Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch (eBook)
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2721-1 (ISBN)
Kristina Lunz, geboren 1989, ist Unternehmerin, Autorin und Aktivistin. Sie wurde nach einem Bachelor in Psychologie und einem ersten Masterabschluss in London Stipendiatin an der Universität Oxford, wo sie MSc Global Governance and Diplomacy studierte.Nach ihrem Abschluss arbeitete sie unter anderem für die Vereinten Nationen in Myanmar und für eine NGO in Kolumbien. Seit 2018 ist sie Mitgründerin und CEO des Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP) in Berlin, von 2019 bis 2020 war sie zusätzlich als Beraterin im Auswärtigen Amt tätig. Kristina hat etliche aktivistische Kampagnen wie 'Nein heißt Nein' oder gegen den Sexismus in der Bild-Zeitung (mit-)initiiert und hat zahlreiche Auszeichnungen sowie Fellowships renommierter Institutionen erhalten. Sie wurde 2019 von Forbes als eine der '30 unter 30' in Europa ausgezeichnet und ist Young Leader der Atlantik-Brücke, Ashoka Fellow, BMW Foundation Responsible Leader, eine der 'Vordenker*innen 2020' von Handelsblatt und wurde vom Focus zu einer der '100 Frauen des Jahres 2020' erklärt. Von 2022 bis 2024 war sie Mitglied der Advisory Group der Goalkeepers-Initiative der Bill and Melinda Gates Foundation zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Ihr wurde außerdem der German Start-Up Award als 'Impact Entrepreneurin 2024' verliehen. Kristinas erstes Buch Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch (Econ 2022) avancierte zum Bestseller und wurde ins Englische übersetzt. Sie trug ein Kapitel zu den Sammelbänden Unlearn Patriarchy sowie Unlearn CO2 bei (Ullstein 2022 und 2024). www.kristinalunz.com
Kristina Lunz, geboren 1989, ist eine deutsche Feministin, Aktivistin und Mitbegründerin des Centre for Feminist Foreign Policy (CFFP). Bekanntheit erlangte sie durch die Kampagne Stop Bild Sexism und ihren Einsatz für feministische Außenpolitik.
What I most regretted were my silences. …
And there are so many silences to be broken.
Audre Lorde
Naivität hilft. Manchmal ist sie gar ein Segen. Wäre mir im Jahr 2014 klar gewesen, was passiert, wenn man als Frau öffentlich Stellung bezieht und Ungerechtigkeiten anprangert, hätte ich wohl keine Kampagne gegen Sexismus und die Degradierung von Frauen in der BILD-Zeitung initiiert. Aber ich war naiv. Ich hatte keine Ahnung, dass Frauen in der Öffentlichkeit – vor allem, wenn sie den Status quo kritisieren – mit extremem Hass und Gewalt konfrontiert werden.
So kam es also, dass ich im Oktober 2014 die Petition Zeigt allen Respekt – Schluss mit Sexismus in BILD! aufsetzte. Sie war ein Produkt meiner großen Wut, die ich gegenüber der BILD-Zeitung spürte. »Wut aufgrund von Ungerechtigkeiten und Mangel an Gleichberechtigung ist im Großen und Ganzen wie Treibstoff«1, schreibt Rebecca Traister in ihrem Buch Good and Mad – the Revolutionary Power of Women’s Anger. Darin zeigt sie auf, wie die Wut von Frauen – von den Suffragetten bis zur legendären Schwarzen Bürgerrechtlerin Rosa Parks, #MeToo oder dem Women’s March – transformative Kraft freisetzt. Das ist auch die Erfahrung meiner Freundin und Mentorin Dr. Scilla Elworthy. Die 1943 geborene Gründerin zahlreicher Organisationen und dreimal für den Friedensnobelpreis nominierte Schottin gab mir Folgendes mit auf den Weg: Wut ist wie Benzin. Sprüht man sie unbedacht und wild herum, kann sie Feuer entfachen und zu einer Menge Zerstörung beitragen. Doch wenn man sie gezielt einsetzt, kann sie der Treibstoff für den inneren Motor sein.
MEIN FEMINISTISCHES ERWACHEN
Da war sie also, diese Wut. Ich war gerade Mitte zwanzig und studierte für meinen ersten Masterabschluss am University College London. Das allein war ungewöhnlich, denn meine Eltern hatten nicht studiert. Und in Deutschland entscheiden vor allem das Einkommen sowie der Bildungsgrad der Eltern über den beruflichen Werdegang der Kinder. Während 79 Prozent der Kinder von Akademiker:innen ein Studium aufnehmen, sind es bei den Kindern von Eltern ohne Hochschulabschluss nur 27 Prozent. Einen Master machen nur 11 Prozent der Nichtakademiker:innenkinder; bei den Akademiker:innenkinder sind es 43 Prozent. Die Schicht, in die wir hineingeboren werden, bestimmt zu einem bedeutenden Teil unser Leben. Das individuelle soziale Kapital – zu welcher gesellschaftlichen Gruppe man gehört, wen man kennt– ist ein Türöffner.2
In London war ich so ziemlich mit allem überfordert: mit der Größe der Stadt, der Sprache und dem elitären Umfeld. Ich war eingeschüchtert und fühlte mich ständig unzulänglich. Meine Kommiliton:innen hatten ihre Bachelorstudiengänge in Cambridge, Oxford oder an anderen internationalen Unis absolviert; ich kam von einer gewöhnlichen Universität in Deutschland. Ich vergrub mich in Büchern, ich hatte einiges aufzuholen. Vor allem las ich feministische Literatur, mit der ich bis dahin kaum Berührungspunkte gehabt hatte, die aber für viele Mitstudierende Standard war.
Die Überforderung hatte auch mit meiner Herkunft zu tun. Ich bin in einem 80-Einwohner:innen-Dorf in der Fränkischen Schweiz in Bayern als drittes Kind – mein Zwillingsbruder ist nur fünf Minuten älter – aufgewachsen. Es war eine behütete Kindheit, in einer sehr liebevollen und warmherzigen Familie. Doch ab dem Teenie-Alter fühlte ich mich immer öfter unwohl in meiner Umgebung, weil in der Gemeinde alles sehr traditionell geprägt war. Alle Machtpositionen wie Pfarrer, Wirtshausbesitzer, Sportvorstände, Bürgermeister, Landarzt oder Fahrschullehrer waren – und sind heute noch – von Männern besetzt; und sie werden mit großem Respekt behandelt. Gleichzeitig waren einige davon mir und anderen jungen Frauen gegenüber übergriffig und respektlos. Bei Dorffeiern und Sportfesten kamen sie uns an der Bar viel zu nahe, machten sexualisierte Anspielungen und überschritten Grenzen. Als ich meinen Führerschein machen wollte, war es ein offenes Geheimnis, dass wir junge Frauen nicht Unterricht beim Fahrschulchef nehmen sollten. Es war allgemein bekannt, dass er übergriffig war. Aber dagegen getan hat zu meiner Zeit niemand etwas – denn das war Normalität.
Für meine Eltern war es in der Erziehung von meinen Geschwistern und mir äußerst wichtig, uns einen sehr respektvollen Umgang mit unseren Mitmenschen auf den Weg zu geben. »Idiot« oder andere herablassende Bezeichnungen wurden bei uns nicht ausgesprochen. Auch wenn es mal Meinungsverschiedenheiten gab, so kam es nie vor, dass einander angeschrien oder miteinander despektierlich umgegangen wurde. Wertschätzung, Zuverlässigkeit und Hilfsbereitschaft waren Tugenden, an denen wir gemessen wurden. Mein Papa, als er noch lebte, war trotz seiner sehr langen Arbeitstage unter der Woche immer für die Familie und andere Dorfbewohner:innen da, wenn sie an den Feierabenden oder am Wochenende Hilfe beim Krawattenknotenbinden oder Stromverlegen (er war gelernter Elektriker) brauchten. Das englische Wort Kindness (ein Zusammenkommen aus Wohlwollen, Freundlichkeit und Güte) beschreibt das vordergründige Gefühl, das uns mitgegeben wurde, wohl am besten. Und genau mit diesem Gefühl ließ sich das sehr unangenehme Gefühl, das ich so vielen Männern gegenüber als Mädchen und Teenagerin empfand, nicht vereinbaren. Einerseits wurde diesen Männern in Führungspositionen viel Respekt gezollt, andererseits schien es, dass manche von ihnen diesen Status ausnutzten und sich alles andere als kind vor allem uns jungen Mädchen und Frauen gegenüber verhielten. Das war nicht das, was mein Papa mir vorlebte. Dank ihm wusste ich von klein auf, dass es anders geht.
In London, mithilfe der feministischen Literatur und in einem internationalen, weltoffenen Umfeld, eröffnete sich eine neue Welt für mich. Auf einmal gab es Begriffe und Erklärungen für die vielen unangenehmen Situationen und Ungerechtigkeiten, die ich seit Jahren spürte, aber nie in einen Rahmen fassen oder gar artikulieren konnte. Die Zeit in London war mein Feminist Awakening. Ich lernte beispielsweise, dass, wann immer eine Menschengruppe zum Gesamtobjekt erklärt wird – beispielsweise indem man sie sexualisiert –, diese Individuen dehumanisiert werden. Diese Objektifizierung senkt die Hemmschwelle, Gewalt gegenüber diesen Menschen auszuüben. Anfang 2021 hat eine Untersuchung von UN Women in Großbritannien ergeben, dass 97 Prozent der Frauen zwischen 18 und 24 Jahren bereits sexualisierte Gewalt in Form von Belästigungen im öffentlichen Raum erlebt haben.3 Mädchen in Brasilien sind im Schnitt zwischen neun und zehn Jahre alt, wenn sie das erste Mal sexuell belästigt werden.4 Fast keiner der Täter wird jemals zur Rechenschaft gezogen. Es wird geschätzt, dass in Deutschland weniger als ein Prozent (!) aller Vergewaltiger (nicht nur der angezeigten) für ihre Tat zur Rechenschaft gezogen werden.5 Hierzulande versucht ebenso jeden Tag ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu töten. Jeden dritten Tag gelingt es ihm. Es ist ein Skandal, dass Femizid in Deutschland vor Gericht kein eigener Straftatbestand ist und nicht strengstmöglich bestraft wird.
Die Auswüchse des Patriarchats waren mir also viel klarer, als ich während der Semesterferien 2014 in meine Heimatgemeinde zurückkehrte und beim Bezahlen in der Tankstelle die BILD-Zeitung vor mir liegen sah. Auf der Titelseite wurde neben Fotos von den Dekolletés berühmter Frauen dazu aufgerufen, über den »schönsten TV-Busen Deutschlands« abzustimmen. Ich war angewidert von der Degradierung dieser Prominenten und aller Frauen an sich. Als auflagenstärkste Zeitung in Deutschland trägt dieses Blatt zu der absurd hohen Gewaltrate von Männern gegenüber Frauen bei. Ich hatte damals keine Ahnung, was Aktivismus ist und wie man Dinge verändern kann. Aber ich wollte diese Diskriminierung und Sexualisierung von Frauen nicht dulden, egal wie akzeptiert sie in unserer Gesellschaft ist.
Als ich im Freundes- und Bekanntenkreis von meiner Wut erzählte, fanden viele, ich solle mich nicht so haben. Das sei schließlich normal. Doch wer definiert, was normal und akzeptiert ist? Ich erinnerte mich an mein ohnmächtiges Gefühl als junges Mädchen, wenn die BILD-Zeitung beim samstäglichen Bratwurstessen bei meiner Oma auf dem Küchentisch lag und auch die männlichen Familienmitglieder mit am Tisch saßen. Auf der ersten Seite war neben Nachrichten vor allem über Männer das »BILD-Girl« zu sehen – die sexualisierte Darstellung eines Frauenkörpers. Ich schämte mich und fühlte mich belästigt und erniedrigt. Würde auch ich später begafft, mein Körper kommentiert und sexualisiert werden? Würde ich als Objekt gesehen werden, während die Männer um mich herum als handelnde Subjekte wertgeschätzt sind, in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur agieren und regieren?
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und formulierte einen offenen Brief an den damaligen Chefredakteur der BILD-Zeitung, Kai Diekmann, der dann zur Petition und Kampagne wurde. Ich schrieb: »Es müssen endlich alle Menschen in der Berichterstattung von BILD und BILD.de mit derselben Wertschätzung dargestellt werden: Frauen sind nicht die Lustobjekte einer Gesellschaft!« Knapp 60 000 Menschen unterschrieben. Es war ein nötiger Schritt gegen das seit Jahrtausenden praktizierte Silencing von Frauen. Denn das...
Erscheint lt. Verlag | 24.2.2022 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie | |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Recht / Steuern ► Allgemeines / Lexika | |
Recht / Steuern ► Privatrecht / Bürgerliches Recht | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung ► Staat / Verwaltung | |
Technik | |
Schlagworte | Abrüstung • Aktivismus • Annalena Baerbock • Außenpolitik • Beziehungen • Botschafter • Campaigning • Centre for Feminist Foreign Policy • CFFP • Diplomatie • Diskriminierung • Einmarsch • Entwicklungshilfe • Entwicklungszusammenarbeit • Eurozentrismus • Feminismus • Frauen • Frauenrechte • Frieden • Gender • Gerechtigkeit • Gesellschaft • Gesundheit • Gewalt • Gleichstellung • Humanitäre Hilfe • international • Internationale Beziehungen • Internationale Politik • Intersektionalität • Klima • Klimakrise • Koalitionsvertrag • Kolonialismus • Konflikt • Krieg • Krise • Kritik • LBTBQI* • LGTBQ • Lobbyarbeit • Macht • Männer • Menschenrechte • NGO • Patriarchat • Pazifismus • Politik • Postkolonialismus • Privilegien • Putin • Rassismus • Repräsentation • Revolution • Sicherheitspolitik • Soziale Gerechtigkeit • toxische männlichkeit • Ukraine • UN • Utopie • Vereinte Nationen • Völkerrecht • Wladimir • Zivilgesellschaft |
ISBN-10 | 3-8437-2721-X / 384372721X |
ISBN-13 | 978-3-8437-2721-1 / 9783843727211 |
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