Notbremse nicht zu früh ziehen! (eBook)

Mit dem Zug durch Indien
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2009 | 1. Auflage
192 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-40391-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Notbremse nicht zu früh ziehen! -  Andreas Altmann
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Von Bettlern und Businessmen, Heiligen und Huren Die Grundregel jedes guten Reporters lautet: Nichts schon wissen, alles vor Ort erfahren. Andreas Altmann hat sich daran gehalten. Er hat sich in Bombay in den Zug gesetzt und ist einfach drauflos gefahren. Mit dem festen Vorsatz, Indien mit allen Sinnen in sich aufzunehmen. Altmann sucht den Menschen und er findet ihn, in Slums, Bordellmeilen, Hindu-Heiligtümern und in der drangvollen Enge der Indian Railways. «Altmann reist nicht stellvertretend für Abenteuerarme. Er berichtet, um zu verführen, will ?den Leser mit Sehnsucht vergiften?. Schon passiert.» (Hamburger Morgenpost) «Geradezu glücklich dürften Daheimgebliebene sein, wenn sie die Geschichten des Reisejournalisten Andreas Altmann lesen.» (NDR)

Andreas Altmann war Dressman, Schauspieler am Residenztheater München und am Schauspielhaus Wien, Jura- und Psychologiestudent, Gärtner, Taxifahrer, Privatchauffeur, Spüler, Kellner, Anlageberater, Straßenarbeiter. Er lebt heute als Auslandsreporter und Reiseschriftsteller in Paris. Unter anderem ist er ohne Geld von Berlin nach Paris gelaufen ('34 Tage/33Nächte'), durch Indien ('Notbremse nicht zu früh ziehen') und durch Südostasien ('Der Preis der Leichtigkeit') gereist. Zudem hat er Storys aus der weiten wilden Welt unter dem Titel 'Getrieben' vorgelegt. Er war unterwegs in Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien und Chile ('Reise durch einen einsamen Kontinent'). Andreas Altmann wurde mit dem 'Egon-Erwin-Kisch-Preis', dem 'Weltentdecker-Preis' und dem 'Seume-Literatur-Preis' ausgezeichnet. www.andreas-altmann.com

Andreas Altmann war Dressman, Schauspieler am Residenztheater München und am Schauspielhaus Wien, Jura- und Psychologiestudent, Gärtner, Taxifahrer, Privatchauffeur, Spüler, Kellner, Anlageberater, Straßenarbeiter. Er lebt heute als Auslandsreporter und Reiseschriftsteller in Paris. Unter anderem ist er ohne Geld von Berlin nach Paris gelaufen ("34 Tage/33Nächte"), durch Indien ("Notbremse nicht zu früh ziehen") und durch Südostasien ("Der Preis der Leichtigkeit") gereist. Zudem hat er Storys aus der weiten wilden Welt unter dem Titel "Getrieben" vorgelegt. Er war unterwegs in Kolumbien, Ecuador, Peru, Bolivien und Chile ("Reise durch einen einsamen Kontinent"). Andreas Altmann wurde mit dem 'Egon-Erwin-Kisch-Preis', dem 'Weltentdecker-Preis' und dem 'Seume-Literatur-Preis' ausgezeichnet. www.andreas-altmann.com

Roald Amundsen hinterließ Aufzeichnungen, in denen er von minutenlangen, frostkalten Duschen sprach, die ihn auf die Fahrt zum Südpol vorbereiten sollten. Wer sich für die Entdeckung der indischen Eisenbahn rüsten will, dem sei eine Spritztour von hier nach Thane empfohlen. Sie wird ihn stählen. Die knapp 34 Kilometer waren die ersten Eisenbahnschienen, die in Indien, ja Asien, verlegt wurden. Nachdem sich das englische Parlament und die Geldgeber darauf geeinigt hatten, dass mit einem Eisenbahnnetz in Indien besser Krieg zu führen und schneller Waren an die Häfen zu transportieren, sprich effizienter Land und Leute leer zu rauben wären, setzte sich am 16. April 1853 um 15.25 Uhr in Bombay der erste Zug in Bewegung. Die Presse berichtete, die «Eingeborenen» seien wieder einmal überwältigt gewesen vom Genie des Weißen Mannes. Da sie keine Pferde und Ochsen entdeckten, die die vierzehn Waggons mit den vierhundert geladenen Gästen zogen, vermuteten sie, dass «the wonderful white man» wieder gezaubert und Dämonen und andere wunderliche Kräfte eingesetzt hatte. So brachten sie Kokosnüsse und «besänftigende Opfergaben», um den überirdischen «ag-gadi», den Feuerwagen, die wild speiende Dampflok, zu begütigen.

Fußnote: Die Inder haben die Neuerung umgehend akzeptiert. Anders in China, da führte sie ein Vierteljahrhundert später zu Aufständen. Die ersten Gleise mussten wieder herausgerissen werden. Nicht zu stillen war der Zorn abergläubischer Alter.

«150 glorreiche Jahre» nachdem Neugierige entlang der Strecke niederknieten und den Eisenbahn-Gott anbeteten, kaufe ich ein Rückfahrticket nach Thane und betrete um 8.35 Uhr eine «EMU», eine Electric Multiple Unit. Jene spartanisch möblierten Vorortzüge, die zweitausendmal pro Tag in die Bahnhöfe Mumbais einlaufen, um eine Arbeitnehmer-Armee von zwei Millionen morgens anzuliefern und abends wieder heimzukarren.

Verdächtig zivilisiert fängt es an. Ich kann sitzen, ungehindert den Kopf drehen und atmen. Mein Blick fällt auf ein Werbeposter, man sieht eine fröhliche Familie an einem geräumigen Tisch hocken und frische Kuhmilch trinken. Bettler ziehen ein, einer schreit «Allah», einer quetscht das Akkordeon, der kleine Nago hat genügend Platz für seine Flicflacs. Ich wundere mich, dass immer mehr Leute einsteigen, obwohl der Zug noch immer stadtauswärts fährt. Sie wollen doch rein nach Mumbai und nicht zurück in den Vorort? Bis ich kapiere: Sie steigen bereits vor der Endstation ein, um auf der Rückfahrt in den Moloch schon an Bord zu sein. Als wir in Thane ankommen, verlässt kaum jemand seinen Platz

Die vierunddreißig Kilometer zurück beginnt Indien. Wer jetzt aussteigen will, wird von den Neuzugängen zurückgewirbelt. Die Logik, dass mehr Platz vorhanden ist, wenn zuerst Passagiere den Zug verlassen, diese Logik klingt hierzulande völlig unlogisch. Bald stehen Männer zwischen den Knien jener, die sitzen. Ausschließlich Männer, denn jeder Zug besitzt ein «Ladies’ carriage», in das nur Frauen dürfen. Das ist weise, denn so mancher würde im Schutze des Gewühls nach verbotener Nähe suchen. Bald stehen drei Männer zwischen einem Paar (sitzender) Männerknie.

Mein Kopf ist nun fest zwischen zwei Gürtelschlaufen verankert. Hinter den Gürtelschlaufen stecken zwei blitzsaubere Hemden, sicher Bankangestellten-Hemden. Wir drei kommen gut miteinander aus, das Duo rührt sich nicht und ich kann immerhin mit den Augen rollen. Sie rollen nach links und werden belohnt. Auf zärtliche Weise. Ich sehe zwei Männerhände, die verliebt miteinander spielen. Direkt unterm Fenster. Sie haben Recht, keiner kann sie entdecken, so dunkel ist es, so umstellt sind sie von Hosen und Beinen. Schon anrührend diese Sehnsucht nach erotischer Heimlichkeit, zweimal heimlich. Sinnlich und homosexuell sinnlich. Alles Gründe, nichts davon an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.

Pablo Neruda fällt mir ein, der Präsident Allende auf dessen Wahlreisen begleitete und seinen Freund um die Gnade des Zehn-Minuten-Schlafs beneidete. Zu jeder Zeit, an allen Orten. Inder sind ähnlich begabt. Ein paar liegen mit offenen Mündern auf fremden Schultern, andere sitzen wie Tote mit hängenden Köpfen da. Wer nicht schläft und aussteigen muss, leitet das Manöver drei Stationen davor ein. Irgendwo las ich einen Bericht über vier Kartenspieler in indischen Vorortzügen. Schon möglich, da die Nachricht aus dem Jahr 1993 stammte. Da gab es zweihundert Millionen Inder weniger, damals war noch Platz für vier Arme zum Ausstrecken. Nach einer halben Stunde bade ich in Schweiß, Salztränen laufen in meine Augen, die Gürtelschlaufen schmerzen. Ich würde gern wissen, warum ich mir den Beruf des armen Reporterschweins ausgesucht habe. Warum ich nicht, sagen wir, ein Genie wie Somerset Maugham geworden bin. Dann würde ich in feinsten Hotels logieren und jeden Morgen auf schattiger Terrasse der Sekretärin den nächsten Welterfolg diktieren. Ohne eine einzige Zeile leben zu müssen, ohne am ganzen Leib zu dampfen, ohne je von einem anderen Leben zu träumen. Ich wäre Genie, sonst nichts. Tagsüber würde ich die Welt neu erfinden und abends mich zum Dinner umziehen. Vor dem Zubettgehen würde ich einen letzten Blick auf das Diktierte werfen und schon wieder wissen, dass ich teuflisch begabt bin.

Aber eine Freude kommt, die versöhnt. Irgendwann läutet ein Handy, keine zwei Hintern von mir entfernt. Ich rolle die Augen nach rechts und sehe einen Langen, der sich mit beiden Händen an einen von der Decke baumelnden Haltegriff klammert. Er muss der Angerufene sein, denn er macht Anstalten, die Arme nach unten, Richtung Jackentasche, zu bewegen. Aber das geht nicht. So viel Platz ist nicht. Man sieht sein fieberhaft arbeitendes Hirn: Wie komme ich an das Telefon? Es läutet weiter, und wir stellen uns alle die Frage: «Wer klingelt hier an?» Die Gattin? Sicher nicht, sie weiß seit vielen Jahren, dass ihr Mann um diese Zeit unmöglich sein Handy erreichen kann. Wer dann? Nun kommt der Augenblick, in dem Genies eingreifen und folgendes diktieren würden: «… Das war der Tag, an dem Mister Singh einen Anruf bekam, der nicht für ihn bestimmt war. Undenkbar, jetzt zu antworten. Als Singh endlich ausstieg, wählte er die Nummer, die noch auf dem Display zu sehen war. Ein Mister Kiru meldete sich. Singh erkannte die Stimme und wusste, dass von nun an sein Leben einen anderen Lauf nehmen würde …»

Als der Zug in der Victoria Station hält, schwappen wir wie Springfluten auf den Bahnsteig. Die meisten mit heiteren Gesichtern. Kein Ärger über das Zugemutete, eher Freude, dass sie es wieder heil überstanden haben. Die Seligsten werden mit lauten Schlägen an die Außenwände vom Personal geweckt. Sie haben verschlafen. Es muss schnell gehen, Minuten später setzt sich der EMU wieder in Bewegung.

Eine Stunde später, kurz vor 11.30 Uhr, treten hier Männer auf, die einen Beruf ausüben, der einzig in Mumbai existiert: Die Dabbawalla, die Blechdosen-Männer. Sie sind fast alle Analphabeten und bekamen von dem amerikanischen Wirtschaftsmagazin Forbes ein «6 Sigma»-Prädikat, das wäre eine «99,999999»-prozentige Zuverlässigkeit, soll heißen: Bei sechs Millionen Erledigungen begehen sie einen Fehler.

Was erledigen die kleinen Männer? Sie schwirren vormittags durch die Hochhäuser der Vorstädte, klopfen an und bekommen vier ineinander verschachtelte Blechschalen, warm und voll mit Reis, Linsen, Chapati-Brot, Soße und Salat: Das Mittagessen, zubereitet von Ehefrauen für ihre in der Großstadt arbeitenden Männer. Mit dem Fahrrad pesen die Dabbawalla damit zum nächsten Bahnhof, laden ein. Am Zielort Mumbai übernehmen die Kollegen die Bleche, hieven sie via Lattenroste auf ihre Köpfe, balancieren damit ins Freie, verteilen die Dosen – jede hat einen farbigen Code auf dem Deckel – wieder auf Fahrräder. Bis zu vierzig Stück pro Mann. Jetzt lostreten und ab ins Business-Viertel. Der Code – den können sie lesen – zeigt an, in welchen Wolkenkratzer, in welchen Stock, vor welche Tür das Mittagessen soll. Natürlich könnten die Angestellten auch in der Kantine essen. Aber 175 000 von ihnen jagt die uralte Angst, die Mahlzeit würde – nicht auszudenken – «unrein» zubereitet von einem «Unberührbaren». Fünftausend drahtige Männer leben seit über einem halben Jahrhundert von dieser Phobie. So erfolgreich, dass sie in letzter Zeit von Großbetrieben eingeladen wurden, um über ihr System zu reden. Um zu erklären, wie sie mit einfachsten Mitteln eine solche «performance rate» schaffen.

Auch klar: Die Ehemänner und Söhne könnten ihr Mittagessen morgens selbst mitbringen. Aber das gilt als unschick. Zudem hat ja kein zusätzliches Reiskorn mehr Platz in den voll gestopften Waggons. Ein Super-GAU würde losbrechen, sollten die Bleche aufgehen und die würzigen Saucen an den strengen Bügelfalten der Herren hinunterlaufen.

An diesem Vormittag bin ich der 5001. Dabbawalla. Raghunat nimmt mich mit, ich darf neben seinem Fahrrad herlaufen und nach einer Viertelstunde vor dem Air-India-Gebäude in die Knie gehen, eine halbe Minute Atem holen, dann die ersten Bleche auf unsere vier Arme verteilen und vor bestimmte Eingänge auf verschiedenen Stockwerken abstellen. Bis hinauf in den elften, ohne den Lift zu benutzen. Warum nicht? Der Alte traut den Aufzügen nicht. Dann weiter zur Citibank und zum Indian Express, der großen Tageszeitung. Raghunat denkt nie nach, er weiß längst alle Türen auswendig. Als wir fertig sind,...

Erscheint lt. Verlag 5.10.2009
Zusatzinfo Mit 1 s/w Karte
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber
Reisen Reiseberichte Asien
Schlagworte Abenteuer • Asien • Bombay • Eisenbahnreise • Fernweh • Indian Railways • Indien • Individualreise • Mentalität • Reise • Reisebericht • Reiseerzählung • Reportage • Zugfahrt
ISBN-10 3-644-40391-0 / 3644403910
ISBN-13 978-3-644-40391-8 / 9783644403918
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