Innovativ und wandlungsfähig -  Wolfgang Meixner,  Gerhard Siegl

Innovativ und wandlungsfähig (eBook)

Die Tiroler Industrie seit den 1970er Jahren
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
192 Seiten
StudienVerlag
978-3-7065-6417-5 (ISBN)
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Nach Jahrzehnten des nahezu kontinuierlichen wirtschaftlichen Wachstums in der Nachkriegszeit kehrte ab den 1970er Jahren auch in Österreich und Tirol wieder die 'ökonomische Normalität' mit Auf- und Abschwüngen von Konjunkturzyklen ein. Auf starke Konjunkturjahre folgten teils krisenartige Abschwünge (z.B. Ölpreiskrisen 1973 und 1979, Finanz- und Bankenkrise 2007/09, Coronakrise 2020/22), die Anpassungsprobleme nach sich zogen. Zudem setzte durch weltweite Innovationen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien ('Computerzeitalter') und die zunehmende Digitalisierung ein Wandel der Arbeits- und Lebenswelt ein, der in seinen Dimensionen nicht vorhersehbar war. Umso mehr war die Tiroler Industrie herausgefordert, mit Innovationen und Wandlungsfähigkeit in diesem turbulenten halben Jahrhundert zu bestehen. Dieses Buch folgt auf die 1992 erschienene 'Geschichte der Tiroler Industrie' von Helmut Alexander und benennt die strukturellen Veränderungen in der Tiroler Industrie seit den 1970er Jahren. Die Autoren zeigen die dahinterliegenden treibenden Kräfte auf und beleuchten den Stellenwert der Tiroler Industrie, die wesentlich zum Wohlstand des Landes und seiner Bewohnerinnen und Bewohner beiträgt.

Mag. Dr. Wolfgang Meixner, Studium der Europäischen Ethnologie und der Fächerkombination mit Schwerpunkt Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Innsbruck. Promotion mit einer wirtschaftshistorischen Arbeit zum Unternehmertum in Cisleithanien 2001. Mitarbeit an Forschungsprojekten und Ausstellungen. Seit 2007 Assistenzprofessor am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie. Von Oktober 2007 bis Februar 2020 Vizerektor für Personal der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte in der regionalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Unternehmer:innen- und Unternehmensgeschichte. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen und Aufsätze. Mag. Dr. Gerhard Siegl, Historiker, 2008 bis 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck, 2016 Mitgründer von Heidegger, Hilber und Siegl. Die HISTORIKERinnen, wissenschaftlicher Mitarbeiter in Projekten zur geschichtswissenschaftlichen Grundlagenforschung, Lektor an österreichischen Hochschulen, seit 2019 Geschäftsführer im Wirtschaftsarchiv Vorarlberg. Forschungstätigkeit: Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Neueren und Neuesten Geschichte mit Schwerpunkten in der Agrargeschichte, der Geschichte der sozialen Sicherheit, der Umweltgeschichte, der Geschichte alpiner Wald- und Weidegemeingüter und der Public History.

Standortfaktoren


Die Industrie entwickelte sich anfangs in den Städten oder in deren unmittelbarem Umland, weil dort jene Standortfaktoren vorhanden waren, die für eine industrielle Massenproduktion unabdingbar waren. Auf kleinem Raum waren genügend Arbeitskräfte verfügbar, die Verkehrslage war gut und die Absatzmärkte in der Nähe.45 Diese Voraussetzungen waren in Tirol nicht gegeben. Die kleinen Tiroler Residenz-, Handels- und Gewerbezentren wurden keine Industriestädte, auch wenn sich im 19. Jahrhundert in einigen Stadtzentren Industriebetriebe ansiedelten. So betrieb etwa das Vorarlberger Unternehmen Herrburger & Rhomberg in unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum von Innsbruck eine Textilfabrik. Heute befindet sich auf diesem Gelände das Einkaufszentrum Sillpark. Tirol lieferte aber einen anderen bedeutenden Standortfaktor, nämlich Wasserkraft und damit Energie. Es siedelten sich daher energieintensive Industrien in Tirol an, wie die Papierindustrie oder die Glasindustrie. Ein weiterer Vorteil des Tiroler Standorts waren die vergleichsweise billigen Arbeitskräfte des ländlichen Raumes. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Eisenbahnanschlüsse nach Westen, Osten und Süden fertiggestellt waren und die auf Wasserkraft basierende Erzeugung von elektrischer Energie sich durchzusetzen begann, nahm die Attraktivität von Tirol als Industriestandort gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu. Erst dann gab es namhafte Betriebsansiedlungen, die Industrialisierung des Landes nahm an Fahrt auf.

Die genannten Standortfaktoren waren zu Beginn der Industrialisierung noch als Grundvoraussetzungen anzusehen und sind auch noch immer mitentscheidend für Betriebsansiedlungen. Ihre Bedeutung ließ gegen Ende des 20. Jahrhunderts aber nach. Institutionelle, infrastrukturelle und qualitative Rahmenbedingungen spielten eine immer größere Rolle bei der Standortwahl. So waren etwa weniger die Zahl der zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte und deren Kosten ausschlaggebend, sondern die Bildungs- und Gesundheitsinfrastruktur einer Region. Auch die politische Stabilität, eine unbürokratische, nicht korrupte Verwaltung, die Lebensqualität, Umweltschutz und Raumplanung zählen heute zu den Standortfaktoren.46 Tirol weist diese Qualitäten neben einer guten Verkehrs-, Kommunikations- und Energieinfrastruktur auf und gehört damit zu den Regionen mit hoher Standortattraktivität.47

Dieser grobe Überblick und der für Tirol günstige Befund darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei genauerer Nachschau unter der Oberfläche zahlreiche Themen brodelten, die von den industriellen Interessensvertretungen immer wieder als belastend für den Standort ins Spiel gebracht wurden. Ein zentrales Thema war stets das Verhältnis der Industrie zum Staatswesen, insbesondere in Bezug auf Steuern und Bürokratie. In blumiger Sprache wurde schon 1970 über die österreichische Bürokratie geätzt: „Die Stolperdrähte einer talentierten austrobyzantinischen Bürokratie müssen ersetzt werden […].“48 „Dienstleistung statt Bürokratie!“49 forderte die IV Tirol 1973, ein „gezielter Abbau der Bürokratie“ sei notwendig.50 1988 legte sie nach und meinte, ein „Übermaß an Vorschriften, Auflagen und Bürokratie ist nicht nur unwirtschaftlich“, sondern verhindere auch Neues.51 Wenn die Forderungen der Interessensvertreter der Industrie ungehört blieben, mutmaßte die IV Tirol, sie „verhallten im lärmdämpfenden Gestrüpp einer strukturkonservierenden Bürokratie“.52 1994 bemühten IV-Präsident Arthur Thöni und IV-Geschäftsführer Dr. Dietmar Bachmann das Bild vom Kampf der Industrie „gegen die Windmühlen der Bürokratie“.53 1994 sagten sie, Bürokratie sei „die Entartung des Rechtsstaates zum Gesetzesstaat“ und brachten dafür eine Reihe von Beispielen, an deren Ende sie zu dem Schluss kamen, dass Bürokratie die „Entartung einer guten und ordentlichen Verwaltung“ sei.54 1996 titelte der Pressedienst der IV Tirol: „Bürokratie hemmt Wachstum. Österreich unter 20 Industrienationen an letzter Stelle“.55 Daraufhin wurde „Kundenservice statt Bürokratie“ gefordert, die Bürokratie sollte schneller, konzentrierter und einfacher werden. In Deutschland gebe es 6.000 gewerberechtliche Verfahren pro Jahr, in Österreich seien es 15.000 pro Jahr, ein „untragbarer Zustand für die Industrie“.56 Das Thema „Entbürokratisierung“ war auch im neuen Jahrtausend ein Dauerbrenner in der Interessensvertretung der Industrie, man sprach nun von einer „Umweltbürokratie“, „überbordender Bürokratie“ usw. 2014 meinte IV-Präsident Dr. Reinhard Schretter: „Bürokratie bedeutet Knebelung von Innovativem, Bindung von Produktivem, Abwürgen von Kreativem.“ Im Nationalratswahlkampf sei von der Entfesselung der Wirtschaft die Rede gewesen, aber „aktuell ist in Österreich lediglich eines entfesselt: Der Regulierungswahn. Die boomendste Branche ist die Zettelwirtschaft.“57

Abb. 1: Arthur Thöni, Präsident der IV Tirol von 1992 bis 2000, bei der 50-Jahr-Feier der IV Tirol im Jahr 1997. Quelle: Archiv der IV Tirol

Um 2010 verlor Österreich im Standortwettbewerb an Boden, laut einem internationalen Competitiveness Ranking fiel die Republik von Platz 11 im Jahr 2007 auf Platz 21 im Jahr 2011 und auf Platz 26 im Jahr 2015 ab. Österreich begnüge sich im Standortwettbewerb mit Stagnation und Rückschritt, wetterte IV-Präsident Schretter. Er ortete eine Säumigkeit der öffentlichen Hand bei überfälligen Reformen: „Die Effizienz der Unternehmen wurde in den letzten Jahren gesteigert. Die Kategorie ‚Government Efficiency‘ dagegen hat deutliche Einbrüche zu verantworten.“ Die Interessensvertreter könnten nicht tatenlos zusehen, „wie das Land vom Sog der Mittelmäßigkeit erfasst“ werde.58 Für das Abrutschen in den Rankings war aber nicht nur eine mangelnde „Government Efficiency“ verantwortlich, sondern auch die geringen Forschungsquoten in den heimischen Industriebetrieben.

Ebenso lange und vehement vorgetragen, wie die Forderung nach weniger Bürokratie war der Wunsch nach einer Entlastung des Faktors Arbeit. 1965 rechnete die Interessensvertretung der Industrie vor, dass die Lohnnebenkosten in Österreich bei 74 Prozent, in Deutschland bei 45 Prozent und in der Schweiz bei 38 Prozent lagen. Da Lohnerhöhungen auch die Nebenkosten in die Höhe treiben, wurde der „enorme Kostenauftrieb“ auf die Lohnnebenkosten zurückgeführt.59 1978 waren die Lohnnebenkosten bereits auf 86 Prozent gestiegen.60 In fast jedem Bericht der Interessensvertreter wurde vor einer weiteren Anhebung gewarnt. In den verschiedenen Fachverbänden der Industrie waren die Lohnnebenkosten unterschiedlich hoch. 1984 wurden sie statistisch erhoben, und es zeigte sich, dass von 1960 bis 1984 ein Anstieg der Lohnnebenkosten im Durchschnitt aller Branchen und Arbeitskräfte von 66 Prozent auf über 91 Prozent erfolgte.61 Österreich hatte damit die höchsten Lohnnebenkosten der westlichen Industriestaaten und einen Arbeitskostennachteil, der nur durch die Tatsache etwas gemildert wurde, dass die Nettolöhne relativ gering waren. IV-Präsident Thöni meinte zu den hohen Lohnnebenkosten, dass sie „den legalen Anteil der Wirtschaft weiter schwächen, indem die Nachfrage entweder ins Ausland oder in die Schattenwirtschaft des Pfusches abwandert […]“.62 Die Interessensvertretung forderte daher 1998 „mehr netto, weniger brutto“, denn die Arbeitsstunde sei in Österreich um zehn Prozent teurer als im EU-Durchschnitt.63 Ab der Jahrtausendwende stabilisierten sich die Lohnnebenkosten auf hohem Niveau.

Tab. 1: Lohnnebenkosten der Industrie

 

In Prozent

 

In Prozent

1960

66

1987

93,5

1966

72,5

1993

101,4

1972

76,9

2001

93

1978

85,2

2016

93,8

1984

91,3

 

 

Quelle: Jahresbericht der IV Tirol 1986, S. 16; Jahresbericht der IV Tirol 2001, S. 50. Wert 2016: Durchschnittswert für den produzierenden Bereich in Westösterreich, Statistik Austria

Das Bohren dicker Bretter waren die Interessensvertreter der Industrie gewohnt. Die jahrzehntelange Forderung nach einer Senkung der Körperschaftssteuer wurde umgesetzt, als in Europa ein Wettlauf um die niedrigsten Unternehmenssteuern begann. Von zunächst 34 Prozent sank sie 2005 auf 25 Prozent,64 ab 2022 etappenweise auf 23 Prozent.

Rohstoffe


Nach Maßstäben des 21. Jahrhunderts gilt Tirol als...

Erscheint lt. Verlag 13.5.2024
Sprache deutsch
ISBN-10 3-7065-6417-3 / 3706564173
ISBN-13 978-3-7065-6417-5 / 9783706564175
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