Diebe vor Gericht - Rebekka Habermas

Diebe vor Gericht

Die Entstehung der modernen Rechtsordnung im 19. Jahrhundert
Buch | Hardcover
412 Seiten
2008
Campus (Verlag)
978-3-593-38774-1 (ISBN)
42,00 inkl. MwSt
Die Entstehung des modernen Rechts
Im 19. Jahrhundert wurden in Deutschland öffentliche Gerichtsverhandlungen und moderne Strafgesetzbücher eingeführt; beides sollte für mehr Gleichheit vor dem Gesetz sorgen. Wie kam es zu diesem großen Umbruch und wie verlief er im Einzelnen? Diesen Fragen geht Rebekka Habermas am Beispiel des Diebstahls nach, der die Justiz im 19. Jahrhundert mehr beschäftigte als jedes andere Delikt. Sie rekonstruiert nicht nur die Logiken der Rechtsreformer, sondern auch die Motive der Diebinnen und Diebe, die Arbeit der Gendarmen, die Beweissuche der Juristen sowie den Anteil der Kriminologen und Journalisten am Prozess der Rechtsfindung. So zeigt sie, dass das moderne Recht von vielen Akteuren gestaltet wurde - bis hin zur Öffentlichkeit, die sich das Recht nahm, das Geschehen vor Gericht nach eigenen Maßstäben zu beurteilen.

Rebekka Habermas (1959–2023) war Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Göttingen.

Inhalt

Einleitung: Fragen über Diebe, Reformer, Juristen und andere

Das Interesse von Juristen, Kriminologen, Literaten und Journalisten
Hintergründe: Eigentum und Recht
Folgen: Eigentum und Recht
"Doing Recht"
Maria Scherrer, Johannes Bernstein und einige Kinder vor Gericht

Erster Teil
Was ist Diebstahl: Diebe und Diebinnen, Juristen und Fragen von Ehre und Eigentum

I.Wer sind die Diebe und Diebinnen und wer sind die Opfer?
1.Leben und Überleben "on the margins"
2.Die Opfer: Gute alte Bekannte?
3.Heterogene ländliche Gesellschaften39
4.Die vielen kleinen Unterschiede im Dorf
5.Diebstahl aus Not oder Diebstahl in Not?
6.Die Bedeutung der Dinge

II.Wie kommt man vor Gericht - warum wird etwas aktenkundig?
1.Ein Erfolg der Rechtsreformen?
2.Emotionen und Ehre
3.Eine Frage der Ehre?

III.Der Diebstahl entsteht - von der Handlung zum Delikt
1.Die "Übersetzungsproblematik" der Anzeige
2.Was ist Eigentum - was ist Diebstahl?
3.Diebstahl, Ehre und Eigentum

Zweiter Teil
Wie wird Recht gemacht: Die Beweisproduktion

IV.Techniken der Wahrheit - die langsame Verfertigung des modernen Rechtsstaates
1.Was ist ein Beweis?
2.Beweise: Strafregister, Leumundszeugnisse und Signalements
3.Beweise: Hausdurchsuchungen und Tatortbegehungen: Die Spurensuche vor Ort

V.Techniken der Wahrheit im Kontext anderer Wissensformationen: Wie übt man einen neuen Blick?
1.Statistik und die Produktion des Massewesens
2.Seelenlose Schimären in juristischen Fallgeschichten
3.Kriminologie als Perfektion von juristischem und statistischem Diskurs und die Vervollkommnung der Praktiken der Beweisproduktion

VI.Techniken der Wahrheit: Wie wird man Jurist und wie entsteht Eigentum?
1.Juristen
2.Verhöre oder: Wie entsteht Eigentum?
3.Verhörprotokolle
4.Die Voruntersuchung und das Machen von Recht

Dritter Teil
Im Gerichtssaal oder: Was ist Recht?

VII. Reformen für mehr Rechtsgleichheit, Gerechtigkeit und Öffentlichkeit?
1.Die Strafprozessreform: Das Palladium der Freiheit

VIII. Von der Bedeutungslosigkeit der Geschworenengerichte für die Justiz
1.Vor welches Gericht?
2."Abschließende Zusammenstellungen", "Anklageakte", "gedrängte Darstellung" und manches mehr - die Hauptverhandlung als Fortführung der Voruntersuchung mit anderen Mitteln?

IX.Legitimität durch Verfahren
1.Der Gerichtssaal als Ort der Wahrheit: Die Rolle des Publikums
2.Geschworene - Kontrolle durch und nicht nur des Verfahrens
3.Verteidiger

X.Irritationen, Dissonanzen und Vermischtes: Mehr als nur Theater
1.Zeuginnen, Zeugen und andere Kommunikationsprobleme
2.Urteile oder: Von der Uneinheitlichkeit der Rechtssprechung
3.Das Gericht und die Provinzpresse - die Dramen des Alltags
4.Faits divers
5.Reformen im Gerichtssaal: Das Gericht als paradoxer Ort

Schluss: Die Entstehung der modernen Rechtsordnung, Diebe und Eigentum

Die Dynamiken der Diebstahlsprozesse
Legitimität der Rechtsfindung
Jurisdictional politics

Danksagung

Anmerkungen

Bibliographie

Abkürzungen der Gesetze

Anhang

»Eine bahnbrechende Studie [...] ... Ihre Ergebnisse stellen das Bild des Gerichtswesens, wie es die Justizreformer nach 1848 und große Teile der Forschung bis heute vertreten, vom Kopf auf die Füße.« Frankfurter Rundschau, 14.10.2008»Eine Untersuchung, spannend wie ein Dutzend Krimis und dabei wissenschaftlich brillant« Der Tagesspiegel, 05.07.2009»Nuanciert und plausibel« Neue Zürcher Zeitung, 13.10.2008

»Eine bahnbrechende Studie [...] ... Ihre Ergebnisse stellen das Bild des Gerichtswesens, wie es die Justizreformer nach 1848 und große Teile der Forschung bis heute vertreten, vom Kopf auf die Füße.« Frankfurter Rundschau, 14.10.2008

»Eine Untersuchung, spannend wie ein Dutzend Krimis und dabei wissenschaftlich brillant« Der Tagesspiegel, 05.07.2009

»Nuanciert und plausibel« Neue Zürcher Zeitung, 13.10.2008

Einleitung: Fragen über Diebe, Reformer, Juristen und andere Im Mai 1854 erstattete Maria Scherrer Anzeige gegen einen Tagelöhner namens Anton Zimmermann, der angeblich ihrem 13-jährigen Sohn und seinem achtjährigen Freund Brot und eine Kappe gestohlen haben sollte. Das Brot, insgesamt anderthalb Laibe, hatten die beiden Jungen ihrerseits erbettelt. 1857 wurden in Gelnhausen zwei Kinder, zwölf und 15 Jahre alt, beschuldigt, einen zehnjährigen Jungen, der voll gepackt mit Einkäufen durch den Wald nach Hause gegangen war, erst angebettelt und dann bedroht zu haben. Eines der Kinder soll auf den Jungen zugekommen sein und gesagt haben: "Ich will brod haben". Dabei sei es "nach ihm zugegangen, er habe erklärt, er habe kein brod. Hierauf habe das mädchen gesagt: nun dann nehmen wir die wecken." Wenige Jahre danach, genauer 1859, wurde der Dienstknecht Johannes Bernstein beschuldigt, einen Hut entwendet respektive mitgenommen zu haben, der herrenlos auf dem Holzplatz des Dorfes gelegen hatte. Dieser Hut war freilich keineswegs herrenlos, sondern von einem gewissen Brandeis, seines Zeichens Tagelöhner, dort vergessen worden. Wir sehen hier drei auf den ersten Blick harmlose Delikte. Schließlich geht es um Dinge von geringem materiellen Wert, es handelt sich um Konflikte unter Nachbarn und manches Mal weiß man gar nicht so recht, ob es sich um Versehen, Vergesslichkeiten oder schlicht um Missverständnisse handelt. Und doch sind es Geschichten, die vor Gericht erzählt wurden und die jedes Mal in den Vorwurf des Diebstahls mündeten und zu rechtskräftigen Verurteilungen führten. Denn in den Augen der Zeitgenossen und Zeitgenossinnen war Diebstahl keineswegs eine belanglose oder gar harmlose Angelegenheit. Er war vielmehr ein Delikt, das nicht nur bei den Opfern, sondern auch bei Juristen, Kriminologen sowie Literaten und Journalisten große Aufmerksamkeit erregte. Das Interesse von Juristen, Kriminologen, Literaten und Journalisten Juristen verwendeten auf diese Straftaten beachtliche Energien, recherchierten mit nicht nachlassender Akribie und legten eine außergewöhnliche Ausdauer in der Verfolgung kleiner und kleinster Hinweise an den Tag. Nie zuvor scheint die Notwendigkeit, derart ausführlich zu beschreiben, was ein Diebstahl ist und wer darin welche Rolle spielt, so groß gewesen zu sein. Dieses massive Interesse an Eigentumsdelikten ist umso auffallender, als es sich in der Regel um relativ wertlose Gegenstände handelte. Weder die Kappe noch das, überdies erbettelte, Brot waren wertvoll. Auch bei der Mehrzahl anderer Diebstähle drehte es sich um Gegenstände von geringem materiellen Wert: um Socken, Hemden, Hüte, Brot, Gemüse oder Gebrauchsgegenstände wie beispielsweise Töpfe, die die Staatsbehörden intensiv beschäftigten. Die überwiegende Mehrzahl der Diebstähle im 19. Jahrhundert betraf solche kleinen Diebstähle, das heißt solche, in denen relativ wertlose Dinge entwendet wurden. Dennoch gingen ganze Heerscharen von Juristen der Frage nach, wem was gehörte und wie der gestohlene Gegenstand beschaffen war. Ober- und Unterstaatsprokuratoren - Vorläufer des Staatsanwaltes -, Richter, Verteidiger, Referendare und selbst Professoren der Jurisprudenz befassten sich in einer Intensität mit diesem Delikt, die man im 18. Jahrhundert genauso vergeblich sucht wie im 20. Jahrhundert. Doch nicht nur Juristen interessierten sich im 19. Jahrhundert für Eigentumsdelinquenz. Es entstand eine eigene Wissenschaft, die sich zwar nicht ausschließlich, aber auffallend häufig mit Eigentumsdelinquenten beschäftigte: Spätestens mit Lombrosos 1876 erschienenem Werk "L'Uomo delinquente" nahm auch in Deutschland die Kriminologie Gestalt an. Sie erforschte besonders den so genannten Gewohnheitsverbrecher - und dieser war meist ein Dieb. Die Kriminologen wollten genau wissen, wer die Diebe waren, wo sie herkamen und wie sie aussahen. Es entstand eine Wissenschaft, die sich mit präzisen Messinstrumenten an die genaue Erforschung von Nase, Mund, Stirn und Augenstellung des Verbrechers machte und ihn so genau kartographierte, wie zuvor nur Landschaften erfasst worden waren. Auch die Literatur machte Diebstahl zu einem Thema. Erinnert sei an Friedrich Schillers "Verbrecher aus verlorener Ehre" oder an Wilhelm Raabes "Horacker". Ja, es lässt sich im 19. Jahrhundert eine bis dahin einzigartige Vermehrung von Kriminellen auf dem wachsenden literarischen Markt beobachten. Neue Gattungen des Kriminellen entstanden und fanden ihr Publikum: Eugene François Vidoque publizierte seine abenteuerlichen Kriminalgeschichten, die schnell ins Deutsche übertragen wurden. Ernst Dronke verfasste als einer der Ersten so genannte Polizeigeschichten, in denen teilweise ganze Verhöre abgedruckt wurden. Auch in den Kriminal- und Richtergeschichten des Literaten und liberalen Juristen Temme wimmelte es nur so von Dieben. Dann wurden erste Kriminalnovellen, häufig als Fortsetzungsgeschichten, in auflagenstarken Blättern wie der "Gartenlaube" abgedruckt. Schließlich entstand im 19. Jahrhundert das literarische Genre des Kriminellen par excellence, der Kriminalroman, der - wie bei Sherlock Holmes zu beobachten - die detektivische Arbeit, den Akt des Entdeckens und damit den Detektiv und weniger den Verbrecher in den Mittelpunkt rückte. All diese Geschichten fanden ihr Publikum, mehr noch: Dieses neue Genre war überaus erfolgreich, wie folgender Kommentar zur Situation in Frankreich von Paul Féval aus dem Jahre 1866 zeigt: "Das Verbrechen hat Konjunktur, es verkauft sich […] Frankreich zählt eins bis zwei Millionen Konsumenten, die wollen nichts anderes vorgesetzt bekommen als Verbrechen, wenn möglich, gut durchgegart." Zu erwähnen ist überdies das innerhalb der bürgerlichen Leserschaft des 19. Jahrhunderts wahrscheinlich beliebteste und heute häufig übersehene Genre, die Reisebeschreibung, in der sich ebenfalls zuhauf Diebe finden, besonders wenn die Reise durch unwirtliche Gegenden führte. Im Kaukasus etwa fand man wahre "Meister in der Raubkunst". Indianer galten als "raublustig" und in Texas, so der Autor eines Reiseberichtes, ginge man des Abends nicht ohne Dolch los, weil es so viele Diebe gäbe. Als dann gegen Mitte des Jahrhunderts der ›Räuber‹ zu einer der zentralen Figuren der Kinderbuchliteratur wurde, war er auch in bürgerlichen Kinderzimmern omnipräsent. Zu guter Letzt sei auf eine vierte Gruppe hingewiesen, die ungefähr zur selben Zeit ihr Interesse für Kriminelle (hier ging es allerdings nicht primär um Diebe) entdeckte: Journalisten beziehungsweise die neue Subspezies der Gerichtsreporter. Neben der Gerichtsreportage, in der ausführlich von bedeutenden und auch weniger bedeutenden Straffällen berichtet wurde, entstand eine weitere Gattung, die sich bis heute größter Beliebtheit erfreut und Kriminelle mit besonderer Aufmerksamkeit bedachte: die so genannten "Vermischten Nachrichten" oder "faits divers", die eher beiläufig, dafür aber häufig über Diebe und Diebinnen berichteten. Beide Genres entstanden im 19. Jahrhundert und konnten schnell viele Leser und Leserinnen für Fragen des Kriminellen begeistern. Dieses massive Interesse wirft eine Reihe von Fragen auf: Was waren die Ursachen für dieses Interesse und welche Folgen hatte es? Ich will mit der ersten Frage beginnen: Warum interessierten sich Juristen, Literaten, Journalisten und Kriminologen ebenso wie die immer zahlreicheren Leserinnen und Leser von Zeitungen und Zeitschriften plötzlich so intensiv für Diebe und Diebinnen? Welche Aspekte waren es, die diese alltäglichen Fälle für sie interessant machten: Was genau wollten die Juristen durch die immer neuen Verhöre herausfinden? Weckten die Gewalttätigkeit im Fall von Raub oder vor allem die Person des einfachen Diebs oder vielleicht auch eher der Diebin die Neugierde? Interessierten das Gericht und das Ermittlungsverfahren, waren es vielleicht sogar in erster Linie die Fragen des Rechts, die Aufmerksamkeit erregten - schließlich ist ja das 19. Jahrhundert das Jahrhundert der großen Rechtsreformen? Was interessierte die Leser und Leserinnen? Wollte man mehr über die einzelnen Figuren innerhalb der Prozesse erfahren, über die Ermittler, die Richter und die Verteidiger, oder ging es eher darum, herauszufinden, ob die neuen öffentlichen Geschworenengerichte wirklich hielten, was von ihren Verfechtern so vollmundig versprochen wurde? Ging es somit vielleicht gar nicht um die jeweiligen Einzelheiten des Diebstahls, sondern mehr um grundsätzliche Fragen der Gerechtigkeit? Oder faszinierten weder Diebinnen und Diebe noch Richter und Verteidiger, sondern waren es die Fragen des Eigentums, die man mit der Lektüre von Kriminalnovellen, Gerichtsreportagen oder auch nur kleineren Meldungen in der Rubrik "Vermischte Nachrichten" eigentlich verfolgen wollte? Warum scheuten weder Gendarme noch Kriminologen Mühe und Zeit, um mit immer neuen Messverfahren den Delinquenten zu Leibe zu rücken und jede noch so harmlose Spur präzise auf Skizzen und in Asservatenkammern zu konservieren?

Erscheint lt. Verlag 15.9.2008
Zusatzinfo 7 Abb.
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 219 x 149 mm
Gewicht 650 g
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Neuzeit (bis 1918)
Geschichte Teilgebiete der Geschichte Militärgeschichte
Recht / Steuern Rechtsgeschichte
Schlagworte 19. Jahrhundert • 19. Jahrhundert; Recht • Deutschland • Deutschland, Geschichte; Recht • Diebstahl • Eigentum • Gericht • HC/Geschichte/Neuzeit bis 1918 • Hessen • Kriminologie • Marburg • Polizei • Rechtsgeschichte • Rechtsprechung • Rechtsreform • Rechtsstaat • Richter • Strafrecht
ISBN-10 3-593-38774-3 / 3593387743
ISBN-13 978-3-593-38774-1 / 9783593387741
Zustand Neuware
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Mehr entdecken
aus dem Bereich
Europa 1848/49 und der Kampf für eine neue Welt

von Christopher Clark

Buch | Hardcover (2023)
DVA (Verlag)
48,00