Das Versprechen der Gleichheit (eBook)

Steuern und soziale Ungleichheit in Deutschland von 1871 bis heute

(Autor)

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2022 | 1., Originalausgabe
1039 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76833-4 (ISBN)

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Das Versprechen der Gleichheit - Marc Buggeln
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Das Elend der Industriearbeiter im 19. Jahrhundert verstärkte den Ruf nach sozialer Gerechtigkeit und schürte die Angst vor einer Revolution. Preußen führte daraufhin als erste europäische Großmacht eine progressive Einkommensteuer ein. Mit ihr begann die Revolution der Gleichheit und der Übergang zur sozialliberalen Gouvernementalität, die auch Erfolge zeitigte. So nahm die seit Jahrhunderten wachsende Ungleichheit nach dem Ersten Weltkrieg erstmals ab. In seiner großen Studie zeichnet Marc Buggeln die spannende Geschichte der Steuerpolitik nach und zeigt, dass die progressiven Steuern stets umstritten geblieben sind. Mit dem Siegeszug des Neoliberalismus stehen sie erneut im Zentrum gesellschaftlicher Verteilungskämpfe.



Marc Buggeln ist Professor für regionale Zeitgeschichte und Public History an der Universität Flensburg und Direktor der Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte und Public History (Schleswig).

9Einleitung


Anfang 2014 meldete Oxfam, dass die reichsten 85 Menschen so viel Vermögen besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, mithin über dreieinhalb Milliarden Menschen. Zwei Jahre später bedurfte es nur noch 62 Superreicher, um das Vermögen der ärmeren Hälfte der Menschheit aufzuwiegen, und 2018 schließlich nur noch 26 Superreicher.[1]  Solche Zahlen bestätigen den Eindruck, dass wir aktuell in Zeiten exponentiell wachsender Ungleichheit leben. Die Spitzenvermögen sind in den Vereinigten Staaten inzwischen fast wieder auf der Höhe derer angekommen, die dort Ende des 19.Jahrhunderts angehäuft worden waren. Im wertbereinigten zeitübergreifenden Vergleich führten 1999 mit John D. Rockefeller, Andrew Carnegie und Cornelius Vanderbilt noch die drei erfolgreichsten Unternehmer des Gilded Age die ewige Rangliste an, erst auf Platz vier folgte Bill Gates.[2]  2018 rückte aber der Amazon-Gründer Jeff Bezos mit einem geschätzten Vermögen von 112 Milliarden Dollar auf Platz zwei hinter Rockefeller vor.[3]  Doch die Corona-Pandemie mit ihren Lockdowns bescherte dem Versandhändler Amazon eine Explosion der Gewinne, wodurch Bezos Rockefeller überholte. Laut Forbes wurde Bezos die erste Person, die jemals ein Vermögen von über 200 Milliarden Dollar ihr Eigen nennen konnte.[4] 

Besonders instruktiv ist ein Blick auf die diachronen Vergleichsdaten, wie sie für die großen britischen und US-amerikanischen Vermögen vorliegen, wenn man die biografischen Eckdaten der 10Besitzer betrachtet.[5]  Es fällt auf, dass in den Listen kaum jemand aus den Geburtsjahrgängen 1871 bis 1945 zu finden ist. Die großen Vermögen des frühen 20.Jahrhunderts besaßen fast ausnahmslos Menschen, die schon in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts geboren wurden, darüber hinaus finden sich noch einige Vertreter der Geburtsjahrgänge bis 1869. Dann klafft eine Lücke von mehr als einem halben Jahrhundert. Die nächsten Einträge finden sich dann erst wieder für in den 1930er-Jahren geborene Männer. Wenn man davon ausgeht, dass große Vermögen im Regelfall erst ab einem Alter von 30 Jahren aufgebaut werden, so entspricht diese Lücke in den Geburtsjahrgängen in etwa der Zeit der Großen Kompression von 1914 bis in die 1970er-Jahre, in der die soziale Ungleichheit in den westlichen Industrienationen deutlich abnahm. In dieser Periode stieg der Anteil der unteren und mittleren Schichten am Gesamteinkommen. Gleichzeitig war es erheblich schwerer als zuvor oder danach, gigantische Vermögen anzuhäufen. Ohne Zweifel hatte die Vermögensvernichtung in den beiden Weltkriegen einen großen Anteil an dieser Entwicklung. Ebenso spielten jedoch progressive Steuern, also Steuern, die Wohlhabende verhältnismäßig stärker belasteten, sowie der Ausbau des Sozialstaats eine zentrale Rolle. Progressive Steuern und steigende Sozialausgaben waren die beiden wichtigsten Bausteine der gegen Ende des 19.Jahrhunderts einsetzenden »Gleichheitsrevolution« (Pierre Rosanvallon), die das Denken und Handeln der Menschen im atlantischen Wirtschaftsraum nachhaltig prägten und veränderten. Sie waren Teil des Übergangs von der liberalen zur sozialliberalen Gouvernementalität und bedeuteten eine Ausweitung der Handlungsmöglichkeiten innerhalb der politischen und sozialen Staatsbürgerschaft. Der Aufstieg der neoliberalen Gouvernementalität seit den 1970er-Jahren trug dann dazu bei, dass die soziale Ungleichheit seit den 1970er-Jahren in den OECD-Staaten in der Tendenz wieder zunahm. Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit wurden nun häufiger mit dem Vorwurf des Sozialneids abgewehrt und als politisch irrelevant markiert.

Thomas Piketty beschrieb die Steuerpolitik als das wesentliche Mittel, um der von ihm konstatierten Zunahme der Ungleichheit in vielen OECD-Staaten und insbesondere in den USA seit 11den 1980er-Jahren gegenzusteuern. Die Beschaffung ausreichender staatlicher Finanzmittel durch eine schärfere Besteuerung der Wohlhabenden ist für ihn die Grundvoraussetzung, um überhaupt gemeinschaftlich agieren zu können.[6]  Zugleich bilden Steuerdaten die wesentliche Grundlage für seine Erfassung der Einkommens- und Vermögensungleichheit, die das eigentliche Thema seines Buches darstellen. Mit dieser Monografie hat er die Ungleichheitsforschung auf ein neues Niveau gehoben. Dass Piketty allerdings die bisherige Umverteilungswirkung von Steuern nicht systematisch untersucht, obwohl er der Steuerpolitik zentrale Bedeutung beimisst und sich maßgeblich auf Steuerdaten beruft, überrascht. Die vorliegende Arbeit schlägt eine andere Richtung ein: Der Zusammenhang von Steuersystem und sozialer Ungleichheit bildet ihr Zentrum.

Eine vergleichend und transnational angelegte Nationalstudie


Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht die Entwicklung in Deutschland von der Gründung des Kaiserreichs bis heute. Für diesen nationalstaatlichen Zugriff sprechen gute Gründe: Der moderne Steuerstaat war mit dem Nationalstaat auf das Engste verknüpft und steuerpolitische Fragen wurden weitestgehend im nationalen Rahmen entschieden. Dementsprechend handelt es sich bei der Mehrzahl der bedeutenden historischen Studien zur modernen Steuerpolitik um Nationalstudien, in denen nur sehr wenig Bezug auf die Entwicklung in anderen Ländern genommen wird.

Ob jedoch eine Steuerbelastung besonders stark oder die Ungleichheit im untersuchten Fall besonders hoch war, lässt sich nur mit Blick auf andere Länder beurteilen. Deswegen ist die Arbeit vergleichend angelegt. Die deutsche Entwicklung steht zwar im Mittelpunkt, aber sie wird mit der Steuerpolitik und ihren Auswirkungen auf soziale Ungleichheit in anderen wirtschaftlich führenden westeuropäischen und nordamerikanischen Staaten abgeglichen. Durchgängig werden dabei jene drei Länder untersucht, die aus deutscher Sicht die drei wichtigsten Konkurrenten als wirt12schaftliche Führungsmacht darstellten: Großbritannien, Frankreich und die USA. Dazu werden beispielsweise auch die Schweiz, Schweden, Italien, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich als Kontrastfälle in den Blick genommen und schließlich wird die Sowjetunion als schärfstes Gegenmodell zum kapitalistischen Steuerstaat in die Untersuchung einbezogen. In dieser vergleichenden Perspektive zeigt sich, dass viele Großdiagnosen der noch sehr national geprägten deutschen Geschichtsschreibung kaum haltbar sind. So hatte weder das deutsche Kaiserreich ein ausgeprägt unsoziales Steuersystem noch war der Deflationskurs Heinrich Brünings eine deutsche Besonderheit, und auch dass die nationalsozialistische Regierung eine ausnehmend scharfe Reichenbesteuerung einführte, ist ein Mythos. Umgekehrt kann der Blick auf die deutsche Steuergeschichte das Bild jüngerer internationaler Entwicklungen ergänzen. Einschneidende Steuersenkungen, wie sie von Ronald Reagan und Margaret Thatcher in den 1980er-Jahren vorgenommen wurden, fanden in der Bundesrepublik schon in den 1950er-Jahren unter dem Regime ordoliberaler Gouvernementalität statt. Der umfassende Vergleich ermöglicht es, zu sehr viel präziseren Aussagen zu kommen.[7] 

Im Kern ist die Arbeit also eine vergleichend angelegte Nationalstudie. Daneben werden gerade in Bereich des Wissens und der Suche nach steuerlichen Innovationen auch transnationale Zusammenhänge und Transferprozesse herausgearbeitet.[8]  Die führenden Finanzwissenschaftler rezipierten sich gegenseitig. Die nationalen Debatten um eine progressive Besteuerung lebten auch von der Beobachtung anderer Länder und der Hoffnung, im eigenen Land ein besonders innovatives Steuersystem aufbauen und der internationalen Konkurrenz enteilen zu können. Aufmerksam verfolgten Politiker und Beamte die Entwicklungen im Ausland, um gegebenenfalls erfolgreiche Konzepte zu importieren. Hinzu kommt, dass die Fiskalsysteme zwar nationalstaatlich verfasst waren, aber 13insbesondere im Kriegsfall eine Abhängigkeit von internationalen Finanznetzwerken bestand. Die Studie vermag hier Schlaglichter zu werfen, doch bleibt eine umfassende Aufarbeitung der internationalen Steuerdebatten und ihrer transnationalen Einflüsse ...

Erscheint lt. Verlag 12.9.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Recht / Steuern Steuern / Steuerrecht
Schlagworte aktuelles Buch • bücher neuerscheinungen • Carl-Erdmann-Preis 2021 • Gouvernementalität • Neoliberalismus • Neuerscheinungen • neues Buch • Steuerpolitik • STW 2338 • STW2338 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2338 • Ungleichheit
ISBN-10 3-518-76833-6 / 3518768336
ISBN-13 978-3-518-76833-4 / 9783518768334
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