Schimanski, Kumpel, Currywurst? -

Schimanski, Kumpel, Currywurst? (eBook)

Identitätskonstruktionen für das Ruhrgebiet seit den 1970er Jahren
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
369 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45879-3 (ISBN)
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Jenseits der Klischees von Schimanski, Kumpel und Pommes-Currywurst bleibt die Identität des Ruhrgebiets und seiner Bewohner:innen merkwürdig blass. Dass es hier eine Pluralität von vordergründig sichtbaren oder versteckten Identitäten gibt, legen die Beiträge dieses interdisziplinär angelegten Bandes aus der Perspektive der Geschichts- und Politikwissenschaft, der Kulturwissenschaft sowie der Theologie offen. Im Zeitraum »nach dem Boom« der 1950er- und 1960er-Jahre entfalteten sich hier - so die These - um die Kern-Identität des schwer malochenden Kumpels unter Tage Teilidentitäten, die in ihrem Kern zwar noch eng mit Bergbau und Stahlindustrie verwoben waren, sich aber in »Subkulturen« wie Sport, Musik, Kunst oder Religion zeigten. Entstehungszeitraum dieser Identitäten waren die 1970er Jahre: eine Zeitspanne, in der die Deindustrialisierung des Ruhrgebiets schon seit einigen Jahren lief, nun aber weitreichende Transformationen - etwa eine erhöhte Arbeitslosigkeit oder der Ölpreisschock - hinzukamen, die das Ruhrgebiet als einst wichtigste Montanregion Europas vor besondere Herausforderungen stellten.

Juliane Czierpka ist Juniorprofessorin für Montangeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Sarah Thieme, Dr. phil., ist Geschäftsführerin des Forschungsbeirates der Universität Münster. Florian Bock, Dr. theol. habil., ist Professor für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Ruhr-Universität Bochum.

Industriekultur erleben. Über Identitätskonstruktionen an den ehemaligen Orten der Industrie im Ruhrgebiet


Constanze von Wrangel

Es ist heute eine sowohl in politischen Statements als auch in der wissenschaftlichen Literatur viel zitierte Behauptung, dass Industriekultur die Identität des Ruhrgebiets prägt und dem Ruhrgebiet nach dem Strukturwandel zu einer neuen regionalen Identität verholfen habe.77 Umso verwunderlicher ist, dass die Ausdeutung dieser Behauptung, ihre Begründung und inhaltliche Ausführung bei genauerem Hinsehen erstaunlich leer bleiben. Dies lässt sich damit erklären, dass es sich sowohl bei dem Konzept der Industriekultur als auch bei dem der Identität bzw. der regionalen Identität um zwei äußerst weitgefasste und nicht unproblematische Konzepte handelt.78 So bewegen sich die Argumente zwischen zwei Extremen – der mehr oder weniger pauschalen Behauptung einer regionalen Identitätsstiftung durch Industriekultur und deren Verneinung, die mit einer Vermeidung der Begrifflichkeiten einhergeht.

Ziel der folgenden Darstellung ist es, mögliche Identitätskonstruktionen im Zusammenhang mit der Industriekultur des Ruhrgebiets näher zu beschreiben und sie auf ihre Wirkmächtigkeit, ihre Widersprüchlichkeit, ihre problematischen Seiten wie auch auf ihre Chancen hin zu untersuchen. Da ich unter Identität in Anlehnung an Stuart Hall ein diskursives und veränderliches Konstrukt verstehe79, das nur insofern existiert, als Menschen sich diesem Konstrukt zuordnen und gleichzeitig selbst an der Entstehung von Identitäten mitwirken, braucht es dazu die Berücksichtigung ihrer Stimmen. Bei meiner Beschäftigung mit der Sekundärliteratur ist mir aufgefallen, dass zwar viel zu Industriekultur publiziert wurde und darin immer wieder auch auf deren identitätsstiftende Bedeutung abgehoben wird, dass es aber eine differenzierte Auseinandersetzung mit Identitätsbildungsprozessen unter Einbezug von Bewohner:innen des Ruhrgebiets nicht gibt.80

Daher stützt sich meine Untersuchung neben der Auswertung von Archivmaterialien zur Internationalen Bauausstellung (IBA) Emscher Park auf 23 Oral History Interviews, in denen ich mit Bewohner:innen des Ruhrgebiets darüber gesprochen habe81, wie sie die materielle und immaterielle Industriekultur des Ruhrgebiets erleben und welche lebensgeschichtlichen Verbindungen zum Ruhrgebiet sie haben. Um dabei möglichst verschiedene Perspektiven einzubeziehen, ist die Gruppe der Interviewpartner:innen hinsichtlich ihres Alters, sozialen Hintergrunds, ihrer Herkunft, vorhandener oder nicht vorhandener Verbindungen zur Montanindustrie usw. bewusst sehr heterogen gewählt. Die quantitative Gewichtung einzelner Positionen tritt dabei hinter deren qualitativer Aussagekraft zurück.

Um sowohl wechselseitige Beeinflussungen der Beteiligten als auch Gegenerzählungen und Widersprüche von Narrativen an den Orten der Industriekultur zu untersuchen, werden diese Interviews kontrastiert und ergänzt durch zehn leitfadengestützte Expert:inneninterviews mit Verantwortlichen der Industriekultur im Ruhrgebiet.82 Dieser Beitrag nimmt Bezug auf die beiden Forschungsfragen:

Welche Identitäten werden entlang der Industriekultur des Ruhrgebiets konstruiert und wie vollziehen sich Identifikationsprozesse in der Bevölkerung?

Welche Gegenerzählungen entstehen in der Auseinandersetzung mit den Narrativen und Orten der Industriekultur?

1.Die Etablierung der Industriekultur im Ruhrgebiet


Für die Beschäftigung mit regionalen Identitätsprozessen im Ruhrgebiet lohnt zunächst ein Blick zurück auf die Entstehung eines regionalen Bewusstseins, denn das Ruhrgebiet ist bekanntlich selbst eine Konstruktion, ein Wahrnehmungsraum ohne gemeinsamen Regierungsbezirk, auch wenn sich viele Arbeiten aus pragmatischen Gründen inzwischen auf die Gebietsgrenzen des Regionalverbandes Ruhr (RVR) beziehen.

Ein ausgeprägtes Regionalbewusstsein bildete sich im Ruhrgebiet erst nach dem Zweiten Weltkrieg und wurde besonders durch die andauernde Kohle- und Stahlkrise Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre gefördert.83 Trotz des sozialverträglich gestalteten Abbaus von Arbeitsplätzen führte die Krise nicht nur zu einer Vielzahl biographischer Brüche, sondern auch zu einer Erschütterung des Selbstverständnisses der Ruhrgebietsbevölkerung, Motor der deutschen Wirtschaft zu sein. Das Ende der gemeinsamen montanindustriellen Grundlage, die seit der Industrialisierung überhaupt erst zur Entstehung des dicht bebauten Ballungsgebietes und seiner hinsichtlich der Herkunft heterogenen Bevölkerung geführt hatte, beförderte sowohl Forderungen nach Formen des zukünftigen Zusammenhaltes als auch Spekulationen über ein drohendes Auseinanderbrechen der Region in Einzelteile. Mit der Aufmerksamkeit für die Krise einher ging die Aufarbeitung der regionalen Geschichte und die Betonung gemeinsamer Wurzeln. Dies und die gemeinsam erlebte Erfahrung des wirtschaftlichen Bruches wie auch des Umgangs damit prägten, so die heute vorherrschende Annahme, die Ausbildung eines gemeinsamen regionalen Bewusstseins.84

Mit der Regionalgeschichte rückten seit den 1970er Jahren auch die ehemaligen Industrieorte ins Zentrum des öffentlichen Interesses. Die Gebäude zu erhalten war zunächst jedoch weder ein bürgerschaftliches noch ein politisches Anliegen der Regierung. Dies änderte sich erst langsam mit dem Engagement von Künstler:innen und Akademiker:innen, die zunächst auf den architektonischen und ästhetischen Wert der vom Abriss bedrohten Industrieanlagen aufmerksam machten und später auch soziale Argumente einbezogen. Im Zusammenschluss mit Bewohner:innen der vom Abriss bedrohten Zechensiedlungen und weiteren Engagierten bildete sich in den 1970er Jahren eine soziale Bewegung, die sich für den Erhalt der ehemaligen Industriegebäude einsetzte.85

In wissenschaftlichen Diskussionen wird rückblickend oftmals von einer Überformung der industriekulturellen Bewegung durch politische Programme gesprochen.86 Und in der Tat gibt es im Ruhrgebiet keine industriekulturellen Orte mehr, die allein durch bürgerschaftliche Gruppen getragen werden, so wie das beispielsweise in Österreich mit dem alternativen »Werkstätten- und Kulturhaus« (WUK) in Wien der Fall ist, das seit seiner Besetzung in den 1970er Jahren bis heute von Engagierten in Selbstverwaltung betrieben wird.87 Im Ruhrgebiet ist die Bevölkerung also im Wesentlichen Besucher:in, nicht Gestalter:in der industriellen Orte.

Einen wichtigen Einfluss auf die Umgestaltung und veränderte Wahrnehmung des Ruhrgebiets hatte erst die IBA Emscher Park (1989–1999), in deren Verlauf viele ehemalige Industrieorte vor dem Abriss bewahrt und neuen Nutzungen zugeführt werden konnten. Allerdings war die Etablierung der Industriekultur in den ersten Jahren keine Zielsetzung der IBA, weder in der Sache noch hinsichtlich der Begrifflichkeit.88 Im Ruhrgebiet tauchte der Begriff »Industriekultur« erst zum Ende der IBA Emscher Park in deren politischen Konzepten auf und wurde mit der Eröffnung der Dachmarke »Route Industriekultur« im Mai 1999 als ein die Region umspannendes Netzwerk etabliert.89 Im Gegensatz zum Verständnis von »Industriekultur« in früheren Konzepten90 ging es während der IBA Emscher Park aber nicht in erster Linie um die Erinnerung an eine vergangene Epoche, sondern um den zukünftigen regionalen Wandel, das heißt um eine positive, auf die Zukunft gerichtete Gestaltung der vom Strukturwandel betroffenen Region.91 Begleitet wurden Prozesse des Erhalts und der Umnutzung ehemaliger Industriegebäude während der IBA Emscher Park durch umfassende geschichtskulturelle Bemühungen wie die Durchführung eines ersten Wettbewerbs zur Industriegeschichte des Ruhrgebiets 1991, von dem ausgehend 1992 das Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher gegründet wurde.92

Inzwischen hat der Begriff »Industriekultur« im Ruhrgebiet allerdings etwas von seinem utopischen Aufbruchscharakter verloren, denn Industriekultur ist heute ein fester Bestandteil des Ruhrgebiets...

Erscheint lt. Verlag 17.7.2024
Sprache deutsch
ISBN-10 3-593-45879-9 / 3593458799
ISBN-13 978-3-593-45879-3 / 9783593458793
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