlen, weil sie sich noch immer erfolgreich in einem der relativ unberührten Sektoren zwischen den strahlenförmig verlaufenden Hauptverkehrsadern verbirgt. Zwischen den üblichen Reiserouten lag sie auch schon in früheren Jahrhunderten, so daß sich keine historische Beschreibung über sie finden läßt. Hans Kohlhaase, das Urbild von Kleists Rechtsfanatiker Michael Kohlhaas, versteckte sich vor den kurfürstlichen Häschern im abgelegenen Storkow. Als der amerikanische Gesandte am preußischen Hofe, John Quincy Adams, der später sechster Präsident der USA wurde, 1800 von Berlin nach Schlesien reiste, wählte er, wie wir aus seiner Reisebeschreibung wissen, nicht die Route über Beeskow, sondern die über Frankfurt, und auch der Oberschlesier Joseph von Eichendorff reiste immer über Breslau, Grünberg und Frankfurt nach Berlin. Friedrich der Große berührte Beeskow nur notgedrungen, nämlich auf seinen Feldzügen. Und als Friedrich Wilhelm III. in Begleitung Scharnhorsts sich 1810 mit dem künftigen Staatskanzler Hardenberg heimlich treffen wollte und dafür einen abseitigen Ort suchte, wo sie vor den Spionen der französischen Besatzung sicher sein konnten, wurde Beeskow erwählt.
Auch für die Eisenbahnplaner lag und liegt unser Landstrich im Abseits. Während die Strecke Berlin–Frankfurt/Oder schon 1842 eröffnet wurde, war die unsere erst mehr als ein halbes Jahrhundert später dran. Als Bahnreisender muß man heute einen Dieseltriebwagen benutzen, der sich auf einer 1898 verlegten, nie grundlegend sanierten und heute immer von Stillegung bedrohten eingleisigen Strecke im gemächlichen Tempo der Bauzeit bewegt. Unbeschrankte Bahnübergänge an Feldwegen, unsichere Brücken über Gräben und ein Viadukt, dessen reparierte Kriegsschäden offensichtlich Stabilitätsprobleme hinterließen, machen ab und zu das Fahren im Schrittempo nötig; und wenn Gegenverkehr auf einigen Bahnhöfen Wartezeiten erfordert, verschwinden die Fahrer und die manchmal auch mitfahrenden Schaffner im Bahnhofsgebäude, um Kaffee zu trinken, während die Fahrgäste sich auf dem Bahnsteig ein wenig die Füße vertreten und eine Luft atmen, die, je nach Windrichtung, Jahreszeit und Wetterlage, nach Kiefernharz, Roggenblüte, frisch gepflügter Ackererde oder auch nach übelriechender Gülle schmeckt.
Neben dieser, heute im Einstundentakt befahrenen Strecke, die Königs-Wusterhausen mit Frankfurt an der Oder verbindet, existieren in unserer Gegend noch zwei Nebenstrecken, auf denen man, nicht weniger gemütlich, von Beeskow aus in nördlicher Richtung über Bad Saarow nach Fürstenwalde und südwärts über die Dörfer nach Lübben fahren könnte – hätte man nicht vor einigen Jahren den Fahrbetrieb eingestellt. Zwar ist jedes Jahr wieder in der Provinzpresse zu lesen, daß die Absicht einer Wiedereröffnung bestünde, aber die Hoffnung darauf ist gering. Die Schienen verrosten, und die wenigen alten Bahnhofsgebäude, die die Verwahrlosung des letzten halben Jahrhunderts heil überstanden haben, wurden inzwischen verkauft und werden bewohnt. Es sind, falls nicht durch Anbauten verschandelt, schöne Backsteinbauten aus Kaisers Zeiten, im bekannten und heute wieder geschätzten preußischen Bahnhofs-, Kasernen- und Postamtsstil.
Der Langsamkeit wegen sieht der Bummelzugreisende mehr als der Autobenutzer, doch ist diesem zu raten, auch langsam zu fahren, besonders wenn er in Straßen minderer Ordnung abbiegen muß. Dort nämlich findet er häufig schattengebende Straßenbäume, die der Fahrbahn einen beängstigend engen Rahmen geben und vielen Rasern schon zum Verhängnis wurden. Kleine Holzkreuze vor den mächtigen, aber am Unfall unschuldigen Eichenstämmen erinnern an sie. Unebenheiten der Straße lassen erahnen, daß sich unter den von Baumwurzeln gewellten Asphaltdecken noch die Kopfsteinpflaster der alten Chausseen mit den daneben laufenden sandigen Sommerwegen verbergen; denn erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als Kraftfahrzeuge auch auf dem platten Lande die Pferdefuhrwerke allmählich verdrängten, bemühte man sich auch hier um autofreundlichere Fahrbahndecken, doch reichten in vielen Fällen die Finanzen nicht aus. Die kürzeste Verbindung zwischen benachbarten Dörfern sind deshalb auch heute häufig noch Feld- oder Waldwege, deren Benutzung mit einem nur für den Straßenverkehr gedachten Auto nicht ratsam ist.
Kopfsteingepflasterter Feldweg bei Sauen
Tiefe Fahrrinnen, die Traktoren zu hinterlassen pflegen, können ein Aufsitzen des Wagens auf dem erhöhten Mittelstreifen bewirken. Pfützen, die die Tiefe der von ihnen gefüllten Löcher verbergen, lassen Abkürzungen risikoreich werden. Es kommt vor, daß Wege, die nur bis zu einem bestimmten Acker- oder Waldstück benutzt werden, in den folgenden Abschnitten – wie man hier sagt – versträuchern. Und manchmal versperren gerade an Stellen, die Wendemanöver unmöglich machen, Hindernisse den Weg.
Empfehlenswert sind solche Wege nur für Fußgänger und Radfahrer, doch wissen auch Maler und Photographen sie ihrer Schönheit wegen zu schätzen, und Geschichtsinteressierte lesen an ihnen Historisches ab. Denn der Verlauf der Autostraßen zwischen den Dörfern beruht zwar im allgemeinen auf den alten Wegesystemen, ist aber zu verschiedenen Zeiten aus unterschiedlichen Gründen ausgebaut worden, so daß man sich ohne Wissen um diese Gründe manch sinnlose Kurve nicht mehr erklären kann. Auf Landkarten, die auch die Wege verzeichnen, lassen sich oft die alten Heerstraßen und Postrouten noch leicht an ihrem schnurgeraden Verlauf erkennen, den der Landstraßenausbau des 19. und 20. Jahrhunderts nicht mitgemacht hat. Teils lag das an der Finanznot des Kreises und der einzelnen Gemeinden, teils an den Eigentümern der Ländereien, vor allem aber am Bau der Eisenbahnen, durch den die Zufahrt zum Bahnhof für die Bauern wichtiger wurde als die zur Mühle oder zum städtischen Markt. Trifft man auf Feldwege, die durch alte Eichen oder Kastanien zu schattigen Alleen wurden, kann man sicher sein, daß sich ein Gutsbesitzer diesen Luxus hat etwas kosten lassen, und wenn die Wege in monotonen Wäldern sich plötzlich durch andere Baumarten und Büsche verschönen, taucht bald ein Forsthaus oder dessen Ruine auf.
Als Fontane 1861 Kossenblatt besuchte, konnte die von ihm gemietete Kutsche noch den geraden Weg von Beeskow aus benutzen, während man auf der heutigen Landstraße den kleinen Umweg über Kohlsdorf machen muß. Der alte Weg ist in Stadtnähe durch Bebauung völlig verschwunden, auf den Feldern aber zum Teil noch vorhanden. Ihn markieren noch immer Obstbaumruinen, aber benutzt wird er nicht mehr, weil er streckenweise umgepflügt wurde und eine zu DDR-Zeiten ins freie Feld gesetzte Futtermittelfabrik ihn unterbricht.
Reizvoll, aber sehr langwierig ist es, wie ich in meiner Jugend erfahren konnte, auf dem Wasserwege hierher zu kommen, doch ist diese Art des Reisens unsportlichen Leuten verschlossen, weil dazu kleine und leichte Boote gehören, die man an Hindernissen wie defekten Schleusen und geschlossenen Wehren auch ein paar Meter über Land tragen kann. Leichter geht es mit dem Finger auf der Landkarte, auf der man sich schnell zurechtfindet, wenn man dem Lauf der Spree folgt. Sie entspringt an der Grenze Böhmens, fließt in nördlicher Richtung durch die sächsische Oberlausitz, zersplittert sich im brandenburgischen Spreewald in Hunderte schmaler Arme, fließt danach wieder genau nach Norden, als wollte sie ihr Ziel, nämlich Berlin und ihre Mündung in die Havel, auf dem kürzesten Weg erreichen, wird daran aber durch eine Hochfläche gehindert, die sie zu einem Umweg nach Osten zwingt. Viel fehlte nicht, und sie...
Erscheint lt. Verlag | 4.9.2014 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Sachbuch/Ratgeber | |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Schlagworte | Einsamkeit • Heimat • Hommage • Landschaft • Liebeserklärung • Mark Brandenburg • Wald |
ISBN-10 | 3-10-403269-6 / 3104032696 |
ISBN-13 | 978-3-10-403269-6 / 9783104032696 |
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