Geschichten aus dem Speisewagen (eBook)

Unterwegs in Deutschland
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2010 | 1. Auflage
384 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-400719-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geschichten aus dem Speisewagen -  Torsten Körner
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Der Speisewagen - Ein Ort der überraschenden Begegnungen Torsten Körner reiste ein Jahr lang im Speisewagen durch das Land. Er beobachtete und sprach mit fremden Menschen, die mit ihm und anderen Reisenden ihre (Lebens-) Geschichten teilten. Egal, ob die Studentin, der Handwerker, die Rentnerin oder der Physikprofessor: Alle teilten sie ihr Schicksal, ihre Probleme, ihr Glück mit den Mitreisenden - wenn auch nur für eine begrenzte Zeit. Dieses besondere Gesellschaftsporträt zeigt das wahre Gesicht der Bundesrepublik, jenseits aller Klassen- und Altersgrenzen.

Torsten Körner schrieb die hochgelobten Spiegel-Bestseller-Biographien über Heinz Rühmann, Franz Beckenbauer und Götz George und ist seit vielen Jahren Juror des Grimme-Preises. Unter anderem wurde er 2010 ist er mit dem Bert-Donnepp-Preis, dem Deutschen Preis für Medienpublizistik, ausgezeichnet. Als freiberuflicher Autor und Journalist schreibt Körner Medien- und Fernsehkritiken.

Torsten Körner schrieb die hochgelobten Spiegel-Bestseller-Biographien über Heinz Rühmann, Franz Beckenbauer und Götz George und ist seit vielen Jahren Juror des Grimme-Preises. Unter anderem wurde er 2010 ist er mit dem Bert-Donnepp-Preis, dem Deutschen Preis für Medienpublizistik, ausgezeichnet. Als freiberuflicher Autor und Journalist schreibt Körner Medien- und Fernsehkritiken.

Wie ich mich in den Speisewagen verliebte


Autos sind was für Solisten. Im Flugzeug schweigen Sardinen vor sich hin. In der Bahn jedoch findet man Platz (meistens), Geschichten und Menschen. Natürlich regt man sich über die Bahn gerne mal auf, über Verspätungen, überfüllte Züge, aber das zeigt nur, welche Bedeutung sie hat, welchen Stellenwert sie in unserem Leben einnimmt. Sie ist mehr als ein Verkehrsmittel, sie ist eine Existenzform. Mich hat die Bahn bisweilen aufgeregt, aber das Bahnfahren hat mich fast immer angeregt. Wenn man ehrlich ist, regt man sich ja nicht so sehr über die Bahn auf, sondern über die Menschen, die mit ihr unterwegs sind, ihre Manieren, ihre Eigenarten, ihr Verhalten. Und dieses Unterwegssein mit Fremden habe ich immer als Abenteuer erlebt, als Eintauchen in eine Fremde, die lästig und unbequem sein konnte, aber viel häufiger spannend, abwechslungsreich, interessant und bereichernd.

Ich gebe zu – es ist allerdings viele Jahre her –, dass ich, wenn ich in den Zug einstieg, so lange durch die Waggons wanderte, bis ich mich neben, vor oder hinter ein anziehendes Mädchen setzen konnte. Dann versuchte ich herauszufinden, was sie las, ob sie meine Blicke erwiderte und ob sie Lust auf ein Gespräch hatte. Manches Mal, wenn mir ein Mädchen gegenübersaß, das mir gefiel, fand ich nicht das richtige Wort. Rückblickend würde ich sagen, man denkt viel zu lange über das richtige erste Wort, den richtigen ersten Satz nach. Die Strecke ist wichtig, nicht der Start.

Ich entwarf im Kopf kleine Dialog-Dramen, bei denen sich ein Satz harmonisch in den anderen fügte, komödiantische Satzwechsel, die immer damit endeten, dass man Adressen austauschte, sich unendlich sympathisch fand, sich unsterblich ineinander verliebte und ewige Treue schwor. Meistens kam es anders.

Einmal jedoch waren keine Worte im Spiel. Es war im Winter 1989, die Mauer war gerade gefallen. Ich studierte seit einigen Monaten in Berlin und fuhr – da ich noch keine eigene Wohnung hatte – am Wochenende manches Mal zurück in mein Dorf nach Norddeutschland. Am späten Sonntagnachmittag ging es dann zurück nach Berlin. Der Bahnhof in Ocholt besaß einen Fahrkartenschalter, wo hinter dickem Glas ein Mann in blauer Uniform ruhte, vier Gleise, zwei Bahnsteige, einige altersschwache Bänke und einen Betonwürfel zum Unterstellen. Eine Reihe von riesigen windschiefen Pappeln neigte sich fragwürdig über die Gleise. Damals gab es noch einen durchgehenden Zug, der von Norddeich/Mole bis nach Berlin fuhr, ein Regionalzug, der an fast jeder Milchkanne hielt.

Als ich in Ocholt zustieg, war der Zug überfüllt, viele Reisende standen in den Gängen und hatten aufgegeben, einen Sitzplatz zu suchen. Ich hatte Glück. In einem Abteil für sechs Personen – die Polster waren ockerfarben, braun und orange gestreift – fand ich am Fenster einen freien Sitz. Mir gegenüber saß eine junge Frau, die aber immer noch einige Jahre älter als ich gewesen sein mochte. Sie hatte langes aschblondes Haar, ein schmales Gesicht und war hochgewachsen. Als ich mich ihr gegenübersetzte, lächelte sie. Es brauchte keine Worte. Es war eng im Abteil. Neben ihr saß ein älterer Mann, der mehrere Jacken übereinander trug und keineswegs gewillt war, auch nur eine einzige abzulegen. Er saß wie eine aufgequollene Riesenbohne in seinem Sitz. Neben mir wiederum saß eine fidele Großmutter, die allen Butterkekse anbot und die Bilder ihrer zahlreichen Enkelkinder kreisen ließ. Sie führte derart viel Gepäck mit sich, dass nicht alles oben auf der Gepäckablage Platz gefunden hatte, und so war meine Beinfreiheit durch eine ihrer wulstigen Taschen eingeschränkt. Daher wurden vier Beine, unsere, die sonst sorgsam Distanz gewahrt hätten, geradezu zusammengezwungen. Sie kamen ins Gespräch, Schienbein und Wade, Knöchel und Knöchel, Knie und Unterschenkel. Unsere Beine flossen immer mehr ineinander und das stetige Vibrieren des Zuges tat ein Übriges. Draußen war es jetzt dunkel, fast alle anderen schliefen, selbst der fidelen Großmutter waren irgendwann die Augen zugefallen. Nur in der äußersten, gegenüberliegenden Ecke hatte sich ein Mann hinter seiner Zeitung verschanzt und das Licht über seinem Kopf angeknipst. In dieser schummrig-schläfrigen Höhle achtete niemand auf uns und niemand merkte, wie unsere Beine immer vertraulicher kommunizierten. Wenn der Zug hielt, Bad Zwischenahn, Oldenburg, Hude, Delmenhorst, Bremen, Verden, zogen wir das Fenster herunter, standen auf, stellten uns nebeneinander, und jetzt waren es unsere Arme, die sich berührten. Sobald der Zug anfuhr, sanken wir zurück und wieder fanden sich unsere Beine. So ging es bis Berlin. Wir stiegen aus, kein Wort. Als wir auf dem Vorplatz vom Bahnhof Zoo standen, setzten wir unsere Taschen ab und fingen an, uns zu küssen. Wir küssten uns lange. Schließlich löste sie sich, winkte ein Taxi heran.

»Ich muss dann mal los!«, sagte sie.

»Ich auch! Andere Richtung!«, antwortete ich.

 

Das mit den Mädchen hat sich im Laufe der Jahre erledigt, obwohl ich nichts dagegen habe, neben einer gut aussehenden Frau zu sitzen. Wichtiger ist mir jedoch dieser angenehme Schwebezustand, in den mich das Bahnreisen immer noch und immer wieder versetzen kann. Man fährt ab und los und löst sich für eine gewisse Zeit von seinen vertrauten Bindungen. Auch wenn ich nur von Berlin nach Hamburg fahre – die Fahrt dauert nicht einmal zwei Stunden –, habe ich das Gefühl, ich reise. Kaum bin ich in Hamburg angekommen, habe ich Lust weiterzufahren. Ich komme gar nicht so gerne an, viel lieber bin ich unterwegs. Ich sitze gerne im rasenden Dazwischen, die Landschaft und mein Leben ziehen wie ein Film an mir vorüber. Das Drinnen und Draußen verbindet sich zu einem Bild, das so lebendig und voller Tiefe ist, dass ich glaube, ich könnte hineinspringen, darin umherwandern und die merkwürdigsten Abenteuer erleben. Ein unerklärliches Heimweh erfasst mich, Heimweh nach der Fremde, eine Sehnsucht, mich an völlig unbekannten Orten einzurichten oder in ein völlig fremdes Leben einzutreten. Ich möchte fremd-gehen, fremd-fahren, nicht in einem engen geschlechtlichen, sondern in einem weiten biographischen Sinne, in die Fremde gehen, mich fremd finden, mich in der Fremde wiederfinden oder gewinnbringend verlieren. Das ist Erotik ohne Sex.

Wir überqueren einen Bahnübergang, Autos warten hinter den heruntergelassenen Schranken, und für einen winzigen Augenblick blickt man in ein vollkommen unbekanntes Gesicht, das einen aber magnetisch anzieht, das lockt, das eifersüchtig macht auf dieses Leben, das ein anderer führt, ganz ohne dich. Und schon ist man weiter, Kilometer um Kilometer, und muss sich damit abfinden, dass man dieses Gesicht niemals wiedersehen wird. Einmal im Leben, ich werde es tun, die Notbremse ziehen, auf freiem Feld aussteigen und dem fremden Gesicht hinterherlaufen und – es natürlich nicht finden. Ich, das ist immer auch ein anderer, der gerade unterwegs ist wie ich, aber nie bei mir ankommt.

 

Je häufiger ich mit der Bahn fuhr – und mein Beruf als Autor brachte es mit sich, dass ich sehr viel mit der Bahn unterwegs war –, desto mehr fing ich an, den Speisewagen als meinen Ort zu betrachten. Sicher, manches Mal war er ein Zufluchts- und Ausweichort, weil man nirgendwo anders mehr Platz fand. Im Speisewagen hingegen war fast immer was frei und der Zwang, etwas konsumieren zu müssen, hielt sich in Grenzen. Mit zwei Bechern Tee oder zwei Flaschen Bier konnte man schon mal vier oder fünf Stunden unbehelligt auf seinem Platz verweilen. Im Gegensatz zum engeren Abteil oder zum Großraumwagen bieten die Panoramafenster des Speisewagens zudem einen kinoartigen Blick auf die Landschaft, das Land selbst bekommt ein Gesicht und man wird auf einmal vertraut mit Gegenden, die gar nicht zu uns gehören, die aber doch Heimat sind oder werden, wenn wir sie durchqueren und im Zeitraffer mit uns verknüpfen. Und während draußen die Landschaft wie ein Film am Reisenden vorüberzieht, bietet sich ihm im Speisewagen ein Schauspiel, denn der Speisewagen ist nichts anderes als eine Bühne, auf der wir uns bewegen, spielen, darstellen und ganz nebenbei auch noch essen. Es gibt Reisende, die sich in einen Winkel setzen, und man sieht es an ihrer Körperhaltung oder an der Art und Weise, wie sie ihre Ich-Utensilien um sich herum verteilen (Tasche, Handy, Zeitung), dass sie ganz für sich und bitte ungestört sein wollen. Die Mehrzahl der Reisenden aber hat nichts gegen ein Gespräch einzuwenden, zumal schon die Anordnung der Sitze im Speisewagen darauf angelegt ist, die Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen. An den Zweiertischen muss man geradezu miteinander reden; es ist in diesem kleinen intimen Raum tatsächlich anstrengender, sich anzuschweigen, als ein wenig miteinander zu plaudern.

Was mir im Speisewagen immer wieder gefiel, war die Begegnung von ganz unterschiedlichen Menschen und Biographien. Menschen aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten, die sich im Alltag sonst nie begegnen würden, die nie miteinander sprechen würden, weil ihre Leben einfach räumlich nicht aneinander stoßen, kommen ins Gespräch, obwohl und gerade weil sie so unterschiedlich sind. Die Münchner, sagt man, haben ihre Biergärten, in denen soziale Gegensätze ausgeglichen werden, die Kölner finden in ihren Brauhäusern zusammen, und das Land hat den Speisewagen, vielleicht einen der letzten Orte, wo sich Arbeitslose und Manager zuprosten. Der Speisewagen ist eine Art Restaurant, ein Bistro, er ist aber auch eine Kontaktbörse, ein Flirt-Pool, ein rasender Stammtisch, ein Landschaftskino, mitunter ein Beichtstuhl, ein mentales Entlastungsstübchen, ein Halt im Haltlosen. Draußen fließt die Landschaft vorbei und selbst...

Erscheint lt. Verlag 13.7.2010
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Literatur Zweisprachige Ausgaben Deutsch / Englisch
Reisen Reiseberichte Deutschland
Reisen Reiseführer Europa
Schlagworte Bahnfahrt • Begegnungen • Berlin • Deutschland • Geschichten • Gespräch • Hamburg • ICE • Interview • München • Reiseliteratur • Reisen • Reportage • Speisewagen
ISBN-10 3-10-400719-5 / 3104007195
ISBN-13 978-3-10-400719-9 / 9783104007199
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