Gesellschaftliche Vielfalt und Erwartungen an das Recht - Katja Nebe

Gesellschaftliche Vielfalt und Erwartungen an das Recht

Perspektiven soziologisch reflektierender Rechtswissenschaft

(Autor)

Buch | Softcover
28 Seiten
2015
Universitätsverlag Halle-Wittenberg
978-3-86977-132-8 (ISBN)
5,50 inkl. MwSt
Themensuche – Anregungen aus der Intersektionalitätsforschung
Maßgeblich angeregt wurde meine Themensuche durch verschiedene Beiträge in dem bei Nomos erschienenen Sammelband „Intersektionelle Benachteiligung und Diskriminierung“, herausgegeben von Simone Philipp u.a. vom Europäischen Trainings- und Forschungszentrum für Menschenrechte und Demokratie in Graz. Anschaulich werden darin soziale Realitäten und Rechtspraxis im Zusammenhang mit mehrdimensionaler Diskriminierung analysiert. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass Menschen selten allein wegen einer einzigen Kategorie gesetzlich besonders geschützter Merkmale benachteiligt werden. Es gibt zahlreiche Hinweise dafür, dass diskriminierende Handlungen oder Strukturen häufiger an mehreren Facetten menschlicher Identität anknüpfen und damit gerade nicht eindimensional, sondern nur mehrdimensional bzw. intersektional zu verstehen sind. Dieses Phänomen lässt sich anhand von Fällen gut illustrieren. Bekannt ist folgender: Ein amerikanischer Autohersteller entlässt fast ausschließlich schwarze Frauen. Die Klage wegen Diskriminierung wird zurückgewiesen, weil in der Vergleichsgruppe der nicht Entlassenen sowohl Frauen als auch Menschen schwarzer Hautfarbe waren. Unberücksichtigt blieb, dass dies vorwiegend weiße Frauen und schwarze Männer, aber eben keine schwarzen Frauen waren; jedes Merkmal für sich besehen, Hautfarbe und Geschlecht, führte bei rein monokausaler Betrachtung zur Verneinung der Diskriminierung der schwarzen Frauen.
Der Kündigungsfall steht exemplarisch für die Ausgrenzung schwarzer Frauen aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Die frühe Kritik hieran war Ausgangspunkt, intersektionelle Diskriminierung als Phä- nomen zu verdeutlichen und zu erforschen. Schauen wir nach Europa und Deutschland. Im Bewusstsein der Gesellschaft und der Rechtsan- wendung ist das Phänomen trotz eines modernen Antidiskriminierungsrechts bis heute allerdings kaum verankert. Das gleichzeitige Zusam- mentreffen mehrerer geschützter Merkmale in der benachteiligten Person wird häufig nicht einmal wahrgenommen. Exemplarisch sei auf den vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) entschiedenen Fall Rosenbladt verwiesen. Gisela Rosenbladt, eine in Hamburg beschäftigte Putzfrau, hatte wie alle Beschäftigten mit Erreichen des 65. Lebensjah- res ihren Arbeitsplatz verloren. Der EuGH hatte eine Altersdiskriminierung der Putzfrau verneint, obwohl im Einzelfall feststand, dass Frau Rosenbladt eine existenzsichernde Rentenleistung nicht beziehen wird. Obwohl die unzureichende Alterssicherung mehrheitlich ein Frauen treffendes Risiko ist, wurde die zum Merkmal Alter hinzutretende Geschlechterdimension vom EuGH nicht beachtet. Die Reihe an Beispielen, in denen eine Person nicht wegen eines einzel- nen, sondern gerade wegen des Zusammentreffens verschiedener Merkmale benachteiligt wird, ließe sich fortsetzen: Die Muslima, die wegen ihres Kopftuches nicht eingestellt oder gekündigt wird, der männliche, junge Muslim, dem der Zutritt zur Disko oder zum Fitnessstudio verwehrt wird, oder die alleinstehende Mutter eines behinderten Kindes, der am Arbeitsplatz Maßnahmen zur Vereinbarkeit von beruflichen und familiären Pflichten versagt werden. Im nationalen Diskurs wird das Phänomen mehrdimensionaler Benachteiligung nur von wenigen bearbeitet. Die geringe Relevanz des Themas in der Rechtsprechung und in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung lässt sich mit dem normativen Befund jedenfalls allein nicht erklären. Sowohl die Erwägungsgründe verschiedener EU-Richtlinien, noch stärker aber § 4 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes benennt zumindest die Notwendigkeit eines besonderen Schutzes vor „Mehrfachdiskriminierung“. Gut denkbar ist, dass es an Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung fehlt. Möglich ist auch, dass ein multidimensionales Antidiskriminie- rungskonzept politisch weniger erwünscht ist. Nicht abwegig scheint mir die These, dass statt eines Multikulturalismus die Assimilation in eine Einheitskultur angestrebt werde und durch Antidiskriminierungs- recht vorrangig Gruppeninteressen geschützt werden sollen. Nicht von der Hand zu weisen ist die Annahme, dass ein kategorial-kausales Antidiskriminierungsrecht Homogenisierungseffekte bewirke.

Inwiefern gehören diese spannenden und diffizilen Fragen zu meinem heutigen Themenspektrum? Eine erste Antwort ist einfach. Der Schutz vor mehrdimensionaler Diskriminierung steht exemplarisch für Diversität und damit für gesellschaftliche Vielfalt als ein Ausschnitt meines Themas. Und auch für die Ergänzung meiner Überschrift – die Erwar- tungen an das Recht – fand ich Anstöße in den genannten Forschungs- arbeiten. Der Sammelband beschreibt nicht allein das Phänomen, son- dern behandelt zugleich theoretische Grundlagen und empirische Befunde, wie dem „Dilemma der Kategorisierung und Gruppenbildung“ begegnet wird bzw. begegnet werden kann. Angesprochen hatte ich schon die vorgeschlagenen konzeptionellen Änderungen im Antidiskriminierungsrecht sowie eine unzureichende Sensibilisierung und fehlende Bewusstseinsbildung ebenso wie politische Strategien. Behandelt werden aber auch Barrieren im Verlauf der rechtlichen Geltendmachung von mehrdimensionalen Diskriminierungen, wie z.B. alternative Bewältigungsstrategien, fehlende zeitliche und personelle Ressourcen, Viktimisierungsängste und tatsächliche Viktimisierungen oder auch starke Spezialisierung in der Beratung orientiert an Kategorien und damit Hemmnisse bei fehlender Identifikation mit einer speziellen Kategorie.

Die Erkenntnisse über Rechtsetzung und Implementierung im Bereich der Antidiskriminierung geben wichtige Impulse für den Brückenschlag vom normativen Recht zur reflektierenden Rechtswissenschaft und reflektierten Rechtsanwendung. Wichtige Stichworte sind Monitoring und Wirkungsforschung, auf Strategien aufbauende Aktionspläne, deren Umsetzung und nachgehende Überprüfung und dies alles basie- rend auf einem interdisziplinären Austausch.

Perspektiven eines solchen Brückenschlages will ich im heutigen Vortrag nun nicht speziell anhand des Antidiskriminierungsrechts vertiefen. Ich möchte den Bogen weiter spannen.
Erscheint lt. Verlag 28.10.2015
Reihe/Serie Hallesche Universitätsreden ; 10
Verlagsort Halle (Saale)
Sprache deutsch
Maße 153 x 227 mm
Gewicht 40 g
Einbandart geheftet
Themenwelt Recht / Steuern Allgemeines / Lexika
Schlagworte Pluralisierung • Rechtswissenschaft • Soziologie • Wandel der Arbeitswelt
ISBN-10 3-86977-132-1 / 3869771321
ISBN-13 978-3-86977-132-8 / 9783869771328
Zustand Neuware
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