Jugendgerichtsgesetz (eBook)
710 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-038055-4 (ISBN)
Herausgegeben von: Prof. Dr. Dr. Christoph Nix, Strafverteidiger, Professor an der Universität Bremen; Simon Pschorr, Staatsanwalt; Abgeordneter Praktiker an der Universität Konstanz. Bearbeitet von: Vera Eberz, Rechtsanwältin; Ruben Franzen, Jugendrichter; Lena Gmelin, Wiss. Mitarbeiterin; Andreas Hennemann, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht.
Herausgegeben von: Prof. Dr. Dr. Christoph Nix, Strafverteidiger, Professor an der Universität Bremen; Simon Pschorr, Staatsanwalt; Abgeordneter Praktiker an der Universität Konstanz. Bearbeitet von: Vera Eberz, Rechtsanwältin; Ruben Franzen, Jugendrichter; Lena Gmelin, Wiss. Mitarbeiterin; Andreas Hennemann, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht.
Kapitel 1:Das Jugendstrafrecht als besonderes Erziehungsstrafrecht
§ 1Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich
(1) Dieses Gesetz gilt, wenn ein Jugendlicher oder ein Heranwachsender eine Verfehlung begeht, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist.
(2) Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist.
(3) Ist zweifelhaft, ob der Beschuldigte zur Zeit der Tat das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, sind die für Jugendliche geltenden Verfahrensvorschriften anzuwenden.
§ 2Ziel des Jugendstrafrechts; Anwendung des allgemeinen Strafrechts
(1) 1Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken. 2Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten.
(2) Die allgemeinen Vorschriften gelten nur, soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist.
I.Kurze Geschichte des JGG
1Das JGG vom 16.2.19231 war als Entwurf von Gustav Radbruch in das deutsche Parlament eingebracht worden. Materiell-rechtlich entkriminalisierte es die 12- und 13-Jährigen. Bereits zehn Jahre vorher hatte die Fortschrittspartei einen Antrag gerichtet auf den Erlass eines ersten Jugendstrafgesetzbuchs eingebracht, der durch niemand Geringeren als Franz von Liszt begründet wurde.2 Von Liszt war bemüht, Strafmündigkeit erst mit 16 Jahren zu normieren. Vorher, so war er sich sicher, reichten die Erziehungsmöglichkeiten der Gesellschaft aus. Die Vorschläge der Deutsch-Nationalen zu einer unbestimmten Jugendstrafe waren vom Reichstag abgelehnt worden. Das JGG 1923 institutionalisierte zum ersten Mal in der Geschichte Jugendgerichte als Fachgerichte und legte die Beurteilung junger Täter in die Hände der Jugendämter. Damit war die Jugendgerichtshilfe geboren. Die Jugendhilfe wurde bereits ein Jahr vorher durch das Jugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922 gesetzlich geregelt. Die Angebote sollten vielfältig sein und als Ausfluss des Wohlfahrtsstaates verstanden werden. Das RJWG enthielt zahlreiche Eingriffstatbestände, vor allem bei Gefährdungen des Kindeswohls. Neue Sanktionen wurden eingeführt und es entwickelten sich Alternativen zur Freiheitsstrafe. Letztere konnte zum ersten Mal in der Geschichte des Strafens zur Bewährung ausgesetzt werden.
2Das erste deutsche Jugendgericht wurde bereits im Jahre 1907 in Frankfurt eingerichtet. Frankfurt war ein liberaler Ort, was sich auch nach Gründung der Bundesrepublik 1949 immer wieder bewies: 1968 weigerten sich hier sieben Jugendrichter in Strafprozessen ihre schwarze Robe zu tragen, um Jugendliche nicht einzuschüchtern.3 1912 gab es in Deutschland bereits 1.283 Jugendgerichte. Eigene Jugendgerichtshilfen wurden aufgebaut und ein spezieller Jugendstrafvollzug wurde eingeführt. Die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts revolutionierten das Jugendstrafrecht. Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch hatte hierbei große praktische Implikationen: Als Justizminister verantwortete er das JGG, das bis heute den Grundstein des Jugendstrafrechts bildete.
3Nach dem liberalen Frühling der Weimarer Republik zerstörte der Nationalsozialismus ein Denken, dass dem Strafen entgegengesetzt war und schlug dem Jugendstrafrecht eine Wunde, die bis heute klafft. Die Verordnung zur Ergänzung des Jugendstrafrechts vom 4.10.19404, die Durchführungsverordnung zur Ergänzung des Jugendstrafrechts vom 28.11.19405 und letztlich das RJGG vom 6.11.19436 infizierten das Jugendstrafrecht mit der faschistischen Erziehungsideologie. Die Strafmündigkeit wurde wieder auf 12 Jahre gesenkt (§ 3 Abs. 2 RJGG vom 6.11.1943). Das allgemeine Strafrecht fand auf Jugendliche im Einzelfall „wegen der besonders verwerflichen Gesinnung des Täters und wegen der Schwere der Tat“ (§ 20 Abs. 1 RJGG vom 6.11.1943) Anwendung. Auch die Möglichkeit der Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung wurde wieder aufgehoben und es wurden Tatbestandsmerkmale eingeführt, die dem faschistischen Sprachduktus entstammten: „frühreife Personen“ (§ 20 Abs. 1 RJGG) oder „charakterlich, abartige Schwerverbrecher“ (§ 20 Abs. 2 RJGG). Jugendschutzlager, in denen Jugendliche nach der Verbüßung ihrer Strafe verwahrt werden konnten, wurden errichtet. Als neue Sanktionsform wurden Zuchtmittel und damit auch der Jugendarrest als eine Spielart faschistischer Disziplinierung ergänzt, um im Sinne der menschenverachtenden Ideologie „die Spreu vom Weizen zu trennen“. Die Polizei wurde dazu ermächtigt, diese Sanktion selbst zu verhängen (§ 52 RJGG 1943). Während des gesamten Strafprozesses durfte die Hitler-Jugend (HJ) neben der Jugendgerichtshilfe zur Mitarbeit herangezogen werden.7
4Nach den Untersuchungen von Wolff8 wurden von 1939 bis 1943 in der „ordentlichen Strafgerichtsbarkeit“9 61 Todesstrafen gegen Jugendliche vollstreckt. Die Nazis und die Deutschnationalen warfen den demokratischen Parteien der Weimarer Republik vor, ihr Reformgesetz von 1923 habe die Eindämmung von Jugendkriminalität nicht verhindert und deshalb müsse jetzt der Staat zu mehr Härte greifen.10 Dieses Argumentationsmuster begegnet dem Rechtspraktiker im Jugendstrafrecht in regelmäßigen Abständen. Der Ruf nach Härte gegenüber einer verrohten Jugend taucht in den rechtspolitischen Diskursen in Intervallen immer wieder von Neuem auf, ob sie von der AfD11 oder dem Vorsitzenden der GdP12 erhoben werden.13
5Die heutige Dreiteilung der Sanktionen von Erziehungsmaßregel, Zuchtmittel und Jugendstrafe findet sich erstmals in der Jugendstrafrechtsverordnung vom 6.11.1943,14 deren § 2 dem heutigen § 5 JGG im Wortlaut gleicht. Die Geschichte des jugendstrafrechtlichen Rechtfolgensystems zeichnet sich durch Kontinuität aus. Insgesamt zeigte das Jugendstrafrecht eine Resistenz gegenüber gesellschaftspolitischen Umwälzungen im 20. Jahrhundert. Es erscheint angesichts der heute maßgeblichen Pluralität von Lebensstilen und Weltanschauungen und den damit notwendig verbundenen Statusunsicherheiten mehr als fraglich, ob die zu sanktionierende Jugend unverändert geblieben ist.15
6Das JGG von 195316 hatte in der BRD die Aufgabe, das Jugendstrafrecht wieder auf das Niveau der Weimarer Republik zurückzuführen. Es wurde vom faschistischen Gedankengut befreit, die Strafmündigkeit auf 14 Jahre angehoben Die Strafaussetzung zur Bewährung und die obligatorische Bewährungshilfe durch ausgebildete Sozialarbeiter kamen zurück. Außerdem stellte man die Heranwachsenden unter den Schutz des § 105 JGG. Jedoch blieben die Instrumente der Zuchtmittel, insbesondere der Jugendarrest, und die unbestimmte Jugendstrafe erhalten. Die Grundstruktur der Sanktionen wurde nicht angetastet.
7Während das RJGG von 1923 Strafe strikter vom Erziehungsgedanken trennte, förderte das JGG von 1953 die Vermischung von Strafe und Erziehung. Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht ist bis heute ein ungelöstes normatives und ideologisches Problem.17
8In der DDR wurde im Jahr 1952 ein Jugendstrafrecht eingeführt, das, moderner als im Westen, eigene Ansprüche von Jugendlichen auf Resozialisierung formulierte. Als sich seit 1968 in der DDR wieder eine restaurative Politik durchsetzte, wurden diese liberalen Ansätze eines aufgeklärten Jugendstrafrechts wieder abgeschafft und Sonderregelungen im Erwachsenenstrafrecht der DDR normiert.18 Die Zustände in den Jugendhöfen waren von Willkür und Missbrauch bestimmt und standen den Erziehungsheimen in der Bundesrepublik in Gewalt und Brutalität in nichts nach.
9An das 1. JGGÄndG von 199019 zur Vereinheitlichung des Jugendstrafrechts nach der Wiedervereinigung hatte man große Erwartungen geknüpft, aber Freude wollte sich damals im Fachpublikum nicht einstellen. Selbst Böhm20 war tief enttäuscht. Hervorzuheben ist jedoch, dass die Einflussmöglichkeiten der Jugendgerichtshilfe durch die Novellierung des § 38 und die Einfügung eines § 72a gestärkt wurden. Andererseits...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2023 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Recht / Steuern ► Strafrecht ► Jugendstrafrecht |
Schlagworte | Entscheidungsfindung • jugendgerichtsverfahren • Jugendstrafrecht • Rechtsprechung |
ISBN-10 | 3-17-038055-9 / 3170380559 |
ISBN-13 | 978-3-17-038055-4 / 9783170380554 |
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