Drei Schritte nach Russland

Erzählung

(Autor)

Buch | Hardcover
208 Seiten
2013
Bloomsbury (Verlag)
978-3-8270-1138-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Drei Schritte nach Russland - Irina Liebmann
16,99 inkl. MwSt
  • Titel ist leider vergriffen;
    keine Neuauflage
  • Artikel merken
»Russland, das Land, das sich einmal die Errichtung einer neuen Welt vorgenommen hatte und nun in den Trümmerstücken davon allein dasteht. Russland, das Land meiner Mutter, und als sie gestorben war, bin ich hingefahren ...« Irina Liebmann stellt sich in diesem Buch eine so einfache wie herausfordernde Frage: Was ist Russland?
Siebzig Jahre lang kannte die Welt nur die Sowjetunion, ihre Politik, ihre Kultur — dort, wo einst das Zarenreich gewesen war.
Nun ist die Sowjetunion verschwunden, an ihrer Stelle ist Russland erschienen, aber was ist Russland? Diese Frage führte Irina Liebmann in den letzten Jahren drei Mal zurück in das Land, in dem sie geboren wurde, das Land ihrer Mutter.Nur einer Schriftstellerin vom Format Irina Liebmanns gelingt es, sich so auf Orte einzulassen, ob die gegenwärtigen oder bereits untergegangenen, dass schon der Rhythmus ihrer Sprache, die Auswahl an Beobachtungen und Begegnungen, jene große diagnostische Kraft entfaltet, wie wir sie von den Reiseschriftstellern der Weltliteratur kennen.

Irina Liebmann, geboren 1943 in Moskau als Tochter des deutschen Journalisten Rudolf Herrnstadt und der russischen Germanistin Valentina Herrnstadt, studierte Sinologie in Leipzig. Von 1966 bis 1975 arbeitete sie als Redakteurin für die Zeitschrift "Deutsche Außenpolitik". Seit 1975 lebt sie als freie Schriftstellerin in Ost-, seit 1988 in Westberlin. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise, u. a. den Aspekte-Literaturpreis und den Berliner Literaturpreis.

„Fast schreibt sie ein wenig atemlos. In Andeutungen, kurzen Sätzen, Seufzern, Dialogen, traumgleichen Assoziationen. Das ist ihr Kunstgriff.“, Die Welt, Gabriele von Arnim, 10.04.2013

Die Russen. Siebzig Jahre lang eingeschlossen, abgesperrt, beinahe vergessen. Von uns jedenfalls beinahe vergessen. Ich weiß es genau, es war mir nicht angenehm, dass wir im Osten Deutschlands manchmal über sie sprachen, als ob es sie kaum noch gibt: »Bei denen.« »Bei denen ist es natürlich noch schlechter.« Es hatte so zu sein, dass es ihnen schlechter ging als uns, wir hatten uns angewöhnt, so zu denken, wir haben nie wirklich nach ihnen gefragt. Wir blickten nach Westen. Und jetzt? Was Westen war, hat seine Leuchtkraft verloren. Aber angenehm ist es im Westen noch. Ich sitze in einer großen Wohnung, seit acht Wochen ist Winter mit Schnee und mit Eis wie niemals zuvor, und doch sind die Geschäfte voller Waren und die Heizung warm, nur die Zahlen auf meinem Bankkonto muss ich im Auge behalten, diese Zahlen sind der Kilometerzähler meines Lebens geworden, und nicht meines alleine, denn schon sitzen alle Regierungen Tag und Nacht zusammen und reden über nichts anderes als die Zahlen auf ihren eigenen Kilometerzählern, wir können abstürzen, rufen sie, abstürzen, ins Meer fallen, in ein Meer der wertlosen Scheine, die kein Konto wahrnehmen wird, keinen Meter wird es mehr anzeigen als zuvor, keine Zahl dafür in die Höhe treiben, wir fallen, wir fallen - und die da, die Russen? Die sehen zu. Sollen wir zu ihnen blicken? In ihre Richtung? Was ist denn dort? Was? Und was waren das für Jahre, die letzten zwanzig? Was war das für ein Glanz, dem wir nachliefen? War es überhaupt Licht? War es Glitzerkram? Haben wir einen Fehler gemacht? Wann? Warum? Was ist geschehen? Diese Frage muss man in Russland nicht stellen. In Russland springt sie einem von jedem Büchertisch entgegen, an jedem Zeitungskiosk brüllen sie regelrecht, diese Schlagzeilen: Wann? Warum? Was ist geschehen? Was ist mit uns geschehen? - Mussten wir das sein?! Die Vogelscheuche unter den Völkern?! - Wir haben euch geliebt. - Wer? - Unsere Kindergartengruppe zum Beispiel. Wir haben russische Tänze geübt. - Na wunderbar, ich sage es ja! Vogelscheuche unter den Völkern! Und das sind wir immer noch! Gespräch in einer Moskauer Küche. Diese Küche ist so klein, dass gerade mal ein winziges Tischchen mit zwei Hockern hineinpasst und ein Hängeschrank über dem Abwaschtisch. Direkt unter dem Küchenfenster stehen Bäume, Schnee auf den Ästen, ein Kiosk, die Sonne scheint. Minus 14 Grad. Die Heizkörper der Wohnung haben keine Ventile, im zentralen Heizwerk wissen sie schon, wie kalt es ist, und schicken genau die Wärme, die gebraucht wird, die bullige Wärme hier in der Küche kostet fast nichts. - Gas haben wir genug! Wir sind Gas! Sie lacht, meine Wirtin. Kein gutes Lachen ist das. - Und verschone mich mit der Vergangenheit. Ich bin eine erwachsene Frau, weißt du, ich habe genug erlebt. Ich spare jetzt meine Kräfte. Ich bin auch eine erwachsene Frau, ich trinke Tee und überlege, was ich sagen kann, um meine Bekannte zu trösten, zu verblüffen. Das Sportstadion an der Berliner Chausseestraße fällt mir ein, wie ich dort als Kind erlebte, dass riesiger Jubel ausbrach, als es aus den Lautsprechern tönte, dass die Delegation der Sowjetunion die Aschenbahn betreten hat: »... begrüßen wir die Vertreter des ersten sozialistischen Staates der Erde!«, und mit ihren roten Fahnen kamen lachend und singend unendlich viele junge Frauen und Männer in weißer Kleidung, ja, weißer Kleidung gelaufen. Da lief sie, da unten, die Weltmacht meiner Kindheit, Garant des Friedens, so hat sie sich selber bezeichnet, und besonders wir sollten sie so nennen, wir, die Kinder im Osten Deutschlands. Aber auch die übrige Welt führte ihre Losungen immerzu im Munde, ihre Abrüstungsinitiativen, ihre Führer, ihre Raketen, ihre Filme und ihre Sportler natürlich. In meiner Erinnerung sehe ich sie wieder und wieder auf die Siegertreppchen steigen, junge Leute mit drei halbrunden Kreisen auf der Brust und dem großen P: CCCP! Und ihre Fahne wird hochgezogen, die rote, mit Hammer und Sichel, und die Hymne erklingt, ihre Hymne, die ganz große Opernmusik: »Von Russland, dem großen, auf ewig verbündet, steht machtvoll der Volksrepubliken Bastion! Es lebe, vom Willen der Völker gegründet, die einig und mächtige Sowjetunion!« - Ihr singt sie immer noch, stimmt's? - Nein. Doch, doch. Sie singen sie noch, und sie singen sie auch nicht. Der Text ist geändert. Und die Kremltürme auf dem Roten Platz tragen den zaristischen Doppeladler und sie tragen ihn auch nicht - denn vom höchsten und wichtigsten Turm blitzt wie immer der rote Stern. Ob er auch immer noch leuchtet nachts? Wie früher, als ich ein Kind war, auf der Durchreise in Moskau? Wir sind hier in Moskau. Die Wohnung gehört einer Frau, die oft auch nach Deutschland kommt, und schon hier, in der Winzigkeit des Raumes und der Heftigkeit des Gefühls ist die ganze Entfernung zu spüren, die zwischen uns liegt. Zwei Frauen in Moskau. Denn sie wird dort bleiben, sie lebt dort, es ist ihr Land, und sie will auch kein anderes, und ich weiß für alles eine andere Variante: Einen besseren Küchentisch, einen besseren Abwaschschrank, der Kiosk da draußen müsste gestrichen werden - zwei Planeten sind wir, die sich schon lange nicht mehr berühren, sehr lange schon. Der Leser kann es nicht wissen und ich hatte es vergessen, aber ich bin einmal ein sowjetisches Kind gewesen. Ein Moskauer Kind. Nur kurz, ganz am Anfang des Lebens nur, aber der Anfang ist wichtig bei jeder Geschichte, und mein Anfang war eben dort, dort im Sowjetreich, in seiner Hauptstadt sogar, und so was vergisst man nicht. Ganz im Gegenteil. Sei stolz darauf, hieß es öfter, sag nichts davon, hieß es auch, das kannst du vergessen, so hieß es zuletzt, und das sagte ich mir dann selber - vergiss es. Es bedeutet nichts. Gar nichts. Es ist nur ein Wort: geboren in Moskau. Na und? Die Geschichte, die dahintersteht, ist die Geschichte meiner Eltern. Meine Geschichte dagegen hat dort nur begonnen, nichts weiter. Allerdings gehört es zu dieser Geschichte, dass ich Russisch sprechen konnte und russische Kinderbücher geschenkt bekam und dass mir Schleifen ins Haar gebunden wurden von meiner Mutter, die ich auf Russisch, mit russischem Klang eben, Mama nannte. Es gehört auch dazu, dass meine Mutter mit mir und meiner Schwester wochenlang durch die Sowjetunion fuhr, um ihre eigene Mutter zu besuchen und die eigene Schwester. Das war in Sibirien, dort wohnten die, und es waren die ersten Jahre nach dem Ende des Krieges, als sie es schaffte, nach Hause zu fahren mit uns und dann wieder zurück nach Berlin, wo mein Vater schon wartete, mehr Familie hatten wir nicht. Berlin war die Stadt, wo wir hingehörten, daran bestand nie ein Zweifel. Die Reisen damals in dieser Nachkriegszeit dauerten lange, und nie werde ich die stundenlangen Wartezeiten der Züge auf allen Bahnhöfen der Sowjetunion vergessen, die an der Strecke liegen, ihre klingenden Namen beim Einschlafen manchmal auf der Schlafwagenpritsche, oder beim Anhalten, mitten in der Nacht: SWERDLOWSK, OMSK, NOWOSIBIRSK, ULAN-UDE. Diese Bahnhöfe - sie waren wie Ameisenhaufen, schwarz vor Menschen, die überall saßen, lagen, schliefen, manche mit leeren Augenhöhlen oder Beinstümpfen, an die ein Holzstiel gebunden war, und so viele in Lumpen. Ihre Not, ihre Hast, ihre Ratlosigkeit - das war der Krieg. Aber einmal sprang ein Mann in unseren Waggon, als der Zug grade abfuhr, dieser Mann war »ohne Dokumente«. Er stand auf der Plattform ohne Gepäck, aufatmend, als die Räder unter ihm rollten, immer schneller rollten, und so angstvoll und so erleichtert zugleich sah er dem Schaffner fest in die Augen - lange. Es war Zufall, dass ich dabei war und dann beobachten konnte, dass er den Schaffner mit seinen Augen bezwungen hat, und der ließ ihn mitfahren, einfach so, »ohne Dokumente«, diese sagenhaften »Dokumente«, ohne die ein Mensch hier ein Nichts war, ein Bündel von Angst, ja, das konnte man sehen. Das war nicht der Krieg, aber darüber sagte meine Mutter nur: »Er hat sie verloren. Komm rein ins Coupé.« So eine Reise nach Sibirien war nicht nur weit, sie war auch teuer. Schon bald konnten meine Eltern das Geld dafür nicht mehr aufbringen, und diese Reisen und die Sowjetunion überhaupt entfernten sich schnell aus unserem Leben. Die Großmutter starb, die Tante besuchte uns nun in Deutschland, und im Jahr 1983 war ich selber das letzte Mal dort, zu Besuch bei ihr, weit hinter dem Baikalsee, in einer Ein-Zimmer-Neubauwohnung, die man ihr zugeteilt hatte. Im Sommer war es gewesen, alle Parks hatten Zäune aus geformten Betonteilen, alle Autobusse zerschlissene Sitzpolster, und nach dem Regen standen die Straßen im Zentrum der Stadt voller Wasser, denn es gab kein Gullysystem. Mit durchweichten Schuhen wateten wir nach Hause, und da ich das alles fortgesetzt unfreundlich kommentierte, schimpfte meine Tante unaufhörlich auf mich ein und wollte mich auch nicht mehr zum Flughafen bringen am letzten Tag. Aber vielleicht wollte sie auch nur zu Hause bleiben, weil er so früh am Morgen angesetzt war, der Abflug nach Moskau. Wir Passagiere standen dann nach zehn Stunden immer noch dort, mal im Freien, mal wieder im Wartesaal, wo es kaum etwas zum Essen oder zum Trinken gab. Damals dachte ich, ich müsste für immer dort bleiben, käme nie mehr zurück nach Europa, und als ich zurück war, dachte ich, ich fahre nie mehr dorthin. Und nun? Ich bin wieder gefahren. Ich wollte wissen, was Russland ist. Ich kannte nur die Sowjetunion.

Die Russen. Siebzig Jahre lang eingeschlossen, abgesperrt, beinahe vergessen. Von uns jedenfalls beinahe vergessen. Ich weiß es genau, es war mir nicht angenehm, dass wir im Osten Deutschlands manchmal über sie sprachen, als ob es sie kaum noch gibt: "Bei denen." "Bei denen ist es natürlich noch schlechter." Es hatte so zu sein, dass es ihnen schlechter ging als uns, wir hatten uns angewöhnt, so zu denken, wir haben nie wirklich nach ihnen gefragt. Wir blickten nach Westen. Und jetzt? Was Westen war, hat seine Leuchtkraft verloren. Aber angenehm ist es im Westen noch. Ich sitze in einer großen Wohnung, seit acht Wochen ist Winter mit Schnee und mit Eis wie niemals zuvor, und doch sind die Geschäfte voller Waren und die Heizung warm, nur die Zahlen auf meinem Bankkonto muss ich im Auge behalten, diese Zahlen sind der Kilometerzähler meines Lebens geworden, und nicht meines alleine, denn schon sitzen alle Regierungen Tag und Nacht zusammen und reden über nichts anderes als die Zahlen auf ihren eigenen Kilometerzählern, wir können abstürzen, rufen sie, abstürzen, ins Meer fallen, in ein Meer der wertlosen Scheine, die kein Konto wahrnehmen wird, keinen Meter wird es mehr anzeigen als zuvor, keine Zahl dafür in die Höhe treiben, wir fallen, wir fallen und die da, die Russen? Die sehen zu. Sollen wir zu ihnen blicken? In ihre Richtung? Was ist denn dort? Was? Und was waren das für Jahre, die letzten zwanzig? Was war das für ein Glanz, dem wir nachliefen? War es überhaupt Licht? War es Glitzerkram? Haben wir einen Fehler gemacht? Wann? Warum? Was ist geschehen? Diese Frage muss man in Russland nicht stellen. In Russland springt sie einem von jedem Büchertisch entgegen, an jedem Zeitungskiosk brüllen sie regelrecht, diese Schlagzeilen: Wann? Warum? Was ist geschehen? Was ist mit uns geschehen? Mussten wir das sein?! Die Vogelscheuche unter den Völkern?! Wir haben euch geliebt. Wer? Unsere Kindergartengruppe zum Beispiel. Wir haben russische Tänze geübt. Na wunderbar, ich sage es ja! Vogelscheuche unter den Völkern! Und das sind wir immer noch! Gespräch in einer Moskauer Küche. Diese Küche ist so klein, dass gerade mal ein winziges Tischchen mit zwei Hockern hineinpasst und ein Hängeschrank über dem Abwaschtisch. Direkt unter dem Küchenfenster stehen Bäume, Schnee auf den Ästen, ein Kiosk, die Sonne scheint. Minus 14 Grad. Die Heizkörper der Wohnung haben keine Ventile, im zentralen Heizwerk wissen sie schon, wie kalt es ist, und schicken genau die Wärme, die gebraucht wird, die bullige Wärme hier in der Küche kostet fast nichts. Gas haben wir genug! Wir sind Gas! Sie lacht, meine Wirtin. Kein gutes Lachen ist das. Und verschone mich mit der Vergangenheit. Ich bin eine erwachsene Frau, weißt du, ich habe genug erlebt. Ich spare jetzt meine Kräfte. Ich bin auch eine erwachsene Frau, ich trinke Tee und überlege, was ich sagen kann, um meine Bekannte zu trösten, zu verblüffen. Das Sportstadion an der Berliner Chausseestraße fällt mir ein, wie ich dort als Kind erlebte, dass riesiger Jubel ausbrach, als es aus den Lautsprechern tönte, dass die Delegation der Sowjetunion die Aschenbahn betreten hat: " begrüßen wir die Vertreter des ersten sozialistischen Staates der Erde!", und mit ihren roten Fahnen kamen lachend und singend unendlich viele junge Frauen und Männer in weißer Kleidung, ja, weißer Kleidung gelaufen. Da lief sie, da unten, die Weltmacht meiner Kindheit, Garant des Friedens, so hat sie sich selber bezeichnet, und besonders wir sollten sie so nennen, wir, die Kinder im Osten Deutschlands. Aber auch die übrige Welt führte ihre Losungen immerzu im Munde, ihre Abrüstungsinitiativen, ihre Führer, ihre Raketen, ihre Filme und ihre Sportler natürlich. In meiner Erinnerung sehe ich sie wieder und wieder auf die Siegertreppchen steigen, junge Leute mit drei halbrunden Kreisen auf der Brust und dem großen P: CCCP!

Erscheint lt. Verlag 12.3.2013
Sprache deutsch
Gewicht 328 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Literatur Romane / Erzählungen
Reisen Reiseberichte Europa
Schlagworte Biografisch • Russland; Berichte/Erinnerungen • Russland; Romane/Erzähl.
ISBN-10 3-8270-1138-8 / 3827011388
ISBN-13 978-3-8270-1138-1 / 9783827011381
Zustand Neuware
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Mehr entdecken
aus dem Bereich