Rechtsstaat am Ende (eBook)

Ein Oberstaatsanwalt schlägt Alarm
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
240 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2412-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Rechtsstaat am Ende -  Ralph Knispel
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»Oberstaatsanwalt Ralph Knispel findet für die Zustände in der Justiz drastische Worte.« Tagesspiegel 'Ein aufregendes Buch über die Justiz' Focus, Helmut Markwort 'Ein Weckruf an die Politik' Cicero Online, Antje Hildebrandt 'Ein Berliner Ermittler redet Klartext' dpa, Jutta Schütz Jeden Tag erlebt Oberstaatsanwalt Ralph Knispel den Bankrott von Recht und Gesetz aufs Neue. Hier legt er offen, wie es um die deutsche Justiz wirklich steht. Und entwickelt konkrete Ideen, mit denen sich die verlorene Macht zurückgewinnen lässt.

Ralph Knispel, Jahrgang 1960, ist Oberstaatsanwalt. Seit 1996 arbeitet er in der Abteilung Kapitalverbrechen, die im Kriminalgericht Berlin-Moabit untergebracht ist, Europas größtem Strafgericht. Seit Juni 2016 ist er dort erneut als Leiter tätig. Zwischen 2011 und 2016 war er Dezernent und Leiter der Abteilung für Gewalt-, Staatsschutz- und Friedensstörungsdelikte.

Ralph Knispel, Jahrgang 1960, ist Oberstaatsanwalt. Seit 1996 arbeitet er in der Abteilung Kapitalverbrechen, die im Kriminalgericht Berlin-Moabit untergebracht ist, Europas größtem Strafgericht. Seit Juni 2016 ist er dort erneut als Leiter tätig. Zwischen 2011 und 2016 war er Dezernent und Leiter der Abteilung für Gewalt-, Staatsschutz- und Friedensstörungsdelikte.

Prolog

Jeden Sonntagabend verfolgt ein Millionenpublikum vom Fernsehsessel aus gebannt die neueste Folge der Krimireihe »Tatort«. Man sieht Ermittelnde, die in Karossen der gehobenen Kategorie oder in schicken Oldtimern am Tatort vorfahren, an dem das Team der Kriminaltechnik längst mit der Untersuchung begonnen und erste Spuren sichergestellt hat. Auch die Rechtsmedizin ist bereits vor Ort. Nach nur einigen Stunden, spätestens am nächsten Tag werden den Kommissariaten die wichtigsten Erkenntnisse übergeben: ein Blatt Papier oder ein dünner Schnellhefter, in dem etwa DNA-Spuren vermerkt sind, Informationen zur Tatwaffe, zum Tatzeitpunkt, zum Einstich- oder Einschusswinkel und dergleichen mehr. Auch die Rechtsmedizin hat in Windeseile Ergebnisse geliefert.

Die Ermittlungsarbeiten nehmen Fahrt auf, wobei die Teams in ihren bestens ausgestatteten Dienststellen auf modernstes Instrumentarium und viele hilfreiche Hände zurückgreifen können. Maßnahmen zur Telefonüberwachung werden auf dem kurzen Dienstweg eingeleitet, selbst für länderübergreifende Ermittlungen genügt ein Telefonanruf.

Ist der Täterkreis erst einmal eingegrenzt, sind besondere Maßnahmen zur Observation nötig oder müssen verschiedene Erlaubnisse eingeholt werden, wird die Staatsanwaltschaft eingeschaltet. Dann schwenkt die Kamera durch lichtdurchflutete große Büros, gern mit Stuck an der Decke und großformatiger Kunst an den Wänden. Vor der Fensterfront eine einladende Sitzgruppe mit Tischchen, auf dem die neuesten juristischen Fachblätter ausliegen, und ein schön designter Schreibtisch, auf dem außer einem Laptop, den neuesten Kommentaren zur Rechtsprechung und einigen dünnen Aktenmäppchen wenig daran erinnert, dass hier auch gearbeitet, nicht nur repräsentiert wird.

Nach anderthalb Stunden Fernsehzeit kann sich das geneigte Publikum entspannt zurücklehnen, beruhigt zu Bett gehen. Der Fall ist aufgeklärt, der oder die Täter gefasst, die Akte der Staatsanwaltschaft und dem Gericht übergeben. Läuft alles nach Plan, wird der Verbrecher rasch vor Gericht gestellt und bald schon seine gerechte Strafe hinter Gittern verbüßen.

Klappe zu, nächsten Sonntag mehr: ein neues Team, ein neuer Fall, ähnliche Rahmenbedingungen. Und sollte es bei den Ermittlungen doch einmal haken, so hat das mehr mit den persönlichen Abgründen der Kommissare zu tun als mit den Abgründen, vor denen Polizei, Strafverfolgungs- und Anklagebehörden im Kampf gegen das Verbrechen tagtäglich stehen. Schön ist sie, die Fernsehwelt, die sonntägliche Illusion der funktionierenden Staatsmacht.

In Wirklichkeit kann ein Täter mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, für seine Tat gar nicht, und wenn doch, dann nicht immer dem gesunden Rechtsempfinden entsprechend zur Rechenschaft gezogen zu werden. In Berlin beispielsweise wurden im Jahr 2019 insgesamt 513 426 Straftaten registriert; das entspricht 14 086 Straftaten pro 100 000 Einwohnern und ist damit bundesweiter Spitzenwert. Das Dunkelfeld liegt weit höher, weil längst nicht jede Straftat zur Anzeige gebracht wird. Das gilt ganz besonders für Deliktfelder wie Taschen- oder Fahrraddiebstahl: In der Hauptstadt wird alle 17 Minuten ein Fahrrad gestohlen. Aber auch in anderen Großstädten scheint Fahrraddiebstahl zu einer Art Naturgesetz geworden zu sein. Die Täter – organisierte Banden, Gelegenheitsdiebe, Kleinkriminelle oder Drogensüchtige auf der Suche nach dem schnellen Euro – können sich auf eines verlassen: dass die Aufklärungsquote so niedrig ist wie bei kaum einem anderen Delikt. In Berlin lag sie bei mageren 3,9 Prozent. Deliktübergreifend lag die Aufklärungsquote insgesamt bei 44,7 Prozent. Während in Berlin statistisch gesehen kaum jemand davon ausgehen kann, nicht Opfer einer Straftat zu werden, können mehr als 55 Prozent der Täter damit rechnen, für ihre Tat nicht belangt zu werden.

Nehmen wir das Beispiel Wohnungseinbrüche, ein Delikt, das bei den Betroffenen oft noch Jahre nachwirkt. Das Gefühl, in den eigenen vier Wänden Opfer einer Straftat geworden zu sein, ist traumatisch. Um nicht bei einer abstrakt anmutenden Beschreibung zu bleiben, will ich sie gern mit wahren Erfahrungen Betroffener konkretisieren. So hat eine mir bekannte Frau, bei der eingebrochen wurde, während sie schlief, sich lange Zeit nicht mehr getraut, nachts zur Toilette zu gehen. Über viele Monate behalf sie sich mit einem Nachttopf.

Andere Opfer sahen sich veranlasst, mit großem finanziellem Aufwand Sicherungssysteme für ihre Wohnräume anzuschaffen, in der Hoffnung, zukünftig von derartigen Erfahrungen verschont zu bleiben. Zur Wahrheit gehört indes die Tatsache, dass diese Sicherungen mitnichten ausschließen, erneut Opfer eines Einbruchs zu werden. Zudem ist nicht jede oder jeder so vermögend, derartigen Aufwand zu betreiben. Viele sehen sich aufgrund ihrer bestens nachvollziehbaren Verängstigung deshalb veranlasst, sich auf die Suche nach einer neuen Wohnung zu begeben. Die Tatsache, dass die rasante Entwicklung der Mieten diesem Ansinnen regelmäßig entgegensteht, liegt auf der Hand.

Bei mir selbst ist vor vielen Jahren zweimal eingebrochen worden, während ich nicht zu Hause war. Einmal ist neben größerem Sachschaden ein Sparschwein geplündert, beim zweiten Mal sind unter anderem die nach dem ersten Einbruch für über 2000 DM installierten Sicherungen erheblich beschädigt worden. Dass der oder die Täter erkennbar ohne Schwierigkeiten über ein – aus Kostengründen nicht weiter gesichertes – Fenster im ersten Geschoss eingedrungen waren, sei nur am Rande bemerkt.

Die Fallzahlen bei Wohnungseinbrüchen haben sich in den vergangenen Jahren zwischenzeitlich vervielfacht, man hat den Eindruck, als habe der Rechtsstaat vor den oft bandenmäßig organisierten Tätern längst kapituliert: Nur bei 15 Prozent der Einbrüche kann überhaupt ein Täter ermittelt werden, und in nur 2,6 Prozent der Fälle kommt es zu einem Gerichtsverfahren. Ein Einbrecher kann also zu 97,4 Prozent davon ausgehen, unbestraft auf freiem Fuß zu bleiben!

Allein anhand dieses Beispiels lassen sich die fundamentalen Probleme des Polizei- und Justizapparats und damit des Rechtsstaats insgesamt skizzieren: Beide Bereiche wurden über Jahrzehnte systematisch kaputtgespart. Es fehlt an Personal und moderner Ausstattung, die Auswertung von Spuren – etwa von DNA – nimmt Monate, teils Jahre in Anspruch, was Tätern einen enormen Zeitvorsprung verschafft. Gerade Einbrecherbanden, die gezielt aus anderen Ländern kommen, um hier ihre Diebeszüge durchzuführen, sind da längst über alle Berge. Selbst wenn Spuren sichergestellt und zeitnah ausgewertet werden konnten, ziehen sich Gesuche um Rechtshilfe im Ausland oft endlos hin, versanden nicht selten in den Mühlen der verschiedenen Behörden. Die Betroffenen, die einen Einbruch angezeigt haben, bekommen irgendwann lapidar mitgeteilt, dass das Ermittlungsverfahren eingestellt wurde. Bei der Bevölkerung entsteht so der Eindruck, als gebe es eine Quasilegalisierung bestimmter Taten, einen Freibrief für die Täter.

Dass dem so ist, liegt auch an den nächsten Instanzen, die nach der Ermittlungsarbeit der Polizei mit Strafsachen befasst sind: den Staatsanwaltschaften als Anklagebehörden und den Gerichten als urteilenden Instanzen.

Allein wegen des Flaschenhalses Polizei ziehen sich viele Strafsachen enorm in die Länge, Ermittlungen dauern Jahre – gerade im Bereich der Organisierten, der Wirtschafts- und Clankriminalität – und umfassen nicht selten mehrere Dutzend Aktenordner mit Tausenden von Seiten. Die Strafsachen landen in einem Justizapparat, der seit Jahren am Limit agiert. Der Bund der Richter und Staatsanwälte in Nordrhein-Westfalen sprach schon vor Jahren von einer »strukturellen Hinrichtung« der Justiz1 durch eklatanten Personalmangel, schlechte Arbeitsbedingungen und miserable technische Ausstattung. Der enorme Druck führe nicht nur zu einer chronischen Überlastung der in der Justiz Beschäftigten, sondern begünstige Fehler und nehme Rechtsuchende quasi zu Geiseln, indem ihre Anliegen nicht oder nur mit teils jahrelanger Verspätung bearbeitet würden.

Am Berliner Sozialgericht etwa stapeln sich 40 000 unbearbeitete Fälle; das Gericht müsste ein Jahr schließen, um allein diesen Berg abzuarbeiten. Aber täglich gehen fast 2000 neue Schriftstücke bei der Poststelle ein.2 Ein Richter am Amtsgericht Güstrow musste sich vor Gericht wegen Rechtsbeugung verantworten, weil er 816 Verfahren wegen Verkehrsverstößen so lange liegen ließ, bis sie verjährten. Mehrfach hatte er bei seinen Vorgesetzten um Unterstützung ersucht, auch das Justizministerium war informiert – geschehen war nichts.

Die deutschen Staatsanwaltschaften schlossen 2018 fast fünf Millionen Verfahren ab – ein Plus von 81 000 Fällen im Vergleich zum Vorjahr. 2019 blieb die Anzahl der von den deutschen Staatsanwaltschaften erledigten Verfahren nach der Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes (destatis) vom 21. August 2020 fast identisch; dass es insgesamt 523 weniger waren, darf dabei getrost vernachlässigt werden.3 Anders hingegen verhielt es sich bei den Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Denn hier war ein Zuwachs von fast 14 Prozent zu verzeichnen.4

Allerdings endeten im Jahre 2019 fast 57 Prozent der Verfahren nicht mit einer Anklage, sondern mit deren Einstellung. Und das, obwohl bei 28 Prozent der Verfahren Beschuldigte ermittelt werden konnten: Gegen sie wurden die Verfahren wegen geringer Schuld entweder ohne (24,6 Prozent) oder gegen eine Auflage (3,4 Prozent)...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Recht / Steuern Allgemeines / Lexika
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aspekt • Clan • Clan Kriminalität • Demokratie • Deutsch • deutsche Politik • Fehlentwicklung • Fehlentwicklungen • Gefahr • Gefahr für den Rechtsstaat • Gerechtigkeit • Gewaltenteilung • Im Recht • Justiz • Kapitalverbrechen • Kriminalgericht • Kriminalität • Politik • Polizei • Recht • Rechtspolitik • Sicherheitspolitik • Sozial • Soziale Gerechtigkeit • Soziologisch • soziologische Aspekte der Kriminalität • Strafvereitelung • Strafverfolgung • Verbrechen • Zustand • Zustände in der Justiz
ISBN-10 3-8437-2412-1 / 3843724121
ISBN-13 978-3-8437-2412-8 / 9783843724128
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