Alte Wege nach Siebenbürgen

Auf den Spuren der deutschen Einwanderer - mit dem Fahrrad von Luxemburg nach Hermannstadt
Buch
239 Seiten
2011
Schiller Verlag
978-3-941271-47-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Alte Wege nach Siebenbürgen - Alfred K Schuster
4,95 inkl. MwSt
"Ich werde auf einer Fahrradreise von Luxemburg nach Siebenbürgen nicht genau den Karren- und Fußspuren meiner Ahnen folgen können. Doch ich wollte zumindest auf einigen Straßen fahren, die schon im Mittelalter Reise- und Handelswege waren. Ich würde meine Reise so planen, dass ich soweit wie möglich in Korridoren fahre, in denen es im Mittelalter mit Sicherheit Wege gab." (Alfred Schuster)

Der erste Tag 7
Luxemburg 17
Bis Trier ist es nicht weit 25
Über den Hunsrück 33
Mainz 47
Am Main unterwegs 59
Von Nürnberg in die Oberpfalz 81
Entlang der Donau bis Passau 97
Österreich Austria Ostarrichi 106
Von Melk nach Klosterneuburg 125
Wien ist eine Reise wert 137
Das Tor zum Osten 146
Unbekanntes, fremdes Land 161
Sachs Szasz Saxones 168
Vom Bakonywald zur Donau 175
Von der Donau zur Theiß 182
Vieles ist anders 196
Von Arad nach Fget 205
Hermannstadt ist nicht mehr weit! 213
Die letzten Kilometer 228
Epilog 233
Karten 236

Der erste Tag Mir war klar: Ich werde auf einer Fahrradreise nach Sieben- bürgen nicht genau den Karren- und Fußspuren meiner Ahnen folgen können. Doch ich wollte zumindest auf einigen Stra- ßen fahren, die schon im Mittelalter Reise- und Handelswege ge- wesen waren. Ich hatte vor, meine Reise so zu planen, dass ich so- weit wie möglich in 'Korridoren' fahre, in denen es im Mittelalter mit Sicherheit Wege gab. Ich suchte, suchte nach Wegen, die aus Franken und Lothrin- gen, aus Flandern und Wallonien, aus Sachsen und Thüringen, aus Schwaben und Bayern nach Osten führten. Bis Regensburg waren es viele, denn es war im Hochmittelalter nicht nur das Tor zum Osten, sondern auch Umschlagplatz der Waren, die Händler aus Byzanz und von noch weiter östlich her nach Mittel- und Westeu- ropa brachten, und der Güter, die aus Europa in den Nahen Osten exportiert wurden. Mein Weg durch Ostarrichi, wie Österreich da- mals genannt wurde, war vorgegeben. Er folgte der alten, einst gut ausgebauten Römerstraße über Passau, Wels, St. Pölten, Kloster- neuburg bis Wien und Hainburg. Doch ab da wurde es schwierig: Genaue Hinweise zu Wegen durch das römische Pannonien, das spätere Ungarn, gibt es für das Hochmittelalter nicht. Alle auffindbaren Beschreibungen von Burgen oder Zollstationen entlang der Handelswege stammen aus späteren Jahrhunderten. Also machte ich mich auf die Suche nach anderen Hinweisen über den Verlauf möglicher Wege in meinem Richtungskorridor nach Siebenbürgen. Erstaunlich, dass einige Historiker, die sich mit der Besiedlung Siebenbürgens im Hochmittelalter beschäftigt haben, die Ansicht vertreten, die Siedler, die sich in den südlichen Gebieten Sieben- bürgens niedergelassen haben, seien die Donau herunter- und den Mieresch hinaufgezogen. Die Bergleute aus Sachsen und der Zips sollen über die Karpaten gekommen sein, dann die Theiß und den Großen Somesch entlang bis ins nördliche Siebenbürgen. Bei so pauschalen Aussagen, die angeblich auf Fakten beruhen, die aber 8 in keiner Quelle zu finden sind, scheint die Frage, ob im 12. Jahr- hundert in der Großen Ungarischen Tiefebene, an der Theiß und dem Somesch entlang entsprechende begehbare Wege existiert ha- ben, nicht gestellt worden zu sein. Archäologische Beweise existieren nicht. Dass es zumindest einen Römerweg entlang des Mieresch gegeben hat, ist der Peu- tingerischen Tafel zu entnehmen. Heute jedoch wird die Existenz vieler der in diesem 'Reiseatlas' eingezeichneten Wege angezwei- felt. Dazu gehört meines Erachtens auch der Weg am unteren Mie- resch von Arad bis zu seiner Mündung in die Theiß. Die römischen Hauptwege durch Dakien zu den Goldberg- werken des Erzgebirges und den Salzgruben in Nordsiebenbürgen sind bekannt und belegt. Hinweise über Wege im heutigen Ungarn fand ich in quellengestützten Büchern, in denen über Truppen- bewegungen und kriegerische Auseinandersetzungen berichtet wird, die ungarische Könige geführt haben. In älteren Geschichtsbüchern ist viel über die Herkunft der Siebenbürger Sachsen geschrieben worden. Doch wie sind sie ge- reist? Wo sind sie gegangen? Vieles ist der Phantasie von Histori- kern oder Schriftstellern entsprungen, vage gestützt auf Quellen, die für einige unumstößliche Fakten enthalten, für andere nur die Ausgangslage von Theorien sind, die im Bewusstsein der sieben- bürgisch-sächsischen Bevölkerung zu Mythen wurden. Haben meine Ahnen wirklich Pferde vor ihre Wagen gespannt? Einige wohl schon, doch das waren sicherlich die wenigsten. Ein Mann von bescheidenem Wohlstand konnte sich im Hochmittel- alter bestenfalls einen Esel oder ein Maultier leisten, ein Pferd sicherlich nur Wohlhabende, Adlige, Ritter und vermögende Händ- ler. Die Zugtiere der Ärmeren waren Maultiere und Esel, manch- mal wurden Ochsen oder Kühe vorgespannt. Und wer kein Zugtier hatte, musste selbst vor den Karren. Niemand wird behaupten, nur Adlige seien nach Siebenbürgen ausgewandert, wie man unkritisch so mancher ungarischen Ur- kunde entnehmen könnte. Diese berichten, dem Zeitgeist entspre- chend, von hospites und nobilis, die mit Privilegien ausgestattet wurden, jedoch niemals von Handwerkern, Berg- und Hütten- leuten, Händlern und Bauern. Was die Menschen bewogen hat, ihre Heimat zu verlassen, wissen wir nicht, darüber können wir nur spekulieren. Soziale Gründe waren sicherlich eine der Ursachen. Doch galt das für alle? Einige von ihnen wurden wohl vom Entdeckergeist ge- trieben, andere könnten von Neugierde beseelt gewesen sein, und viele waren bloß Mitläufer. Nicht zuletzt waren auch Abenteurer unter ihnen. Zum Beispiel Kreuzfahrer, die, aus welchem Grund auch immer, den kürzeren Weg nach Siebenbürgen dem langen, beschwerlichen, unsicheren nach Jerusalem vorgezogen haben. Andere wiederum, enttäuscht vom Misserfolg im Heiligen Land, könnten auf dem Rückweg nach Europa nach Siebenbürgen abgezweigt sein, in der Hoffnung, dort ihr Seelenheil oder die versprochenen Schätze – Freiheit, Grund und Boden – zu finden. Es waren immer die unruhigen Geister, die der Menschheit neue Lebensräume erschließen konnten, die die Welt verändert haben. Warum sollte es bei der Besiedlung Sieben- bürgens anders gewesen sein? Beim Abschied gibt mir meine Frau ein Kärtchen, auf dem ein Fahrrad abgebildet ist. Darauf hat sie einen Wunsch geschrieben, der auf meiner Reise zu meinem täglichen Gebet werden wird: Irischer Segenswunsch Möge die Straße uns zusammenführen und der Wind in deinem Rücken sein; sanft falle der Regen auf deine Felder, und auf dein Gesicht der Sonnenschein. Führe die Straße, die du gehst, immer nur zu deinem Ziel bergan. Hab, wenn es kühl wird, warme Gedanken und den vollen Mond in dunkler Nacht. Hab unterm Kopf ein weiches Kissen, habe Kleidung und das tägliche Brot; bevor der Teufel merkt: Du bist schon tot. Bis wir uns mal wiedersehen, hoffe ich, dass Gott dich nicht verlässt; Er hält dich in seinen Händen, doch halte seine Faust dich nie zu fest. Und bis wir uns wiedersehen, halte Gott dich fest in seiner Hand. Es ist kühl an diesem klaren Morgen im Juni, als ich ins Auto steige, um mir einen Traum zu erfüllen. Rad und Gepäck sind ver- staut, und Andreas, einer meiner ehemaligen Studenten, wartet, bis ich mich von meiner Frau verabschiede. Noch einmal umarmt sie mich, schaut mir in die Augen und bittet mich, die Reise abzubre- chen, wenn ich meine, sie werde zu schwer. '2500 Kilometer, das ist viel', sagt sie leise. 'Bedenke, du bist jetzt siebzig.' Ich will das Kärtchen lesen, doch sie drängt mich sanft auf den Beifahrersitz und sagt: 'Lies es auf der Fahrt. Mach’s gut!' Andreas fährt langsam vom Grundstück, und ich sehe meine Frau winkend ins Haus gehen. Bis ich wiederkomme, werden Wo- chen vergehen. Ab jetzt beschäftigt mich nur noch meine Reise. In die Stille hinein fragt Andreas: 'Warum startest du in Luxem burg, und warum gerade jetzt, 2007?' 'Es gibt drei Gründe', sage ich. 'Erstens gehört der Großraum Luxemburg sicher zu den Regionen, aus denen meine Ahnen, wie ich die Siedler nenne, die im 12. und 13. Jahrhundert nach Siebenbürgen ausgewandert sind, stammen. Der zweite ist: Luxemburg und mein Geburtsort Hermannstadt sind 2007 partnerschaftliche ›Europäische Kulturhauptstädte‹. Und der dritte ist ein ganz persönlicher: Ich mache mir mit dieser Reise ein Geburtstagsgeschenk zum Siebzigsten.' Während der Fahrt stellt Andreas eine Menge Fragen. Ich er- zähle ihm von meinen Beweggründen und Erwartungen und las- se dabei noch einmal (das wievielte Mal schon?) die vergangenen Wochen und Monate gedanklich vorbeiziehen. Fast ein Jahr lang haben die Vorbereitungen gedauert. Viele Karten habe ich konsul- tiert, mögliche Reisewege eingezeichnet, um soweit wie möglich auf Wegen zu fahren, die meine Ahnen irgendwann vor über 800 Jahren gegangen sind, als sie ihre Heimat, die irgendwo zwischen Lüttich (franz. Liége, wallonisch Lîdge), Köln, Luxemburg (lux. Lëtze buerg, franz. Luxembourg) und Mainz lag, vielleicht auch im Raum Magdeburg oder in Thüringen, verlassen haben, um in ein fernes, angeblich besseres Land zu ziehen, das in Ungarn, jenseits weiter Wälder liegen sollte. Andreas fährt zügig und ich ordne meine Gedanken und ver- dränge immer wieder aufkommende Zweifel, denn meine Reise und die meiner Ahnen haben etwas gemeinsam: die Ungewissheit. Andreas wendet sich zu mir und fragt: 'Warum tust du dir das an? 2500 Kilometer! Um deinem Ego gerecht zu werden, dir zu be- weisen, dass du es noch schaffst?' Ich erzähle ihm die Vorgeschich- te, die in jener Zeit begann, als ich von Reisen in die weite Welt nur träumen konnte. Damals, in den 1950er-Jahren, trennte uns der 'Eiserne Vorhang' vom Rest der Welt, und wir waren froh, wenn wir auf alten Fahrrädern, Vorkriegsmodellen, durch unsere Heimat radeln konnten. Mein Traum war die weite Welt. Es war fast schon gefährlich, ihn nur zu träumen, darüber zu sprechen – selbstmör- derisch. Also fuhr ich durch Siebenbürgen. Doch ich wollte ir- gendwann von Hermannstadt nach Luxemburg fahren. Mit dem Fahrrad, versteht sich! 'Warum nach Luxemburg?' Warum? 'Weil uns die Geschichtsschreibung des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lehrte, dass unsere Vorfahren aus Moselfranken und aus Luxemburg nach Siebenbürgen gekommen sind. Das war die damalige Meinung unter den Siebenbürger Sachsen.' Mir fällt der Tag ein, als ich zum ersten Mal ein Buch über die Römerstraßen in Europa in den Händen hielt. Später interessierten mich die Reisewege im Mittelalter. Ich folgte in Büchern und auf Karten Reisenden auf europäischen Fernhandelswegen bis nach Kleinasien, mit Marco Polo zog ich in die Mongolei und bis nach China, mit Alexander von Humboldt nach Südamerika. Viel habe ich darüber gelesen. Bücher und Artikel, populärwissenschaftliche und wissenschaftliche, geschrieben von Historikern, Geographen und versierten Wegekundlern. Eines Tages sagte meine Frau: 'Das, was du als Ruheständler machst, ist dir zu wenig. Rad fahren, Lesen und Fotografieren, das reicht nicht. Seit du nicht mehr Steine klopfst, buddelst du in Bü- chern, doch zufrieden bist du nicht. Warum begibst du dich nicht auf die Suche nach den Reisewegen deiner Ahnen? Du kannst doch deinen alten Traum wahr machen und mit dem Fahrrad von Hermannstadt nach Luxemburg fahren. Du bist doch bis San- tiago de Compostela gepilgert, 3200 Kilometer auf dem Rad. Bis Hermannstadt sind es 1000 Kilometer weniger.' Ich war irritiert und meinte, ich könnte das nicht. Noch fehl- te mir die Motivation dafür. Der Vorschlag meiner Frau ließ mich jedoch nicht mehr los. Da kam mir die Idee, in umgekehrter Rich- tung, von West nach Ost zu fahren, meinen Jugendtraum wahr- zumachen mit umgekehrtem Vorzeichen. Dabei könnte ich mich auch auf die Suche nach den alten Wegen begeben. Das war es! Die Idee wurde zum Plan. Zuerst musste ich eine Antwort auf die Frage finden: Welche Wege waren im Hochmittel- alter vor allem durch das damalige ungarische Königreich begeh- bar, wo verliefen sie? Die Wege meiner Ahnen wurden zum Thema meines Rentnerdaseins und der Begriff 'meine Ahnen' symbolisch für alle Migranten, die im 12. und in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts aus dem Heiligen Römischen Reich nach Sieben- bürgen gezogen waren. Bei der Suche ist in mir der Wissenschaftler von Neuem erwacht. Je mehr ich in die Materie eintauchte, je mehr ich über Reisen, Ver- kehr und Verkehrswege las, umso neugieriger wurde ich. Ich trug Wege, die ich aus alten Reiseberichten ableiten konnte, in moderne Karten ein und versuchte, die von mir vermuteten oder eruierten Wege in Gebieten, durch die sie geführt haben könnten, in Bezie- hung zur Topographie und Geologie der Regionen, durch die ich fahren würde, zu bringen. Für Deutschland und Österreich gibt es Hunderte Untersuchun- gen zu mittelalterlichen Wegen, über die in unzähligen Artikeln und Büchern berichtet wird: Beobachtungen, Erkenntnisse und viel Spekulatives. Doch für Ungarn und Rumänien fand ich wenig Konkretes. Ich fragte mich immer wieder: Wo konnten die Wege verlaufen sein? Wo war der berühmte Handelsweg von Byzanz nach Regensburg in Ungarn zu suchen? Wo zogen die Heere der Kreuzritter durch das Land, in dem im Hochmittelalter deutsche Krieger nicht immer willkommen waren? Auf vielen veröffentlichten Karten sind Wege eingetragen: gera- de oder krumme Linien, die zwei Orte verbinden. Genaue Hinwei- se, zum Beispiel ob das Gros eines der Kreuzzüge von Wien bis Bel- grad links oder rechts der Donau ging oder gar einen anderen Weg eingeschlagen hat, gibt es nicht, geschweige denn konkrete Hinwei- se zur Trassenführung im Gelände. So rückte für mich die Frage in den Vordergrund, ob auf den in den Karten vermerkten Wegen ein Heer, eine Handelskolonne, ein Treck mit zehn oder zwanzig Kar- ren, gezogen von Tieren oder Menschen, überhaupt vorankommen konnte. Wie die Reisenden ihre Routen geplant hätten, will An- dreas wissen. Wie und auf welchen Grundlagen sie denn entschie- den hätten, von A nach B über C und nicht über D zu gelangen oder den kürzesten Weg zwischen zwei Orten zu nehmen. Auch dafür gibt es nur Anhaltspunkte. Zuallererst musste der ge- wählte Weg sicher sein. Zoll oder Gebühren sollten möglichst sel- ten gezahlt werden. Es ist bekannt, dass schon im 12. Jahrhundert Grenzgänger für wenig Geld Händler und Reisende auf Schleich- wegen an den Zollstationen vorbeigeführt haben. Wege wurden oft so gewählt, dass nur wenige Flüsse zu überqueren waren, vor allem die großen wie Rhein, Mosel, Main oder Donau. Wollte man ans andere Ufer, musste eine Fährstelle oder eine Furt benutzt werden. Für das Übersetzen von einem Ufer zum anderen wurde von den Fährleuten seit uralten Zeiten ein Fährgeld verlangt. Ich hab noch in den 1960er-Jahren in einigen Bergdörfern Ru- mäniens erlebt, dass Toten, die christlich beerdigt wurden, eine Münze unter die Zunge gelegt wurde, als Reise- und Eintrittsgeld für ihren Weg ins Jenseits. Die Etappen waren meist so gelegt, dass an einem Tag das nächste Ziel zu erreichen war. Das konnte ein Ort, eine Herberge oder ein Kloster sein. Es war wichtig, hinter schützenden Mauern zu übernachten. Im Hochmittelalter und auch später noch waren die Ängste der Menschen vor der Nacht und all dem, was in der Dunkelheit geschehen könnte, groß. Angst flößte auch der dunkle Wald ein, und so vermied man es, die Nacht dort zu verbringen. In den Vorstellungen der Menschen des Mittelalters lebten in den Wäldern nicht nur Räuber, Mörder und wilde Tiere. Im Wald leb- ten vor allem böse Geister, und der Teufel soll mit Vorliebe dort sein Unwesen getrieben haben. Märchen und Legenden gab und gibt es zuhauf, welche die Ängste im Bewusstsein der Menschen wachhielten. Gereist wurde in Mitteleuropa vor allem vom Frühjahr an, von März, April bis in den späten Herbst, meist in Abhängigkeit von der allgemeinen Wetterlage. Nach langen Wintern ging man später los. Nicht selten wurde auch im Winter gereist, vor allem bei wenig Schnee und fest gefrorenem Boden. Einige unterbrachen ihre Reise irgendwo, um sie im Frühjahr fortzusetzen. Wenn es möglich war, wurde so eine gewollte oder ungewollte Unterbrechung der Reise dazu genutzt, um Geld zu verdienen, zumindest für den Unterhalt während des befristeten Aufenthalts. Einige Reiseberichte empfehlen, bei Reisen in den Osten den Winter vorzuziehen, denn an Flüssen und in den weiten Ebenen war im Sommer die Mückenplage unerträglich. Ob die nordeu- ropäischen, die ungarischen, polnischen oder russischen Ebenen gemeint sind, geht aus den Quellen nicht hervor. Wie wichtig Schuhwerk war, kann daraus abgeleitet werden, dass im Mittelalter die Schuhmacher einen hohen sozialen Rang innehatten. Ihre Mit- glieder waren angesehene, meist wohlhabende Bürger. Anders die Schuster. Diese waren weder in Zünften organisiert, noch wurden sie in die Zünfte der Schuhmacher aufgenommen. Auch durften sie keine neuen Schuhe oder Stiefel herstellen. Schuhwerk durfte repa- riert werden – geflickt, wie man das damals nannte. Daher auch die abwertende Redensart vom Flickschuster. Im Sommer ging man barfuß, doch wenn es nass und kalt war, sodass Schuhe getragen werden mussten, mied man, soweit es ging, matschige, sumpfige oder moorige Wege. Eines haben die Straßen- bauer der römischen Antike, des Mittelalters und die der Neuzeit gemeinsam: Sie legen ihre Straßen und Wege so an, dass möglichst immer fester Untergrund vorhanden ist und Naturgewalten nur wenig Schaden anrichten können. Ein schönes Beispiel eines mittelalterlichen Weges ist der Hell- weg, eine Fernhandelsroute von Köln nach Osten über Essen, Dort- mund, Paderborn und Elze nach Hildesheim und von dort weiter am Nordrand des Harzes entlang bis Halle und Leipzig. Dieser ver- lief im Westen auf der Wasserscheide zwischen Ruhr und Lippe und wurde schon zur Zeit Kaiser Karls des Großen 'ausgebaut'. Mit 'Ausbauen' ist nicht der Bau einer Trasse gemeint, sondern der von Burgen und Königshöfen entlang des Weges, die nicht nur als Etappenziele errichtet wurden. Dass ein solcher Weg über Jahr- hunderte hinweg belebt bleiben kann, belegt die Tatsache, dass die Bundesstraße 1, die Deutschland von Nordost nach Südwest quert, im Ruhrgebiet über weite Strecken dem Hellweg folgt. Wege an größeren und kleineren Flüssen lagen weit weg von den feuchten Flussauen und tiefer liegenden Arealen, die überschwemmt wurden. Sie wurden vor allem am äußeren Rand der höchstliegen- den Terrasse angelegt, und zwar dort, wo der Hang ansetzt, der das Tal begrenzt. Also genau am Knick zwischen den flach liegenden Terrassen und den ansteigenden Hängen eines Höhenzuges. Die meisten Altwege jedoch verliefen entlang der Höhenzüge zwischen den Tälern. Waren diese breit und mit geringem Gefälle, mit we- nig Baumbestand oder nur von lichten Wäldern bedeckt, wurden sie ausgiebig genutzt. Wenn ein dichter Wald zu durchqueren war, schlängelte sich der Weg dort durch, wo das Weiterkommen am leichtesten war. So gesehen wird verständlich, warum Trassen zwi- schen zwei benachbarten Orten nicht immer der kürzesten Linie folgten und Umwege in Kauf genommen wurden. Das Überqueren großer Flüsse war für Reisende immer ein Kraftakt – und teuer. Hochwasser führende Bäche konnten gefährlich werden, sodass deren Durchwaten nicht selten tödlich endete. In Europa gab es schon zur Römerzeit mehrere große Brücken, zum Beispiel die über die Donau bei Turnu Severin, die hölzerne Moselbrücke bei Trier, um 17 v. Chr. gebaut, und die nur 62 Jahre später gebaute Steinbrücke, die einige Hundert Meter flussabwärts auch heute noch die Mosel überspannt. Zu den bekanntesten Brü- cken des Hochmittelalters gehören die über die Donau bei Regens- burg, die über die Rhone bei Avignon und die an den spanischen Pilgerwegen gelegenen Brücken. Es gab stark frequentierte Hauptwege, die Städte und größere Orte miteinander verbanden, von denen einige Fernreise- und Handelswege, aber auch Heerstraßen waren. Andere waren von lokaler Bedeutung und andere wiederum, meist Trampelpfade, verbanden Weiler und Siedlungen miteinander. Eines war allen gemeinsam: Sie hatten weder einen festen, von Hand angelegten Untergrund, noch waren sie gepflastert. So ist auch zu erklären, dass die gepflasterten Römerstraßen mit festem Unterbau dort, wo sie erhalten waren, auch im Mittelalter weitgehend noch benutzt wurden. In West- und Mitteleuropa gab es schon im 11. Jahrhundert ein gut angelegtes Wegenetz, das ab der zweiten Hälfte des 12. Jahr- hunderts kontinuierlich erweitert wurde. Seit der Antike bekannt ist der Fernhandelsweg aus dem Mittleren Orient nach Europa. Dieser verlief entlang der südanatolischen Küste nach Konstantinopel und von dort über Sofia und Niš bis Belgrad. Verwunderlich ist, dass es keine sicheren Quellen zur weiteren Wegeführung durch Un- garn, das heißt von Belgrad bis Wien, gibt. Eine Ausnahme ist die wiederholte Erwähnung der Donau als viel benutzte Wasserstraße. Von Wien bis Passau und weiter bis Regensburg haben Reisende den alten Römerweg bevorzugt. In mehreren Atlanten zur Kirchengeschichte sind Karten zu fin- den, in denen Wallfahrtsorte und Pilgerwege der Antike und des Früh- und Hochmittelalters eingezeichnet sind. In keinem habe ich Wege gefunden, die durch Ungarn in Richtung Jerusalem führen. Erwähnenswert ist eine Karte, in der ein Pilgerweg zu sehen ist, auf dem die von Westen oder Süden kommenden Pilger ab Triest die Adriaküste entlang bis Albanien gingen und von dort über Thes- saloniki Byzanz erreichten. Ein anderer, von Norden kommender Pilgerweg führte über den Brenner ins südliche Wipptal nach Ster- zing und Brixen. Auf meiner Reise werde ich mich auf das bisher nur wenig Be- achtete konzentrieren, auf die Landschaft, die Topographie und immer die Frage in den Vordergrund stellen, ob der von mir ge- wählte Weg auch im Hochmittelalter begehbar war. Ich zitiere einen berühmten Geologen der Zwischenkriegszeit: 'Was man nicht in den Beinen hat, kann man nicht im Kopf haben', schrieb Hans Cloos. Damit meinte er, dass Wissenschaftler, deren Forschungsobjekte draußen in der Natur liegen, ihre Erkenntnis- se nicht am Schreibtisch finden können. Das Arbeitsgebiet muss erlaufen, erwandert werden. Und da ich auf Wegesuche bin, muss ich diese zumindest abschnittsweise erfahren. Ich will körperlich spüren, die Landschaft sehen, die Düft e au f de m We g einatmen, die Gerüche wahrnehmen, um mich meinen Ahnen auch über die Sinne zu nähern. Eigentlich wollte ich auf den ausgewiesenen Fahr- radwegen fahren. Von Trier nach Mainz die Mosel und den Rhein entlang, dann durchs Maintal bis Bamberg und von dort weiter am Main-Donau-Kanal entlang bis Kehlheim. Von dort über Regens- burg, Passau und Wien bis Budapest. Durch Ungarn und Rumä- nien habe ich Nebenwege auf meinen Karten markiert, von denen ich annehme, dass darauf der Verkehr spärlicher und für Radfahrer ungefährlicher sei. Vor dem Tor des Campingplatzes bei Luxemburg stellt Andreas den Motor ab und sagt: 'Das war’s. Nun beginnt dein Abenteuer und mir bleibt nur noch, deinen Wagen nach Hause zu fahren und dir ein gutes Gelingen zu wünschen.'

Ur-
kunde entnehmen könnte. Diese berichten, dem Zeitgeist entspre-
chend, von hospites und nobilis, die mit Privilegien ausgestattet
wurden, jedoch niemals von Handwerkern, Berg- und Hütten-
leuten, Händlern und Bauern. Was die Menschen bewogen hat,
ihre Heimat zu verlassen, wissen wir nicht, darüber können wir
nur spekulieren.
Soziale Gründe waren sicherlich eine der Ursachen. Doch galt
das für alle? Einige von ihnen wurden wohl vom Entdeckergeist ge-
trieben, andere könnten von Neugierde beseelt gewesen sein, und
viele waren bloß Mitläufer.
Nicht zuletzt waren auch Abenteurer unter ihnen. Zum Beispiel
Kreuzfahrer, die, aus welchem Grund auch immer, den kürzeren
Weg nach Siebenbürgen dem langen, beschwerlichen, unsicheren
nach Jerusalem vorgezogen haben. Andere wiederum, enttäuscht
vom Misserfolg im Heiligen Land, könnten auf dem Rückweg nach
Europa nach Siebenbürgen abgezweigt sein, in der Hoffnung, dort
ihr Seelenheil oder die versprochenen Schätze - Freiheit, Grund
und Boden - zu finden. Es waren immer die unruhigen Geister, die
der Menschheit neue Lebensräume erschließen konnten, die die
Welt verändert haben. Warum sollte es bei der Besiedlung Sieben-
bürgens anders gewesen sein?
Beim Abschied gibt mir meine Frau ein Kärtchen, auf dem ein
Fahrrad abgebildet ist. Darauf hat sie einen Wunsch geschrieben,
der auf meiner Reise zu meinem täglichen Gebet werden wird:
Irischer Segenswunsch
Möge die Straße uns zusammenführen
und der Wind in deinem Rücken sein;
sanft falle der Regen auf deine Felder,
und auf dein Gesicht der Sonnenschein.
Führe die Straße, die du gehst,
immer nur zu deinem Ziel bergan.
Hab, wenn es kühl wird, warme Gedanken
und den vollen Mond in dunkler Nacht.
Hab unterm Kopf ein weiches Kissen,
habe Kleidung und das tägliche Brot;
bevor der Teufel merkt: Du bist schon tot.
Bis wir uns mal wiedersehen,
hoffe ich, dass Gott dich nicht verlässt;
Er hält dich in seinen Händen,
doch halte seine Faust dich nie zu fest.
Und bis wir uns wiedersehen,
halte Gott dich fest in seiner Hand.
Es ist kühl an diesem klaren Morgen im Juni, als ich ins Auto
steige, um mir einen Traum zu erfüllen. Rad und Gepäck sind ver-
staut, und Andreas, einer meiner ehemaligen Studenten, wartet, bis
ich mich von meiner Frau verabschiede. Noch einmal umarmt sie
mich, schaut mir in die Augen und bittet mich, die Reise abzubre-
chen, wenn ich meine, sie werde zu schwer. "2500 Kilometer, das
ist viel", sagt sie leise. "Bedenke, du bist jetzt siebzig." Ich will das
Kärtchen lesen, doch sie drängt mich sanft auf den Beifahrersitz
und sagt: "Lies es auf der Fahrt. Mach s gut!"Andreas fährt langsam vom Grundstück, und ich sehe meine
Frau winkend ins Haus gehen. Bis ich wiederkomme, werden Wo-
chen vergehen. Ab jetzt beschäftigt mich nur noch meine Reise. In
die Stille hinein fragt Andreas: "Warum startest du in Luxem burg,
und warum gerade jetzt, 2007?""Es gibt drei Gründe", sage ich."Erstens gehört der Großraum Luxemburg sicher zu den Regionen,
aus denen meine Ahnen, wie ich die Siedler nenne, die im 12. und
13. Jahrhundert nach Siebenbürgen ausgewandert sind, stammen.
Der zweite ist: Luxemburg und mein Geburtsort Hermannstadt
sind 2007 partnerschaftliche 'Europäische Kulturhauptstädte'. Und
der dritte ist ein ganz persönlicher: Ich mache mir mit dieser Reise
ein Geburtstagsgeschenk zum Siebzigsten."Während der Fahrt stellt Andreas eine Menge Fragen. Ich er-
zähle ihm von meinen Beweggründen und Erwartungen und las-
se dabei noch einmal (das wievielte Mal schon?) die vergangenen
Wochen und Monate gedanklich vorbeiziehen. Fast ein Jahr lang
haben die Vorbereitungen gedauert. Viele Karten habe ich konsul-
tiert, mögliche Reisewege eingezeichnet, um soweit wie möglich
auf Wegen zu fahren, die meine Ahnen irgendwann vor über 800
Jahren gegangen sind, als sie ihre Heimat, die irgendwo zwischen
Lüttich (franz. Liége, wallonisch Lî

Erscheint lt. Verlag 7.7.2011
Reihe/Serie Tourist in Siebenbürgen ; 12
Illustrationen Alfred K Schuster
Mitarbeit Cover Design: Anselm Roth
Sprache deutsch
Maße 145 x 210 mm
Gewicht 420 g
Einbandart gebunden
Themenwelt Reisen Reiseberichte Europa
Schlagworte Deutschland • Europa; Reisebericht/Erlebnisbericht • Europa; Reise-/Erlebnisberichte • Fahrradfernreisen • Fahrradreisen; Reisebericht/Erlebnisbericht • Fahrradreisen; Reise-/Erlebnisberichte • Fahrradtouristen • Geschichte der Einwanderung der Siebenbürger Sachsen • Hermannstadt • historische Reisewege im Mittelalter • Klöster im Mittelalter • Luxemburg • Österreich • Siebenbürgen • Siebenbürgen; Reise-/Erlebnisber. • Siebenbürger Sachsen • Ungarn
ISBN-10 3-941271-47-4 / 3941271474
ISBN-13 978-3-941271-47-0 / 9783941271470
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