Brasilien (eBook)

Ein Länderporträt

(Autor)

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2013 | 1. Auflage
208 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-249-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Brasilien - Jens Glüsing
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Brasilien war für Europa immer Projektionsraum eigener Sehnsüchte und Ängste. Heute steht das größte Land Lateinamerikas als Austragungsort der Fußball-Weltmeisterschaft 2014 und der Olympischen Spiele 2016 im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit. Als aufstrebende Wirtschaftsmacht spielt es längst im Konzert der Großen mit. Doch es ist bei weitem nicht alles in Ordnung am Zuckerhut: Im Juni 2013 gingen Millionen Menschen auf die Straße, protestierten gegen Korruption und forderten umfassende politische Reformen. Brasilien ist im Umbruch.
Jens Glüsing entwirft sein Brasilienbild aus der Perspektive eines Auslandskorrespondenten, versucht aber zugleich, das Land von innen zu verstehen - aus der Sicht eines Deutschen, der seit über zwanzig Jahren dort lebt. Glüsing kennt fast alle Winkel dieses Riesenlandes und schildert seine sehr persönlichen Eindrücke in packenden Reportagen.

Jens Glüsing: Jahrgang 1960, Studium der Politikwissenschaft und Hispanistik an der Universität Hamburg; Ausbildung an der Henri-Nannen-Journalistenschule; seit 1991 Lateinamerika-Korrespondent des Spiegel mit Sitz in Rio de Janeiro; 2005 Auszeichnung mit dem Premio Embratel, Brasiliens wichtigstem Journalistenpreis; Veröffentlichung im Ch. Links Verlag: "Das Guayana-Projekt", 2008.

Einführung: In die Tropen geworfen


Ich wollte nie nach Brasilien. Als mein Chef beim Spiegel mich Anfang 1991 fragte, ob ich Lateinamerikakorrespondent werden wolle, war meine Antwort: »Sofort – aber in Buenos Aires.« Dort saßen die meisten Korrespondenten deutscher Medien, dort kannte ich mich aus, dort beherrschte ich die Sprache. Alles Argumente, die der kluge Mann sofort gegen mich verwendete: »Na prima, dann müssen Sie nach Brasilien, das kennen Sie ja noch nicht, außerdem ist es das wichtigste Land Südamerikas. Gehen Sie für ein Jahr nach Rio, dann sehen wir weiter.«

Ich wollte unbedingt nach Lateinamerika, an der Standortfrage sollte mein Traum nicht scheitern, also willigte ich ein. Ein Jahr Rio war ja wohl auszuhalten, danach würde ich nach Argentinien übersiedeln, so stellte ich mir das vor.

Es stimmte übrigens nicht, dass ich Brasilien nicht kannte, ich war 1985 als Student sieben Monate mit dem Rucksack durch Südamerika gereist, davon vier Wochen durch Brasilien. Die ersten Tage hatte ich während des Karnevals in Rio verbracht.

Gleich am ersten Abend machte ich Erfahrungen mit der Kriminalität: Als ich an einem Imbiss meine Geldbörse zückte, rempelte mich ein junger Mann an, riss mir das Portemonnaie aus der Hand und lief davon. Drei Tage später zogen gewiefte Taschendiebe meinem Reisegefährten die Geldbörse aus der Hosentasche, als wir einem Karnevalsumzug in Copacabana hinterherliefen. Er war abgelenkt, weil eine hübsche Dame ihm beherzt zwischen die Beine gegriffen hatte, während ihre Kollegin an seiner Hosentasche nestelte.

Die Lage der Stadt fand ich traumhaft – solange man sie aus der luftigen Höhe der Christusstatue betrachtete. Aus der Nähe erschien sie dagegen dekadent: Die wenigen Gebäude der Kolonialzeit, die den Modernisierungswahn fortschrittsbesoffener Bürgermeister überlebt hatten, verfielen; die Apartmentburgen neueren Datums fand ich einfach nur hässlich. Das Schönste an Rio waren für mich die Natur, die sich dem Zerstörungsdrang der Menschen tapfer widersetzte, der Dschungel und natürlich die Strände. Ich genoss den Geruch der Tropen, die feuchte, duftende Luft nach einem Gewitter, die üppige Vegetation.

Am 13. Oktober 1991 stand ich wieder in Rio, diesmal als frischgebackener Korrespondent des Spiegel. Heloísa Leuzinger, meine Mitarbeiterin im Büro, hatte mir eine Wohnung besorgt, sie lag nur hundert Meter vom Büro entfernt in Urca, einem idyllischen Viertel am Fuß des Zuckerhuts. Die Lage allein war allerdings nicht ausschlaggebend, sondern ein anderes Detail: Die Wohnung hatte einen Telefonanschluss.

Ein Telefon zu besitzen war damals keine Selbstverständlichkeit, sondern ein teuer erkauftes Privileg: Es gab nur eine Telefonfirma, und die war staatlich. Sie war nicht in der Lage, alle Antragsteller mit Anschlüssen auszustatten, so dass Telefonleitungen ein rares und begehrtes Gut waren. Die Folge: Der Schwarzmarkt mit Telefonleitungen blühte. Am Wochenende waren die Zeitungen voll mit Anzeigen von Leuten, die Telefonleitungen vermieteten oder verkauften. Ein Anschluss in Urca kostete 3000 US-Dollar. Das Geschäft wurde unter konspirativen Bedingungen in schummrigen Bars oder Restaurants abgewickelt.

Man konnte eine Nummer auch mieten. Dieses System führte dazu, dass die Telefongesellschaft seit Jahren kein neues Telefonbuch herausgegeben hatte – die meisten Nummern waren untervermietet. Die Chance, dass man unter einer bestimmten Nummer tatsächlich den Menschen erreichte, unter dem sie registriert war, war gleich null.

Rätselhafter brasilianischer Alltag! Die nächste Überraschung erlebte ich, als ich meine erste Portugiesischstunde nahm. Die Sprachlehrerin, eine Dame der Mittelschicht, brachte mir als Erstes bei, wie man Zahlen ausschreibt – um einen Scheck auszufüllen.

Die Brasilianer bezahlten damals fast alles mit Schecks, selbst ein Eis am Strand. Schecks waren sicherer als Bargeld, das konnte ich ja noch verstehen. Aber warum stellte man Schecks über einen Gegenwert von zwei oder drei Euro aus? Meine Assistentin Heloisa klärte mich auf: Ein Scheckheft, ein Konto, ein cleverer Bankberater und ein gewiefter Cambista, wie die zumeist illegalen Geldwechsler genannt werden, waren unerlässlich, um sich gegen den Feind Nummer eins im brasilianischen Alltag zu behaupten: die galoppierende Inflation.

Anfang der 1990er Jahre stiegen die Preise praktisch täglich, ebenso wie der Wechselkurs für den Dollar. Das Gehalt, das am Monatsende überwiesen wurde, war zwei Wochen später nur noch die Hälfte wert. Schecks hatten den Vorteil, dass man sie vordatieren konnte, wenn der Verkäufer das akzeptierte: Wenn sie fällig wurden, war der Gegenwert in harter Währung geringer als am Tag des Kaufes. Wer es sich leisten konnte, wechselte also sein Gehalt am Monatsanfang in US-Dollar, die er dann im Laufe des Monats nach und nach wieder zurückwechselte, um die fälligen Rechnungen zu bezahlen. Kreditkarten in nationaler Währung wurden gestaffelt nach dem Fälligkeitsdatum eingesetzt, so ließ sich ebenfalls Geld sparen. Jeder Brasilianer war ein kleiner Finanzexperte, man investierte sein Geld in »Overnight«-Anlagen, weil die Zinsen täglich stiegen.

Erstmals konnte ich vor Ort beobachten, wie die Inflation Wirtschaft und Gesellschaft einer Nation zersetzt. Für Ausländer, die in Devisen verdienten, waren es goldene Zeiten: Ich gab bei dem Inhaber meiner Wechselstube Eurocheques ab, ein Officeboy brachte mir dafür zweimal die Woche Plastiktüten voller Cruzeiros oder Cruzados ins Haus, der Name der Währung änderte sich alle paar Monate. Die Brasilianer dagegen kämpften jeden Tag ums finanzielle Überleben. Voller Neid sahen sie auf die Ausländer mit ihren Dollars oder D-Mark. Die Legende, dass Gringos grundsätzlich reich sind, stammt aus dieser Zeit, sie hält sich bis heute. Dabei verdienen viele Mittelschichtsbrasilianer inzwischen weitaus mehr als vergleichbare Mitteleuropäer.

Brasilien litt Anfang der 1990er Jahre nicht nur unter Hyperinflation, es war auch eine weitgehend abgeschottete Volkswirtschaft. Das erklärte ein weiteres Rätsel des brasilianischen Alltags: Gebrauchte Autos waren teurer als Neuwagen. Die vier großen Autofirmen VW, Ford, General Motors und Fiat hatten den Markt unter sich aufgeteilt. Konkurrenz brauchten sie nicht zu fürchten: Der Import von Autos war entweder verboten oder mit absurd hohen Einfuhrzöllen belegt. Zugleich war die Nachfrage größer als das Angebot: Wegen der Hyperinflation flüchtete die Mittelschicht in Sachwerte, vor allem Immobilien und Autos waren gefragt. Auf einen Neuwagen musste man daher monatelang warten.

Meine Sprachlehrerin brauchte Geld, sie bot mir an, ihr Auto zu kaufen. Der zwei Jahre alte VW sollte fast doppelt so viel kosten wie ein neuer. Aus ihrer Sicht war das Angebot ein Schnäppchen.

Ich verzichtete dennoch und entschied mich für einen gebrauchten VW Passat bei einem Händler. Der hatte nämlich eine Klimaanlage, das war damals ein seltener Luxus. Außerdem war er mit vier Türen und weinroten Plüschpolstern ausgestattet, das war absolut ungewöhnlich für ein brasilianisches Automodell.

Das Auto war ein »Iraker-Passat«, so hieß das Modell im Volksmund. Volkswagen do Brasil hatte Mitte der 1980er Jahre einige zehntausend speziell ausgerüstete Passats für Saddam Husseins Irak gebaut, sie waren Teil eines Tauschgeschäfts der Militärregierung: Autos gegen Öl. Aus irgendeinem Grund konnten die Iraker die letzte Tranche nicht bezahlen, die Schiffe mit den Autos kehrten auf hoher See um, und die Passats wurden kurzerhand an die Einheimischen verkauft.

Das war eine meiner ersten Lektionen: In Brasilien regelt nicht der Markt Angebot und Nachfrage, sondern die Regierung. Der Bürger wurschtelt sich irgendwie durch. Man muss kreativ sein und improvisieren können, wenn man im Kampf gegen Inflation, Behördenwillkür und unsinnige Gesetze bestehen will.

Das Leben ließ sich nicht planen, wie ich es in Deutschland gelernt hatte, die Gegenwart zählte mehr als die Zukunft oder die Vergangenheit. Das war eine neue Erfahrung für einen Europäer, der über tausend Jahre Geschichte mit sich herumschleppt und es gewohnt war, schon in jungen Jahren für seine Rente zu sparen. Vielleicht strahlt Brasilien – seine Größe, seine Generosität, seine Lebensfreude – heute deshalb heller als andere Nationen. Es söhnt uns aus mit dem Chaos und der Unvorhersehbarkeit unserer Existenz.

Ich war nach einigen Wochen in Rio in ein schönes altes Haus in Urca umgezogen, hatte ein Telefon und ein Auto. Jetzt fehlte mir zur Vervollkommnung meiner brasilianischen Existenz nur noch eine Empregada, wie die Dienstmädchen heißen. Brasilianer der Mittel- und Oberschicht, aber auch manche meiner ausländischen Kollegen beschäftigten damals ganze Heerscharen von Hausangestellten. Die Löhne waren, vor allem wenn man in Devisen verdiente, so gering, dass sich ein normaler Mittelschichteuropäer wie ein Fürst fühlen konnte. Einer meiner Vorgänger hatte einen Chauffeur, ein Kindermädchen, eine Köchin, einen Gärtner und eine Putzfrau.

Ich war ledig, kinderlos, unabhängig und würde sowieso die meiste Zeit unterwegs sein. Autofahren tat ich selbst, bekochen lassen wollte ich mich auch nicht. Außerdem verspürte ich schon bei dem bloßen Gedanken an Diener im Haus Schuldgefühle. Andererseits konnte ich mein Haus nicht allein lassen, wenn ich auf Reisen ging, jemand musste...

Erscheint lt. Verlag 5.12.2013
Reihe/Serie Länderporträts
Zusatzinfo 1 Karte/Tabelle
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber
Reiseführer Südamerika Brasilien
Schlagworte 20-Cent-Revolution • Brasilia • Brasilien • Essigrevolution • Favelas • Fußball-Weltmeisterschaft 2014 • Lateinamerika • Olympische Spiele 2016 • Passe Livre • Rio de Janeiro • São Paulo • Südamerika • Wirtschaftsmacht • Zuckerhut
ISBN-10 3-86284-249-5 / 3862842495
ISBN-13 978-3-86284-249-0 / 9783862842490
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