Verfassende Urteile (eBook)
285 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-77600-1 (ISBN)
Gerichte nehmen mit ihren Urteilen großen Einfluss auf Verfassungsentwicklungen. Wie aber können diese Urteile Verfassungen erweitern, verdichten oder verändern? Und was heißt es überhaupt, rechtlich zu urteilen? Um verfassende Urteile über ihre Rechtsförmigkeit zu erklären, rekonstruiert Sabine Müller-Mall in ihrem scharfsinnigen Buch Verfahren juridischen Urteilens. Sie entwirft nicht nur eine grundlegende Perspektive auf den Zusammenhang von Recht und Konstitutionalisierung, sondern auch eine Theorie des Rechts, die das Urteilen zum Ausgangspunkt nimmt.
Sabine Müller-Mall ist Professorin für Rechts- und Verfassungstheorie an der Technischen Universität Dresden.
10I. Konstitutionalisierung durch Urteile
Erweiterungen, Vertiefungen und Verdichtungen der verfassten Welt geschehen selten revolutionär,[1] manchmal im Wege der Änderung oder Reform von Verfassungsgesetzen und ziemlich häufig durch rechtsförmige Urteile.[2] Während allerdings Momente der Verfassunggebung und Verfahren der Verfassungsänderung in der rechts- und politikphilosophischen Literatur sowie rechtswissenschaftlich gut beschrieben sind, bleibt die verfassende Qualität von rechtsförmigen Urteilen in den entsprechenden Diskursen weitgehend ohne Berücksichtigung. Stattdessen wird die Rolle von Gerichten als Akteuren in Konstitutionalisierungsprozessen einhellig angenommen, eingehend untersucht und diskutiert.[3] In diesem (institutionellen) Zusammenhang werden auch regelmäßig Beobachtungen von Konstitutionalisierungsprozessen an rechtlichen 11Urteilen gemacht und beschrieben. Gerichte, so wird es vielfach gefasst, treiben solche Prozesse des Verfassens nicht allein, aber wesentlich an, sie haben unter anderem als »aktivistische Institutionen«, als activist courts, bereits eine gefestigte Kontur im Rahmen mancher konstitutionalistischer Modelle gewonnen.[4]
Die vorliegende Untersuchung schlägt hier einen anderen Weg ein, um Ausdifferenzierungen und die Expansion von Verfassung durch rechtsförmige Urteile zu erläutern: Sie knüpft nicht an den urteilenden Institutionen, sondern am Verfahren des Urteilens an. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Verbindung von Konstitutionalisierungsprozessen und rechtsförmigen Urteilen weder einen zufälligen noch einen belanglosen Zusammenhang beschreibt. Vielmehr, dies wird weiter zu erläutern sein, bildet sich darin ein in beiden Richtungen eng verstricktes Verhältnis von Verfassung und Recht ab. Es wird gerade dann nicht nur beobachtbar, sondern auch theoretisch wirksam, wenn wir Recht vom Urteilen ausgehend denken. Insofern führt die Ausgangsfrage danach, wie die verfassende Eigenschaft (mancher) rechtsförmiger Urteile zu erklären ist, schließlich zu einem Entwurf einer Theorie des Rechts, die Verfahren des Urteilens (und nicht etwa Rechtsnormen oder Rechtsregeln) in den Mittelpunkt rückt. Während die Studie also einen recht weiten Bogen spannen wird, konzentriert sich das vorliegende erste Kapitel zunächst auf ihren vergleichsweise schmalen Ausgangspunkt: die Beobachtung, dass Erweiterungen, Vertiefungen und Verdichtungen von Verfassung nicht nur manchmal, sondern regelmäßig im Wege rechtsförmiger Urteile entstehen. Solche Urteile nenne ich im Folgenden verfassende Urteile.
1. Untersuchungsgegenstand: verfassende Urteile
Die Möglichkeit, dass rechtliche Urteile Verfassungsprozesse auslösen und verändern, wird implizit von zahllosen Studien vorausgesetzt – von sämtlichen Ansätzen nämlich, die annehmen, dass Gerichtsurteile konstitutionalisieren können. Jede Beschreibung etwa des Europäischen Gerichtshofs als Akteur, der die Konstitutionali12sierung der Europäischen Union vorantreibt,[5] jede Untersuchung, die eine Konstitutionalisierung der Welthandelsorganisation durch deren Spruchkörper beobachtet,[6] jede These einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts, die sich (auch) auf gerichtliche Entscheidungen bezieht,[7] setzt – zunächst einmal auf ganz allgemeine Weise verstanden – voraus, dass es möglich ist, durch, in oder mithilfe von Urteilen zu verfassen. Gleiches gilt auch, und dies ist weniger trivial, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, für die These, dass Urteile von Verfassungsgerichten konstitutionalisieren, indem sie beispielsweise eine Ausstrahlung von Verfassungsnormen auf einfaches Recht normativ bestimmen.
Exemplarisch kann hier nach wie vor auf das Lüth-Urteil[8] des Bundesverfassungsgerichts verwiesen werden: Darin stellt das Gericht unter anderem fest, dass das Grundgesetz eine »objektive Wertordnung« errichte, die wiederum »selbstverständlich auch das Bürgerliche Recht« beeinflusse[9] – denn diese »objektive Wertordnung« entfalte ein ganzes Wertsystem, »Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse«.[10] Eine Verdichtung und Vertiefung der Verfassung geschieht hier also letztlich dadurch, dass der Modus des einfachen Rechts verändert wird: Es soll nicht nur als ein Allgemeines in Bezug auf ein Konkretes in einem jeweiligen Rechtsfall, für ein jeweiliges Rechtsurteil dienen, sondern es soll dabei eine ihm übergeordnete Allgemeinheit, eine objektive Wertordnung, vermitteln. »Der Rechtsgehalt der Grundrechte als objektiver Normen entfaltet sich im Privatrecht durch das Medium der dieses Rechtsgebiet unmittelbar beherrschenden Vorschriften«,[11] so fasst die Urteilsbegründung eine grundsätzliche verfassungstheoretische Entscheidung zusammen. Im Lüth-Urteil konstitutionalisiert das Gericht also nicht nur, indem es den Grundrechten eine objektivrechtliche Dimension zu13spricht und damit den Rahmen des »bisher« Verfassten erweitert, sondern auch, indem es das Grundrechtssystem in ein normatives Hierarchieverhältnis, in ein Vorrangverhältnis zum einfachen Recht setzt. Dieses zeigt sich in der neuen Funktion der Normen des Privatrechts als »Medium« des objektiven Gehalts der Grundrechte.
Diese (gängige) Lesart des Urteils setzt nun, darum geht es mir hier, voraus, dass ein solches Urteil genau das überhaupt leisten kann: tiefgreifende verfassende Wirkungen erzeugen. Schließlich ist zwar unmittelbar einsichtig, dass ein gerichtliches, ein rechtsförmiges Urteil Aussagen über Gehalte und auch etwa den normativen Rang treffen kann, wenn es beispielsweise das Allgemeine bestimmt, um dieses dann mit einem spezifischen Problem, einem Sachverhalt, einem Besonderen im Urteil zu verknüpfen. Solche Aussagen allein können allerdings noch nicht das Verfassungsgefüge verändern oder erweitern, wenn Verfassung mehr oder ein anderes bedeutet als: Recht. Denn sie sind zunächst einmal – auch wenn sie von Verfassungsgerichten getroffen werden – auf einen Fall bezogen, sie können »nur den verfassungsrechtlichen Rahmen [bestimmen]«,[12] nicht aber diesen Rahmen erweitern, ausbauen oder verkleinern. Diese Kompetenz fällt auf der Ebene der Verfassung eigentlich allein dem pouvoir constituant zu. Damit deutet sich an, dass die Frage nach der Möglichkeit verfassender Wirkungen von rechtsförmigen Urteilen, die Frage nach Funktionsweise und Wirkmechanismen von verfassenden Urteilen verzwickter sein dürfte, als angesichts der vielfältigen Zuschreibungen konstitutionalisierender Wirkungen aus einer institutionellen Perspektive heraus anzunehmen ist. Unter welchen Umständen und Bedingungen lässt sich eine konstitutionalisierende Wirkung von Urteilen beobachten? Oder anders formuliert: Was heißt Konstitutionalisierung durch Urteile? Offenbar lassen sich verfassende Wirkungen nicht notwendig von normativen, institutionellen oder tatsächlichen Qualitäten ableiten – denn ein verfassendes Urteil muss nicht unbedingt auf Verfassungsnormen zurückgreifen, ein Gericht, das verfassende Urteile fällt, muss nicht notwendig ein Verfassungsgericht sein, und ein zu beurteilender Fall muss nicht einer bestimmten Materie zuzuordnen sein, um eine konstitutionalisierende Wirkung anzuneh14men oder auszuschließen. Aber auch der Begriff der Konstitutionalisierung beziehungsweise der konstitutionalisierenden Wirkung ist in diesem Zusammenhang nicht ganz unproblematisch, eben weil er ebenso häufig wie divers verwendet wird.[13] Konstitutionalisierung beschreibt sowohl die »Herausbildung von Verfassungsrecht in einer Rechtsordnung« als auch die »Ausbreitung des Konstitutionalismus als intellektuelle Strömung«,[14] die Ausbildung von Verfassungselementen im internationalen Recht[15] oder die »allmähliche […] institutionelle […] Verdichtung«[16] von Strukturen wie etwa im Rahmen der Europäisierung....
Erscheint lt. Verlag | 20.8.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Recht / Steuern ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • bücher neuerscheinungen • Demokratie • Jura • juridisches Urteil • Konstitutionalisierung • Neuererscheinung • Neuerscheinungen • neues Buch • Rechtsphilosophie • Rechtsprechung • Rechtstheorie • Rechtsurteil • Rekonstruktion • STW 2404 • STW2404 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2404 • Verfassung • Verfassungsentwicklung |
ISBN-10 | 3-518-77600-2 / 3518776002 |
ISBN-13 | 978-3-518-77600-1 / 9783518776001 |
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