Über Kriege -  Michael Mann

Über Kriege (eBook)

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2024 | 1. Auflage
720 Seiten
Hamburger Edition HIS (Verlag)
978-3-86854-437-4 (ISBN)
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Warum werden Kriege geführt? Was ist ausschlaggebend für die Entscheidung zum Krieg? Michael Mann erzählt die Geschichte des Krieges vom antiken Rom bis zum Überfall auf die Ukraine, vom kaiserlichen China bis zu Auseinandersetzungen im Nahen Osten, von Japan und Europa bis zur postkolonialen Geschichte Lateinamerikas und zu den Kriegen der Vereinigten Staaten. Obwohl sich die Waffen und die Organisation des Krieges im Laufe der Zeit enorm gewandelt haben, hat sich der Charakter der Entscheidungsprozesse kaum verändert. Fast immer wurde und wird der finale Entschluss von sehr kleinen Gruppen von Machthabern getroffen, manchmal nur von einer Person. Charaktere, Emotionen und Ideologien sind ausschlaggebend. Doch auch Status, Ehre und Ruhm spielen nach wie vor eine große Rolle. Die meisten Herrscher, die Kriege beginnen, verlieren sie, und in historischer Perspektive ist die große Mehrheit der Staaten aufgrund von Kriegen untergegangen. Durch die meisterhafte Verbindung ideologischer, wirtschaftlicher, politischer und militärischer Analysen eröffnet der preisgekrönte Soziologe Michael Mann neue Perspektiven auf die Geschichte und Gegenwart von Kriegen.

Michael Mann ist Professor em. für Soziologie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA). 2018 war er der erste Preisträger des vom Hamburger Institut für Sozialforschung vergebenen Siegfried-Landshut-Preises. Zuletzt erschien von ihm in der Hamburger Edition Die dunkle Seite der Demokratie.

ZWEI


Ist Krieg etwas Universelles?


Wie verbreitet sind Kriege? Sind wir dazu verdammt, Generation für Generation die Platon zugeschriebene Feststellung zu wiederholen: »Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen«? Vielleicht ist der Krieg in unserer menschlichen Natur oder in der menschlichen Gesellschaft angelegt. Alle komplexen Gesellschaften hatten spezielle Gruppen bewaffneter Personen, und nahezu alle stellten Armeen auf. Aber haben auch alle Krieg geführt? Es gibt im Wesentlichen zwei Gruppen von Forschungsergebnissen zu den Fragen: Gab es Krieg zwischen Gesellschaften sehr früher Menschen, und gab es über Raum und Zeit hinweg Variationen in der Kriegshäufigkeit. Beide deuten stark darauf hin, dass Krieg nicht genetisch in der menschlichen Natur angelegt ist.

Die frühesten menschlichen Gesellschaften


Ein Großteil der Debatten betrifft die frühesten Gesellschaften, zu denen viele seit der Zeit des Philosophen Jean-Jacques Rousseau vermuteten, dass sie keinen Krieg führten. Andere schlossen sich der Feststellung Ibn Khalduns aus dem 14. Jahrhundert an: »Du musst wissen, dass Kriege und die verschiedenen Arten des Kämpfens in der Schöpfung, seit Gott sie erschaffen hat, nicht aufgehört haben. […] [Der Krieg] liegt in der Natur der Menschen.«1 Diese Debatte setzt sich bis heute fort.

Unsere ersten Zeugen sind Archäologinnen. Sie haben keinerlei Überreste gefunden, die auf organisierten Krieg hindeuteten, bis sie im Sudan am Nil eine Stätte aus der Zeit um 10 000 v. u. Z. entdeckten. Dort lagen 24 von 59 gut erhaltenen Skeletten ganz in der Nähe von Fragmenten, die Waffen hätten sein können – vielleicht ein Hinweis auf einen Gruppenkampf, was jedoch nicht abschließend geklärt ist. Eindeutiger war der Fund von 27 Skeletten in Nataruk, Kenia, die sich auf 8000 v. u. Z. datieren ließen. Zwölf davon waren gut erhalten, zehn wiesen Verletzungsspuren auf, die auf einen Speer, einen Pfeil oder eine Keule zurückzuführen waren und zum Tod geführt haben dürften. Die Leichen waren nicht förmlich beerdigt worden, was vermuten lässt, dass es sich nicht um eine Fehde innerhalb einer Gemeinschaft handelte, sondern um einen kleinen Krieg zwischen rivalisierenden Gruppen.2 Nataruk lag damals am Turkana-See in einer ressourcenreichen Gegend, daher könnte es bei diesem Kampf zwischen den Gruppen um Ansprüche auf bewässertes Land oder Fischgründe gegangen sein. Es gibt jedoch keinerlei Hinweise, wer die Opfer waren und ob sie dort siedelten.

In Australien zeugen Höhlengemälde von etwa 8000 v. u. Z. von Zweikämpfen, und andere Wandgemälde, die sich auf 4000 v. u. Z. datieren lassen, zeigen Gruppenkämpfe. In Mitteleuropa gibt es aus der Zeit zwischen 5600 und 4900 v. u. Z. ungeordnete Massengräber von Personen, die vermutlich entweder im Kampf oder durch Hinrichtung starben.3 In Spanien deuten Felsenzeichnungen ebenfalls auf eine Zunahme organisierter Gewalt zwischen dem 6. und 3. Jahrtausend v. u. Z. hin, verbunden mit dem Aufkommen von Ackerbau, komplexeren Gesellschaften und Heerführern, die Kriegertruppen anführten und an ihren Grabbeigaben zu erkennen sind.4 Archäologen haben Verletzungen an Skeletten aus der Bronzezeit um 3000 v. u. Z. in Europa mit ausgegrabenen Waffen aus jener Zeit in Beziehung gebracht und erschlossen, dass sie im Kampf getötet wurden. Für eine etwas spätere Periode auf dem Balkan gibt es Schätzungen, dass Waffen und Brustharnische etwa 5 bis 10 Prozent der gesamten Bronzeüberreste ausmachen.5 In Zentralasien existieren jedoch keinerlei eindeutige Belege, dass es vor 3000 v. u. Z. Kriege gab. In Amerika stammen die ersten Indizien von 2200 v. u. Z. In Japan weisen bis 800 v. u. Z. lediglich etwa 4 Prozent der gefundenen Skelette Spuren eines gewaltsamen Todes auf, und es gibt keine bekannten Fälle von gewaltsamem Tod ganzer Gruppen. Wie Hisashi Nakao und seine Kollegen feststellen, lässt eine derart große Variationsbreite zwischen menschlichen Gemeinschaften vermuten, dass Krieg nicht in unserer Natur angelegt ist.6

Wir können nicht sicher sein, dass dies tatsächlich die ersten Kriege waren, denn eine solche Behauptung würde auf dem Fehlen älterer Funde basieren. Vielleicht werden in Zukunft solche älteren Belege entdeckt. Derzeit erscheint es wahrscheinlich, dass eine minimal organisierte Kriegführung irgendwann nach 8000 v. u. Z. begann, in manchen Regionen der Welt wesentlich später, und dass sie vermutlich mit der ortsfesten Landwirtschaft zusammenhing.7 Bereits William Eckhardt war in seiner Prüfung der einschlägigen Literatur zu dem Schluss gekommen: »Krieg war eine Funktion der Entwicklung, nicht des Instinkts.«8

Anthropologen debattieren seit Langem über solche Fragen. Lawrence Keeley behauptete, frühe Jäger-Sammler-Gesellschaften seien extrem kriegerisch gewesen.9 Aber Brian Ferguson ging die angeführten frühen Beispiele eins nach dem anderen durch und erklärte, Keeley habe sie gezielt ausgesucht.10 Dagegen kam er zu dem Schluss, dass nur wenige frühe Gesellschaften regelmäßig Krieg führten. Azar Gat verteidigte Keeley, indem er Daten zu zwei Gruppen zusammenstellte: zu australischen Indigenen und zu Völkern des Pazifischen Nordwestens in Kanada und den Vereinigten Staaten. Seiner Ansicht nach bieten sie »Labore«, in denen von westlichen Wissenschaftlern beobachtete indigene Völker noch »unkontaminiert« sind von der Gewalt des westlichen Imperialismus.11 Kontamination macht es schwierig, von der Erfahrung heutiger Jäger und Sammler allgemeine Rückschlüsse auf prähistorische Jäger-Sammler-Gesellschaften zu ziehen. Bis vor Kurzem noch kriegerische Gruppen wie die heutigen Yanomami in Brasilien haben ihre Grausamkeit großenteils anscheinend erst als Reaktion auf westlichen Kolonialismus entwickelt.12 Gat behauptet allerdings, dass die beiden von ihm untersuchten unkontaminierten Gruppen insofern gewalttätig waren – und zwar vermutlich mehr als moderne Gesellschaften –, als ein höherer Anteil der Männer infolge von Gewalteinwirkung starb.

Gat fokussiert sich auf Jäger-Sammler-Gesellschaften in Australien und verwendet Anthropologenschätzungen zu Tötungsraten in verschiedenen Regionen.13 Die Zahlen der im Kampf Getöteten werden für Zeiträume angegeben, die von zehn Jahren bis hin zu drei Generationen reichen, aber die Schätzungen der männlichen Gesamtbevölkerung beziehen sich anscheinend auf jeweils einen bestimmten Zeitpunkt und rechnen die jungen Männer nicht mit ein, die alljährlich hinzukommen, weil sie erwachsen werden. Bezieht man sie in die Berechnung ein, so ergibt sich eine Rate von 5 bis 10 Prozent der Männer, die eines gewaltsamen Todes starben. Diese Zahlen sind immer noch recht hoch, aber durchaus mit denen moderner Kriege vergleichbar. Graben Archäologen aber in einer Gruppe von vierzig Personen mit zwölf Männern in kampffähigem Alter drei Skelette aus, deren Verletzungen auf einen gewaltsamen Tod hindeuten, läge die Sterberate bei 25 Prozent – höher als in modernen Armeen, was vielleicht an einer Verzerrung durch kleine Fallzahlen liegen mag.

Kriegertrupps der Jäger und Sammler bestanden in der Regel aus weniger als dreißig Männern, zu Kriegen kam es nur gelegentlich und sie dauerten nur kurz. Sie mussten kurz sein, weil praktisch alle gesunden erwachsenen Männer der Gemeinschaft sich daran beteiligten und ihre Familien weder Fleisch noch Fisch bekamen, solange sie sich auf einem Feldzug befanden. Vor einem Angriff gingen die Männer daher auf die Jagd, um ihre Familien für die Zeit ihrer zwangsläufig kurzen Abwesenheit mit ausreichend Nahrung zu versorgen. Wie Gat erklärt, konnte in einem Krieg, an dem sich alle erwachsenen Männer beteiligten, der Großteil der erwachsenen männlichen Bevölkerung getötet werden, falls ein Waffengang schlecht lief. Die höchsten Sterberaten waren fast nie in Standardgefechten zu finden, die häufig bereits nach den ersten Verlusten beendet wurden. Vielmehr gab es die meisten Todesopfer bei Überraschungsangriffen aus dem Hinterhalt. Das Überraschungsmoment konnte zu einer verheerenden Niederlage und zu einem Massaker führen, gefolgt von der Eingliederung der meisten Frauen und Kinder der Besiegten in die siegreiche Gruppe. Was den getöteten Bevölkerungsanteil angeht, wurden diese Episoden in modernen Zeiten lediglich von Genoziden übertroffen, in denen auch Frauen und Kinder ermordet wurden. Solche Ereignisse waren jedoch recht selten und keineswegs typisch für Kämpfe unter indigenen Australiern.

Richard G. Kimber kommt zu dem Schluss: »Indigene unterscheiden sich insofern offenbar nicht von anderen Völkern der Erde, als es trotz einer generell harmonischen Lage gelegentlich zu Konflikten kam.«14 Zudem betont er die weitaus häufigeren Massaker, die europäische Siedler in Australien an indigenen Menschen begingen. Lloyd Warner vermutete, dass der Tod...

Erscheint lt. Verlag 27.5.2024
Übersetzer Laura Su Bischoff, Michael Bischoff, Ulrike Bischoff
Sprache deutsch
ISBN-10 3-86854-437-2 / 3868544372
ISBN-13 978-3-86854-437-4 / 9783868544374
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