Der Jenissei - ein sibirischer Strom

Geschichte und Geschichten von seinen Quellflüssen bis zum Polarmeer
Buch | Softcover
208 Seiten
2014
Wostok (Verlag)
978-3-932916-61-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Jenissei - ein sibirischer Strom - Tatjana Kuschtewskaja
15,00 inkl. MwSt
„Erst hinter dem Jenissei wird die Natur originell, großartig und überwältigend“, schrieb Anton Tschechow im Jahre 1890. „Der Jenissei gleicht einem mächtigen, ungestümen Recken, der nicht weiß, wohin mit seiner Kraft und seinem Überschwang. Der Jenissei ist ein breiter, schneller, bewegter Fluss, eine Augenweide. Die Berge und der Jenissei sind das erste wirklich Originelle und Neue, das ich auf meiner Reise durch Sibirien antraf. Sie beschenkten mich mit Empfindungen, die mich für alle durchstandenen Strapazen hundertfach entschädigten.“ In der Tat, der Jenissei ist der große, mächtige Strom im Herzen Sibiriens und Lebensader für die an seinen Ufern lebenden Menschen. Die Reise auf dem Jenissei führt durch beinahe alle Klimazonen Russlands. In der Republik Tuwa kann man Kamelen begegnen, in Dikson, am Mündungsdelta des Flusses, auf Eisbären treffen.
Tatjana Kutschtewskaja fährt mit ihren Leserinnen und Lesern den Jenissei von seinen Quellflüssen bis zu seiner Mündung in die Karasee hinunter, besingt die herrliche Landschaft, führt ein in die Geschichte der Städte und Ansiedlungen, macht bekannt mit den kleinen Völkern und Völkerschaften, die seit Jahrhunderten an seinen Ufern leben, wie auch mit denen, die im Zuge der Erschließung Sibiriens hierher kamen. Sie erzählt von kleinen Geschichten und von großer Geschichte.

Tatjana Kuschtewskaja, geboren 1947 in der Turkmenischen SSR in der Wüstenoase Dargan-Ata; verbrachte ihre Jugend in der Ukraine; Studium der Musikpädagogik an der Musikhochschule von Artjomowsk (Diplom); arbeitete acht Jahre lang als Musikpädagogin in Jakutien; 1976 bis 1981 Studium an der Fakultät für Drehbuchautoren der Filmhochschule Moskau (Diplom), wo sie 1983 bis 1991 einen Meisterkurs für Drehbuchautoren leitete und als freie Journalistin tätig war; verfasste zahlreiche Drehbücher und Reportagen; unternahm Reisen durch alle Regionen der ehemaligen UdSSR; lebt seit 1991 in Deutschland. Veröffentlichungen in deutscher Sprache: „Ich lebte tausend Leben“, Velbert, 1997; „Russische Szenen“, Berlin, 1999; „Mein geheimes Rußland“, Düsseldorf, 2000; „Transsibirische Eisenbahn“, Berlin, 2002; „Die Poesie der russischen Küche“, Düsseldorf, 2003; „Meine sibirische Flickendecke“, Düsseldorf, 2005; „Hier liegt Freund Puschkin. Spaziergänge auf russischen Friedhöfen“, Düsseldorf, 2006; „Sibirienreise – Die Lena“, Berlin, 2007; „Küssen auf Russisch“, Düsseldorf, 2007; „Der Baikal“, Berlin, 2009; „Tolstoi auf’m Klo“, Berlin, 2010; „Liebe – Macht – Passion. Berühmte russische Frauen“, Düsseldorf, 2010; „Die Wolga“, Berlin, 2011; „Russinnen ohne Russland“, Düsseldorf, 2012; „Florus und Laurus. Meine russischen Tiergeschichten“, Berlin, 2013.

Der Jenissei – eine Annäherung.5
Von den Quellflüssen des Jenissei nach Kysyl.15
Von Ksyl nach Abakan.31
Von Abakan nach Krasnojarsk.51
Das Naturschutzgebiet „Krasnojarsker Säulen“.71
Die Stadt Krasnojarsk.87
Von Krasnojarsk nach Jenisseisk.105
Von Jenisseisk nach Turuchansk.119
Von Turuchansk nach Igarka.141
Von Igarka nach Dudinka.161
Von Dudinka nach Dikson.183
Informationen für Reisende.197

Der Jenissei – eine Annäherung Es gibt keinen Fluss in Russland, der wasserreicher und mächtiger ist als der Jenissei. Und keinen, der schöner ist. Sein Name entstammt der Sprache der Ewenken. „Ionessi“ bedeutet „großes Wasser“. Der Fluss zerschneidet die riesige sibirische Landmasse ziemlich genau in der Mitte. Daher sprechen wir von Westsibirien und Ostsibirien, wobei Letzteres sehr viel später erschlossen wurde. Der Fluss war lange Zeit ein Hindernis für das Vordringen gen Osten. Früher wurde die Länge des Jenissei ab der Stelle gemessen, an der der Große und der Kleine Jenissei zusammenfließen. Das waren 3487 Kilometer. Doch in jüngster Zeit misst man die Länge des Flusses ausgehend von der Quelle des Kleinen Jenissei, dann ist der Fluss 4287 Kilometer lang. Der Jenissei ist also ein Fluss mit zwei Quellflüssen, im Altertum wurde er der „Zweiköpfige“ oder der „Zweigehörnte“ genannt. Am 29. Mai 1890 stand Anton Tschechow, der auf dem Weg zur Insel Sachalin war, am Ufer des Jenissei und wartete auf die Fähre. Er sah den mächtigen Strom nur hier, auf der Höhe von Krasnojarsk, aber seine gesamte Wahrnehmung der beschwerlichen Reise durch Sibirien wandelte sich hier. Von nun an war er begeistert! „Erst hinter dem Jenissei wird die Natur originell, großartig und überwältigend“, schrieb Tschechow. „Der Jenissei gleicht einem mächtigen, ungestümen Recken, der nicht weiß, wohin mit seiner Kraft und seinem Überschwang. Der Jenissei ist ein breiter, schneller, bewegter Fluss, eine Augenweide. Die Berge und der Jenissei sind das erste wirklich Originelle und Neue, das ich auf meiner Reise durch Sibirien antraf. Sie beschenkten mich mit Empfindungen, die mich für alle durchstandenen Strapazen hundertfach entschädigten.“ Dank der Naturwunder, die der Jenissei in seinem Verlauf zu bieten hat, belegt er in meiner Liste der Flüsse den ersten Platz. Sauberes Wasser, Berge, schroffe Felsenklippen, die Taiga, Gletscher, das Nordlicht, Braunbären, pittoreske Märkte, die einzigartige Kultur der an seinen Ufern lebenden Völker Sibiriens und des Hohen Nordens: Chakassen, Tuwiner, Keten, Ewenken, Ewenen, Dolganen, Nenzen. Fügen Sie den Schamanismus und die alten Mysterien hinzu, die heute noch von Schamanen zelebriert werden. Die alten Religionen und das Christentum sind am Jenissei so eng miteinander verflochten, dass Jesus wie eine Ergänzung zur Schar der Naturgötter wahrgenommen wird. Was man unbedingt am Jenissei gesehen haben muss, das sind die chakassischen Steinkultstätten – sie sind älter als die ägyptischen Pyramiden – und das 18000 Jahre alte chakassische Observatorium. Man sollte unbedingt dem tuwinischen Kehlkopfgesang lauschen. Es gibt wenige Gesänge auf der Welt, die einen solchen Zauber ausüben, die so zur Stimmung der Landschaft passen und sich so mystisch mit dem Raunen der Taiga und dem Rauschen des Wassers verbinden. Im Jenissei-Gebiet findet man Spuren des bis heute nicht enträtselten Tunguska-Ereignisses. Man kann zum geheimnisvollen Putorana-Plateau gelangen. Die Jenissei-Städte, ob alt oder jung, warten mit interessanten Museen auf. Die Region Krasnojarsk ist nach der Republik Sacha (Jakutien) das flächenmäßig zweitgrößte Subjekt der Russischen Föderation und zählt zu den an Naturressourcen reichsten Regionen des Landes. Ihr Territorium ist fast siebenmal so groß wie Deutschland. Hier lagern 95 Prozent der russischen Nickel- und Platinoidvorräte, zwanzig Prozent der Goldvorräte, zudem Magnesit, Kobalt, Grafit, Blei, Apatit, Mangan-, Aluminium- und Uranerze sowie Erdöl und Erdgas. Sie können jeden russischen Reisenden fragen, welche Orte er in Sibirien am liebsten besuchen würde, und die Antworten sind immer die gleichen: den Baikalsee und die „Säulen“ von Krasnojarsk! Die Säulen zählen zu den bedeutendsten Naturwundern am Jenissei. Das Dickicht fantastisch geformter, gigantischer Felsen konnten nur die Krieger des Altertums überwinden, über die in alten Sagen, den Oloncho, berichtet wird. „Die Krieger spürten keinen Schmerz, und während des Kampfes fielen sie in eine selbstvergessene Trance, sodass sie Wundertaten vollbringen konnten, danach schliefen sie ganze Tage lang.“ Die psychologische Vorbereitung auf den Kampf war Sache der Schamanen. Sie nutzten hypnotische Beschwörungsformeln oder magische Pilze. Die alten sibirischen Sagen sind so ausdrucksstark in ihrer Schilderung blutiger Kriege und gewaltiger Reckentaten, dass man wenig Vergleichbares findet. Es heißt, die Völker am Jenissei seien die mutigsten und verwegensten unter den Völkern des Nordens gewesen. Sie nahmen in Sibirien eine privilegierte Stellung ein. 1822 berichtete der zaristische Inspektor Kapitän Resin: „Im Wesentlichen kennt man hier im Nordosten keine übergeordnete Macht und regiert sich selbst.“ Noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts galten die Völker des Nordens als „nicht völlig unterworfen“: sie „zahlen ihren Jassak (Naturaltribut) in der Menge und Qualität, wie sie es selbst wünschen“. Die Unabhängigkeit zeigt sich in ihren Namen. Die Tschuktschen bezeichnen sich selbst als „Igoratwelanen“, was nichts anderes bedeutet als „echte Menschen“. Angehörige anderer Volksstämme sahen sie nicht als echte Menschen an, nur die Russen betrachteten sie als ebenbürtig, allerdings erst, nachdem sie viele Kriege mit ihnen geführt hatten und ihre Tapferkeit und ihren großen Mut anerkennen mussten. Was meine eigene Beziehung zum Jenissei betrifft, so ist dieser Fluss einer der wenigen, in die ich mich regelrecht verliebt habe. Ja, es ist Verliebtheit! Ich spüre Begeisterung und Wehmut, Zärtlichkeit und Trennungsschmerz. Und Sehnsucht. Und es geht nicht mir allein so. Nicht ohne Grund schrieb der etwas spröde, eher kurz angebundene Arktisforscher Fridtjof Nansen, der auf seinem Schiff „Korrekt“ 1913 den Jenissei von der Mündung bis zur Stadt Jenisseisk bereiste, so poetisch und liebevoll über den Jenissei in seinem Buch „Sibirien, ein Zukunftsland“: „Rundum ein grenzenloser, tiefblauer Raum und helles, glitzerndes Wasser, das die Birken am Ufer reflektiert. Im Osten, am steilen Ufer, liegt unendlich dunkler Wald, von flüchtigem Mondnebel eingehüllt. Die Seele schwelgt in der Stille dieser riesigen waldigen Welt, die im weichen Mondlicht leuchtet. Seltsam, dass diese unüberschaubaren Wälder mit ihren Flüssen und exotischen Bewohnern die kindliche Fantasie nicht in ähnlichem Maße beflügelt haben, wie die jungfräulichen Wälder Amerikas mit ihren Rothäuten. Die Namen der Flüsse – Jenissei, Lena, Angara, Tunguska – und die Namen der Stämme – Ostjaken, Tungusen, Jakuten – klangen in den Ohren der Heranwachsenden nie so verheißungsvoll wie Hudson, Delaware und die Großen Seen, wie Mohikaner, Delawaren und Sioux. Vielleicht haben die sibirischen Wälder ihren James Fenimore Cooper noch nicht gefunden? Das Leben hier ist nicht weniger fantastisch.“ Wohin ich auch reise, die Erinnerung an den Jenissei reist mit. Das Fundament Venedigs, vor rund 1500 Jahren aus Stämmen der sibirischen Lärche in die Lagune gebaut, stammt vom Jenissei. Die Lärche heißt dort „Baum der Ewigkeit“. 1827 ordnete die venezianische Stadtverwaltung an, die Stabilität der Fundamente zu untersuchen. Was stellte sich heraus? Die Stämme waren nicht vom Meerwasser angegriffen, sondern regelrecht versteinert. Sie erwiesen sich als so hart, dass weder Beil noch Säge ihnen etwas anhaben konnten. Die Kathedralen des Moskauer Kreml haben hölzerne Turmkonstruktionen, die bereits 500 Jahre alt sind! Auch sie wurden aus Lärchen vom Jenissei gebaut. In Venedig denke ich übrigens noch an einem anderen Ort an den Jenissei. Nämlich auf dem weltweit schönsten Fischmarkt am Rialto. Der Markt bietet ein überaus reiches Angebot, aber nichts reicht an den wunderbaren Geschmack des geräucherten oder fangfrischen Fischs vom Jenissei heran. Und wenn Sie selbst eine Ucha (Fischsuppe) am Jenissei gekostet haben, werden Sie mir zustimmen. Sie ist ein kulinarisches Meisterwerk. Alle Angehörigen der Nordvölker am Ufer des Jenissei – Nenzen, Dolganen, Ewenken – essen gern rohen Fisch. Roher Fisch „Stroganina“ ist vor allem schmackhaft, fein und aromatisch. Die wichtigste Bedingung für das Essen am Jenissei lautet: Der Fisch muss absolut frisch sein. Und wenn sie den einmal gekostet haben, verstehen Sie, warum am Jenissei die Jahrhunderte ins Land ziehen, die „Stroganina“ jedoch bleibt und nach wie vor zu den Lieblingsspeisen der Sibirier zählt. Eine Reise auf dem Jenissei ist weniger eine Suche nach dem Unbekannten, als eine Art Selbsterfahrung. Und je mehr „gezähmte“ Orte es auf der Karte deiner Lebensreise gibt, desto größer ist der Wunsch, Wegmarken im Gedächtnis zu halten, an denen sich der Reisefaden entlang rollt. Der Jenissei ist eine solche Wegmarke, er richtet unsere Reise aus und bestimmt das Tempo unserer Reise. Wer in Sibirien weilt, sieht sich selbst von außen. Die Reise des Geistes ist untrennbar mit der Reise durch den weiten Raum verbunden, um zu verstehen, wer man ist, und wozu man da ist. Viele Passagierschiffe fahren auf dem Jenissei. Es sind auch ganz komfortable Kreuzfahrtschiffe für betuchte Touristen darunter. Ich bin auf ganz gewöhnlichen Passagierdampfern gefahren – „Alexander Matrosow“ und „Waleri Tschkalow“. Beide wurden im Jahre 1954 in der DDR gebaut. Nach ihrer Generalüberholung fahren sie auch heute noch, unermüdlich, wie in alten Zeiten. Ihr Zustand ist hervorragend! Schwimmende Museen – Echtholz und Messing überall. Auf der „Alexander Matrosow“ überwiegt poliertes Messing in den Kajüten, auf der „Waleri Tschkalow“ Messing mit grauer Beschichtung. Mein ganzes Leben lang führe ich ein Exkursionstagebuch. Der erste Eintrag über den Jenissei stammt aus dem Jahre 1971. Meine Freundin und ich fuhren aus unserem heimischen Lensk an der Lena zum Jenissei, weil die Freundin ihren vierzehnjährigen Sohn besuchen wollte. Er hatte lange gebettelt, bis sie ihm erlaubt hatte, den Sommer über bei der Sajano-tuwinischen archäologischen Expedition mitzuarbeiten. Ein Jahr später kam ich wieder an den Jenissei. Diesmal gehörte ich einer Gruppe Freiwilliger an, die Häftlinge in den sibirischen Strafkolonien mit Büchern versorgen wollte. Wir wollten den Tuwinern, die im Gebiet Krasnojarsk eine Strafe verbüßten, Bücher in ihrer Muttersprache bringen. Sie waren im Russischen oft nicht so geübt und konnten deshalb die Bibliotheken nicht nutzen. Aber wir wurden heftig kritisiert. „Komsomolzen“, so hieß es, „ihr sorgt für die falschen!“ Und den letzten Koffer mit Büchern, die wir nicht in der Gefängnisbibliothek hatten abgeben dürfen, schleppte ich wieder zurück nach Hause, vom großartigen Flussbahnhof in Krasnojarsk, der wie ein Palast in die Höhe ragt und an dessen Fassade stolz die Losung prangte: „Der Jenissei arbeitet für den Kommunismus!“ Das dritte Mal war ich mit Freunden auf dem Jenissei unterwegs nach Tur, um den 8. Juni zu feiern. Am 8. Juni feiern die Ewenken das Neujahrsfest. Es ist ein fröhlicher Tag voller Lieder, Tänze und regionaler Köstlichkeiten! In der Sprache der Ewenken heißt das Fest „Muschun“, „Zeit des Kuckucks“. Wenn der Kuckuck zu rufen beginnt, fängt im Land der Ewenken der Sommer an und das Neue Jahr. Der interessanteste Moment des Festes ist das uralte Schamanenritual der Verneigung vor den Geistern des Jenissei, vor den Geistern der Taiga und den Geistern der Jagd. Mir hat schon immer der gemächlich-traurige Singsang der ewenkischen Redeweise gefallen. Er ruft viele Assoziationen wach, den Duft des sibirischen Rhododendron, frisch gebratenes Rentierfleisch, das Sirren der Mücken, das Heulen des Schneesturms, den hellen Klang kleiner Bäche, die neugierigen Gesichter der Kinder, die gutmütigen Nomaden und ihre Gastfreundschaft. Ein Roman mit dem Jenissei als Hauptfigur, selbst wenn er kurz ist, kann sich nur entwickeln, wenn ein Schiff dabei ist. Das Bild, das die Fantasie malt, ist immer das gleiche: ein Schiff, das die Wellen des wasserreichsten Flusses Sibiriens durchpflügt, durch geheimnisvolle Landschaft zieht, durch den kaum erforschten sibirischen Norden. Das ist der einzige Weg, um ins Herz Sibiriens zu gelangen. Denn auf dem Landweg kann man nicht reisen. Es gibt kaum Straßen. Und sich zu Fuß durch diesen Teil Sibiriens zu schlagen, ist gefährlich: undurchdringliche Taiga, umgestürzte Baumstämme auf den Pfaden wilder Tiere und keine Orientierungsmöglichkeiten. Große Vorräte kann man nicht mitführen, und sich unterwegs mit Nahrung zu versorgen, ist für den unerfahrenen Reisenden schwierig. Zudem kann man schnell zu einer begehrten Delikatesse für Bären, Wölfe und Mückenschwärme werden. Vor den Mücken rettet nur der Jenissei. Das sind Gründe genug, um auf dem Jenissei durch Sibirien zu reisen. Falls Sie planen, das Schiff für einige Tage an einem interessanten Ort zu verlassen, sollten Sie einen einheimischen Führer nehmen. Er wird Sie gefahrlos über die reißenden sibirischen Flüsse und durch die endlosen Taigawälder führen. Die nenzischen oder ewenkischen Führer haben ihre Karte im Kopf, und sie orientieren sich nach ihr, ohne vom Weg abzukommen, mit einer intuitiven Gabe, gefährlichen Situationen auszuweichen. Und auch das Pferd oder Rentier kommt bei solchen Begleitern nicht vom Weg ab und scheuert sich am Zaumzeug nicht wund. Im Winter sind selten Touristen am Jenissei. Die Hauskatzen und Hunde in Krasnojarsk frieren, selbst, wenn sie warm eingepackt sind: Sie trippeln von einer Pfote auf die andere, bei vierzig Grad Frost hat man sich schnell Erfrierungen zugezogen. Die Menschen aber – ja, so sind sie! Ihnen geschieht nichts! Es sind schließlich Sibirier! Die jungen Frauen tragen Stiefel mit hohen Absätzen, die Babuschki verkaufen Sauerkraut auf der Straße, und im Bus wärmt sich manchmal ein streunender Hund, der sich an der fröhlichen, dicken, bis unter die Nase eingemummelten Fahrkartenverkäuferin vorbei ins Innere schummeln konnte. Jetzt ist es zu spät, ihn hinauszujagen, alle Fahrgäste treten für ihn ein: Lassen Sie den Hund doch! Soll er sich aufwärmen! Jeden, der eine Reise auf dem Jenissei plant, interessieren zwei Fragen: Wie ist im Sommer das Wetter, kann man baden, sich vielleicht sogar sonnen? Es gibt einen Scherz: „Worin unterscheiden sich Sommer und Winter am Jenissei? Im Winter trägt man den Anorak geschlossen, im Sommer offen.“ Nein, nein, so ist es nicht. Bereits im Mai stellt sich in der mittleren Region Ostsibiriens eine sonnige, windstille Schönwetterlage ein. Im Juli und August kann in Krasnojarsk die Quecksilbersäule im Schatten durchaus dreißig Grad erreichen. Die durchschnittliche Wassertemperatur von Mitte Juli bis Mitte August beträgt in Minussinsk siebzehn Grad, im Krasnojarsker Stausee am Anleger Primorsk und in Jenisseisk achtzehn Grad und im nördlich gelegenen Turuchansk fünfzehn bis sechzehn Grad. Was die Strände betrifft, so können sie es an Weitläufigkeit und Schönheit mit den Wolga- und Dnjepr-Stränden aufnehmen. Selbst mit den Stränden am Schwarzen Meer! Und die Luft ist einmalig! Die Luft am Jenissei ist immer klar, durchtränkt vom Aroma von Nadelwald, Honig und Kräutern. Denjenigen, die den Jenissei bereisen wollen, empfehle ich eine zwölftägige Reise. Von Abakan bis Krasnojarsk auf dem Landweg und dann von Krasnojarsk nach Norilsk auf dem Fluss. Man sollte unbedingt das Dorf Owsjanka besuchen, die Heimat des Schriftstellers Viktor Astafjew, in Schuschenskoje vorbeischauen, wo Wladimir Iljitsch Lenin in der Verbannung lebte, und in Krasnojarsk auf dem Landgut des Malers Wassili Surikow verweilen. Selbst wenn Sie kein einziges Buch über Sibirien gelesen und keine einzige Fernsehreportage gesehen haben, so entsteht hier, am Ufer des „Recken-Flusses“, wie die Sibirier den Jenissei auch nennen, gleich beim ersten Mal das Gefühl der Zugehörigkeit. Als seien Sie schon einmal hier gewesen. Das haben mir Reisende schon oft bestätigt. Selbst ausländische Touristen erzählten mir, sie kämen hier ohne Reiseführer und ohne Sprachkenntnisse wunderbar zurecht. Liegt es an den Gesten, dem Lächeln, den Tafelfreuden, dem Wodka, den Liedern.? Die Ausländer wundert oft, dass die Sibirjaken viel Wodka trinken, ohne dass man Betrunkene sieht. Ja, die Sibirjaken können Maß halten! Zweifellos, in seinem Reiseland muss man die örtlichen Getränke zu sich nehmen. Nicht, weil sie dort besser sind, als sonst auf der Welt, sondern weil es in der Welt keine Zufälle gibt. Es gibt eine Art natürliche Auslese. Und der Wodka ist ebenso ein Teil der sibirischen Kultur, wie es in Georgien die halbtrockenen Weine Kindsmarauli und Chwantschkara sind und in Portugal der gute Portwein ist. Der russische Wodka ist 500 Jahre alt. Bei einer Reise auf dem Jenissei kommt man ohne ein wenig Wodka nicht aus. Der auf Zedernkernen angesetzte sibirische Wodka ist auf männliche Art stark und auf weibliche Art zärtlich. Ein universelles, geradezu ideales Getränk. Ein Schlückchen stört nie. Weder im Sommer, noch im Winter. Anders kann man bei minus dreißig Grad gar nicht überleben. Und schon gar nicht an den Tänzen der Tuwiner an der frischen Luft teilnehmen. Und nicht Zuschauer bei den ewenkischen Hunderennen sein und seine Favoriten anfeuern. Und nicht begeistert sein von einem russischen Gericht, das der Koch des Grafen Stroganoff einst erfunden hat: Boeuf Stroganoff. Wie wäre es, wenn wir noch die passende Musik zu unserer Reise finden? Können Sie sich vorstellen, was zu diesem Fluss passt? Ideal zur Landschaft, die an den Kajütenfenstern vorbeizieht, passen die Lieder der „einsamen Wölfin“, vorgetragen von einer geheimnisvollen Sängerin, über die ich im nächsten Kapitel erzähle, und die Gesänge sibirischer Schamanen. Gut wäre es, den leisen, tiefen Stimmen zu lauschen, die mitunter exaltiert klingen, dann wieder einschmeichelnd und raunend, am liebsten würde man ihnen für immer lauschen. Und, nein, nicht etwa mitsummen, sondern leise weinen. Ich gebe es zu: Am liebsten würde ich mein Leben lang auf dem Jenissei „herumschippern“, wenn da nicht die Notwendigkeit wäre, Geld zu verdienen. Doch versuchen Sie mal zu arbeiten, wenn solche Lieder zu hören sind. Die Sehnsucht der melancholischen tuwinischen Melodien spricht auch aus der Jenissei-Landschaft: In goldenen Strahlen geht die Sonne unter, bizarre Steingebilde beugen sich so weit auf das Wasser herab, als wollten sie dich einladen, von ihnen zu springen, und je mehr man sich auf der Route Krasnojarsk-Dikson dem Polarmeer nähert, desto magischer erscheinen die mit violetten Lupinen bestandenen Ufer. Ganz sacht fühlt man sich an die Provence mit ihren Lavendelfeldern erinnert. Die sibirische Nationalblume ist übrigens ein winziger weiß-gelber Berg-Nelkenwurz, der ein wenig an das Gänseblümchen erinnert. Er überzieht die felsigen Ufer gemeinsam mit rosa Thymian und zarten Ringelblumen. Und rot leuchtenden Beerensträuchern. Sollten Sie von Krasnojarsk aus nach Süden reisen, den Strom hinauf nach Minussinsk und Kysyl, wo Großer und Kleiner Jenissei zusammenfließen, werden Sie die Taigawälder bewundern, Fichten, Zedern. Und wenn Sie sich sattgesehen haben, ist es Zeit, sich satt zu essen. Auf den Touristenschiffen bereitet man wieder Gerichte der sibirischen Kaufleute zu: Pelmeni aus Rentierfleisch, Sterlett, Konfitüre aus Zedernzapfen, Borschtsch und kleine Piroggen, schwarzer Kaviar gehört auch dazu. Sie bekommen erst ein Gefühl dafür, wie köstlich und wunderbar die sibirische Küche ist, wenn Sie alles direkt in Sibirien genießen. Was ich festgestellt habe: Mindestens die Hälfte meiner Freunde aus Sibirien glaubt an Geister, an die verborgenen Bewohner der Berge, des Wassers, der Taiga. Die Geister können, wie mir meine Freunde versichern, jede beliebige Gestalt annehmen: die eines Fischs, eines Pferdes, eines Adlers, ja, sogar einer Wolke! An Deck unseres Dampfers ist es ein beliebter Zeitvertreib, solche Wesen in den Felsenklippen am Ufer, in den Wäldern und in den Stromschnellen zu entdecken. Und plötzlich hast du dich auf das Spiel eingelassen: Sieh nur den Fisch, der mit der Schwanzflosse die Wasseroberfläche streift, das muss der Geist des Jenissei sein. Und dort, die wilden Rentiere, siehst du das mit dem mächtigsten Geweih? Das ist der Geist der Taiga. Komm, fotografier mich schnell mit dem Geist! Und alle lachen!. Ich muss an eine Begebenheit denken, von der mir ein Tschuktschen-Hirte erzählt hat. Seine Rentierkuh hatte ein gewaltiges Geweih. Ihr Kälbchen wurde von einem Wolf bedroht. Das Rentier drückte den Wolf mit seinen Geweihgabeln zur Erde und hielt ihn so lange, bis sich der Hirte mit einem Messer auf den Wolf stürzte. Ohne das Rentier hätte der Mensch hier nicht überleben können. Rentiere werden als Zugtiere genutzt, ihr Fleisch ist das hiesige Hauptnahrungsmittel. Die Jurten sind mit Rentierhäuten bedeckt, die Betten in der Jurte mit Rentierfell. Die weiche Kleidung für die Kinder ist aus dem Fell junger Rentiere gefertigt. Das Garn, mit dem die Torbasa-Stiefel genäht werden, besteht aus Rentiersehnen. Gewöhnliches Garn würde reißen, die Rentiersehnen sind reißfest. Die Riemen an den Hundeschlitten sind aus Rentierleder. Ebenfalls aus Rentierleder sind die Schellentrommel des Schamanen und der Schlafsack, mit dem man im tiefsten Schnee schlafen kann. Die in Sibirien lebenden Russen werden Sibirjaken genannt. Seit alters her unterscheiden sie sich in ihrem Charakter von den Russen im zentralen Teil des Landes. Die Sibirjaken haben einen freiheitsliebenden Geist. Die Bauern in Sibirien waren immer geradliniger, fröhlicher, gutmütiger und gastfreundlicher als die im europäischen Teil. Denn dort gab es bis weit in das 19. Jahrhundert hinein keine Bauern im eigentlichen Sinn, sondern nur Gutsherren und Leibeigene. Die sklavische Dienstfertigkeit der Leibeigenen gab es in Sibirien nie. Doch hat dieser Charakter auch seine dunklen Seiten. Dazu notierte der sibirische Autor Dmitri Mamin-Sibirjak, dessen 160. Geburtstag im Jahr 2012 begangen wurde: „Intellekt, eiserner Wille, Großzügigkeit sind die eine Seite, die andere jedoch Selbstzufriedenheit und Grausamkeit.“ „Der Sibirjak ist kein russischer Muschik, der erst die lange Sklaverei abschütteln und sich an den Gebrauch der Freiheit gewöhnen musste. Der Sibirjak ist unter ihren Fittichen aufgewachsen, vom Geist der Freiheit erzogen. Wenn es in Sachen Freiheit eine Blutsverwandtschaft gibt, so ist sie auf Seiten der Sibirjaken. Aus der Heimat vertrieben in Folge seiner Taten, als Häftling nach Sibirien verbannt, zahlte er teuer für das Recht, am Rand der Welt ein neues Leben zu beginnen“, schrieb im Jahre 1860 der revolutionär gesinnte Offizier I. Mecheda aus Irkutsk über das Wesen der Sibirjaken. Es ist schwierig, die Wesensart der Sibirjaken sofort richtig zu verstehen, man muss wieder und wieder zu ihnen reisen. Dann merkt man, dass bei ihnen alles einfacher und harmonischer eingerichtet ist, als bei uns – die zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso wie die Beziehung zum Leben. Für die Angehörigen der nördlichen Völker an den Ufern des Jenissei ist die Gastfreundschaft heilig. Wer immer du sein magst, woher du auch kommen magst, wenn du als Gast kommst, werden die traditionellen Trachten angelegt, und die Frauen bereiten Speisen aus den delikaten Fischen der sibirischen Flüsse zu: Weißlachs und Muksun-Renke, „Stroganina“ aus gefrorenen Felchen, hauchzarte rosafarbene Streifen von frisch gefrorenem Fisch – und ganz gewiss wird man mit der echten Ucha vom Jenissei bewirtet. Wie reizvoll sind die Inuit-Mädchen beim Tanzen! Sie bewegen sich graziös zum Klang der Kehlkopf-Schreie der „Möwen“ und zur Musik von Schellentrommel und Chomus, einem Instrument, das einer winzigen Mundharmonika gleicht. Und wie hübsch sie gekleidet sind, man kann die Augen kaum abwenden! Pelz, Glasperlen, Schmuck aus Fischhaut mit schwarz-weißer kunstvoller Zeichnung. Die Völker Sibiriens haben einen guten Geschmack und ein besonderes Auge für Farbkombinationen. In ihrer Welt, in der Farben selten sind, erfreut man sich an ihnen ganz besonders. Die Menschen sind sehr offen und herzlich. Der einzige, der Sie nicht gleich ins Herz schließen wird, ist der Schamane. Er schaut stets misstrauisch und streng. Aber es gibt einige Methoden, den „Zauberer des Nordens“ zu besänftigen. Er liebt Geschenke. Und je ungewöhnlicher sie sind, desto besser. Einmal nahm ich einen Nenzen-Schamanen in einem Dorf unweit von Dudinka auf Polaroid auf. Ich war zu Gast bei einem Fest zur Begrüßung des Sommers. Das wird begangen, wenn sich „der Fluss öffnet“, also das Eis bricht. In diesem Jahr hatte sich der Fluss besonders früh geöffnet, aber das Fest fand zur üblichen Zeit statt. Um den Jenissei und seine Geister günstig zu stimmen, setzte der Schamane Rinde heiliger Bäume ins Wasser, die er mit Zucker und Brot bedeckt hatte. So bat er die Geister um reichen Fischfang. Als das Fest zu Ende war, schenkte ich dem Schamanen das Polaroidfoto. Er schien sehr zufrieden mit seinem Porträt: ein bärtiger Greis mit hoher Stirn vor der Kulisse des gewaltigen Stromes. Dann fragte er mich nach meinem Namen und sagte, er würde mir einen neuen schenken. Von nun an sei mein Name: „Jadnanje“, das heißt in der Sprache der Nenzen: „Eine Frau, die geht“. Und er machte mir noch ein Geschenk: den seltsam geformten Zahn eines gewiss wilden Tieres. Der liegt bis heute auf meinem Schreibtisch und erinnert mich daran, wie großartig und herrlich die sibirische Welt ist. In diesem Buch erzähle ich nicht nur Geschichten über die Völker Sibiriens, über die sibirischen Städte, die Ergebnisse der sibirischen Wissenschaften und über die Probleme der Regionen. Ich möchte vor allem meine persönlichen Eindrücke mit meinen Lesern teilen, die eindrücklichen Bilder, die ich auf meinen Reisen wahrnehmen konnte, und die viel zuverlässiger im Gedächtnis bleiben als trockene Fakten. Aber kein Buch über den Jenissei kann Sibirien ersetzen. Man muss es mit eigenen Augen sehen und erleben! „Je schneller du dich einem Ziel näherst, umso schneller weicht es zurück“, heißt es in Sibirien. Wir werden deshalb langsam den Jenissei hinab fahren. Mit vielen Pausen, damit Zeit zum Nachdenken bleibt und eine persönliche Beziehung zum Fluss entstehen kann. Unser Ziel soll nicht vor uns zurückweichen.

Erscheint lt. Verlag 10.3.2014
Mitarbeit Anpassung von: Britta Wollenweber
Übersetzer Steffi Lunau
Sprache deutsch
Maße 150 x 228 mm
Gewicht 349 g
Einbandart Paperback
Themenwelt Reisen Reiseberichte
Reisen Reiseführer
Schlagworte Abakan • Dikson • Dudinka • Eismeer • Igarka • Jenisseisk • Krasnojarsk • Krasnojarsker Säulen • Kysyl • Sibirien • Turuchansk • Tuwa
ISBN-10 3-932916-61-1 / 3932916611
ISBN-13 978-3-932916-61-8 / 9783932916618
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