Papst und Zeit -  Otto Kallscheuer

Papst und Zeit (eBook)

Heilsgeschichte und Weltpolitik
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
956 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-2031-8 (ISBN)
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Wahre Lehre und falsche Dokumente, heilige Kriege und diplomatische Kunst: Die katholische Kirche kennt die Abgründe der Politik; schließlich entstand sie aus messianischer Antipolitik. Wie aber konnte eine verfolgte Migrantensekte aus dem Nahen Osten zur größten Institution der Weltgeschichte werden? Warum ist das immer wieder gefährdete Papsttum heute die Verkörperung von Kontinuität?  Der Philosoph und politische Theoretiker Otto Kallscheuer analysiert die Kirche als Corpus, erzählt von der Orthodoxie als Erfindung, vom Klerus als Rückgrat und von der Rettung des Katholizismus durch die Frauen. Er berichtet von den Päpsten als Kriegsherren und Friedensvermittler, als Feinde der Aufklärung und Befreier von weltlicher Ideologie - und von ihrer Verzweiflung angesichts der Weltkriege des Zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Problemgeschichte des kirchlichen Rom bringt auch die spirituelle Grammatik des Westens zum Vorschein.  Längst verlagert sich der Schwerpunkt der katholischen Christenheit in den globalen Süden. Gelingt es heute einem lateinamerikanischen Papst, in den neuen-alten Weltkonflikten, gegenüber dem Haß aktueller Volks- und Religionskriege zum Friedensstifter zu werden? Papst und Zeit liefert die historischen und politischen Hintergründe zu den aktuellen Debatten in der katholischen Kirche - auch zu Zerreißproben im Vatikan. Um das Papsttum zu begreifen, braucht es Weltgeschichte und Theologie.

Otto Kallscheuer, Philosoph und politischer Theoretiker, lebt in Berlin und Rom. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Die Wissenschaft vom Lieben Gott, Zur Zukunft des Abendlandes, Das Europa der Religionen, Gottes Wort und Volkes Stimme. Er war regelmäßiger Autor in Die Zeit, der NZZ, der FAZ, im Kursbuch und im Merkur, und ist derzeit Mitglied der Grünen Akademie sowie der Jury »Sachbücher des Monats« für Die Welt und den rbb. Als Grenzgänger interessieren ihn diskursive Brücken zwischen verschiedenen Disziplinen und Wissenschaftsbereichen - über Fachgrenzen und nationale oder kontinentale »Forschungsblasen« hinaus.

I. INTROITUS


EIN WUNDERBARER SONNTAG

Morto un papa se ne fa un altro.

Vox populi romani

Zwei, drei, vier Päpste


Dass in Rom zwei Päpste gleichzeitig residieren, war in den letzten Jahrhunderten unüblich. Nur im christlichen Mittelalter kam dies mitunter vor. Dann freilich war es undenkbar, dass beide Pontifices gedeihlich zusammenarbeiteten: Zwei Päpste in der Ewigen Stadt – das bedeutete eo ipso, dass sie auf Kriegsfuß miteinander standen. Also residierte jeder der beiden in einer anderen römischen Basilika, wenn er sich nicht in der uneinnehmbaren Engelsburg am Tiberufer verschanzte (dort konnte ihm der andere Papst nichts anhaben). Jeder der beiden wurde von einer anderen stadtrömischen und/oder kirchlichen Partei unterstützt, vielleicht sogar von einer auswärtigen Großmacht (häufig Frankreich oder Spanien). Und so setzte ein jeder der beiden Pontifices den jeweils anderen ab, exkommunizierte ihn mit päpstlichem Edikt als üblen Betrüger, verdammte diesen »falschen« oder »Gegenpapst« per Bannspruch. Leider musste er noch warten, bis dessen städtische Parteigänger geschlagen waren … oder bis dessen auswärtige Schutztruppen wieder aus Rom abzogen. Dann erst konnte er den Usurpator aus dem Lateranpalast oder dem Vatikan vertreiben, um als einziger, wahrer Nachfolger Petri auf dessen Bischofsstuhl Platz zu nehmen. – Gütliche Einigung? – Undenkbar. Einer von beiden musste der falsche sein.

Ein römisches Wunder also, dass am 27. April 2014 nicht weniger als vier Päpste gleichzeitig und in voller Harmonie den Petersplatz als Zentralbühne der katholischen Weltkirche vor über einer Million katholischer Pilger in einer gemeinsamen Zeremonie bespielten.1 – Aber war nicht nur einer davon der echte? – Zugegeben, der tatsächlich seit nun einem Jahr amtierende Pontifex war Papst Franziskus.2 Doch auch sein Vorgänger, der im Vorjahr vom römischen Bischofsamt zurückgetretene Benedikt XVI., nahm prominent und für alle sichtbar – urbi et orbi – im weißen Papsthabit an der Feier dieser doppelten Heiligsprechung teil. Und zur Ehre der Altäre erhoben wurden zwei Kollegen, zwei im Bewusstsein vieler Gläubiger äußerst lebendige Päpste des zwanzigsten Jahrhunderts: Johannes XXIII. (1958–1963), der Papst des Zweiten Vatikanischen Konzils, und Johannes Paul II. (1978–2005), der polnische Pontifex, der das Schiff der katholischen Kirche durch die Schlussphase des Kalten Kriegs gesteuert und ins neue Jahrtausend geführt hatte.

Himmlische Karrieren …


Schon länger auf der Warteliste für Heiligsprechungen stand der rundliche Bauernsohn Angelo Roncalli, il papa buono, der sogar bei den italienischen Kommunisten populäre »gute Papst« Johannes XXIII. Der ehemalige Patriarch von Venedig hatte nur wenige Monate nach seiner Wahl das für die katholische Kirche bahnbrechende Zweite Vatikanische Konzil angekündigt, alsdann vorbereitet … und 1962 auch tatsächlich einberufen. Von Pius IX. und dem Ersten Vatikanum einmal abgesehen, ist das vielen Päpsten im Hin und Her früherer Konzilien und Konzilsankündigungen nicht gelungen.

Außerdem war mitten im Kalten Krieg Roncallis letzte Enzyklika Pacem in Terris (1963) als ein weit über die katholische Kirche hinaus relevanter Aufruf verstanden worden, weil er eine aktuelle, für die Überwindung sozialer Krisen und struktureller Kriegsgefahren bedeutsame Friedensbotschaft enthielt und diese auch in einer neuen Sprache verkündete. Deshalb hatten sich schon bald nach seinem Tod einige Bischöfe dafür ausgesprochen, Johannes XXIII. zeitnah auf dem Konzil per acclamationem heiligzusprechen – vergeblich. Seliggesprochen wurde Johannes XXIII. dann erst vier Jahrzehnte später von Johannes Paul II.3

Dessen eigene posthume Heiligenkarriere hingegen hätte nicht steiler verlaufen können. Zur Totenmesse des athletischen Polen, des ehemaligen Erzbischofs von Krakau und nach viereinhalb Jahrhunderten ersten Nichtitalieners auf dem Stuhle Petri, waren neben einem Staraufgebot gekrönter Häupter und einer ganzen Riege amtierender wie ehemaliger Staats- und Regierungschefs über drei Millionen Menschen aus aller Welt in die Ewige Stadt gekommen. Auf dem Petersplatz erschallten gen Himmel die Rufe: Santo subito! Und es waren nicht allein polnische Patrioten, die von den Zuständigen im Vatikan eine »sofortige Heiligsprechung!« ihres Helden forderten. Nach seinem Pontifikat von mehr als einem Vierteljahrhundert war das Charisma von Johannes Paul II. unter Gläubigen in aller Welt lebendig geblieben – umstritten, aber ungebrochen, trotz und wegen seiner unnachgiebigen Haltung in der Abtreibungsfrage und der christlichen Sexualmoral. Die Begeisterung für den »Medienpapst« Wojtyła war kein fake.

… und irdische Kampagnen


Und dann gab es noch die organisierte weltweite Mobilisierung zur Heiligsprechung des polnischen Papstes: Für die Erhebung Johannes Pauls II. zur »Ehre der Altäre« engagierten sich ganz besonders einige neue kirchliche Bewegungen, insbesondere die italienische Comunione e Liberazione (CL) und das im franquistischen Spanien entstandene Opus Dei.4 Beide hatten sich in den letzten Jahrzehnten auch transnational ausgebreitet – und beide unterhielten beste Beziehungen bis in die Spitzen der römischen Kurie. Papst Wojtyła selbst hatte gerade diese beiden Gruppen ganz besonders gefördert, neben einigen anderen, oft von charismatischen Führern gegründeten neuen geistlichen Gemeinschaften (unter denen es freilich auch etliche faule Früchte gab: sektenartige Zwangsverbände wie Das Werk oder die Legionäre Christi).

Der polnische Papst sah in solchen Gruppen zukunftsträchtige Formen einer Dynamisierung der Kirche und Gegengewichte zu manchen schwerfälligen (oder widerspenstigen) Bischofshierarchien. Zudem waren sie ad hoc einsetzbar … und ausgesprochen kampagnenfähig: Abertausende organisierte Jugendliche einer begeisterten »Generation Wojtyła« waren aus den Reihen solcher Bewegungen zu den Weltjugendtagen und anderen Massenevents des Papstes in aller Welt gereist. Jetzt, Jahrzehnte später, bildeten sie – im Bunde mit einigen Netzwerken von (neo-)konservativ eingestellten Bischöfen – eine Art innerkirchliche Lobby für die alsbaldige Heiligsprechung Wojtyłas, gewissermaßen im Vorhof des offiziellen Kanonisierungsprozesses. Das Motto dieser diffusen Pressure-Group: Jetzt, nach dem Tod des großen Steuermanns, drohe der Kirche allenthalben die Anpassung an den unheiligen Zeitgeist – und dagegen gelte es, mit dem Heiligen Johannes Paul II. sofort ein energisches Signal zu setzen: Santo subito!

Nachfolger Benedikt XVI. war unter Johannes Paul II. für fast ein Vierteljahrhundert der oberste Glaubensprüfer der katholischen Kirche gewesen und teilte solche Ängste vor dem Abdriften in eine Welt ohne jeden Gottesbezug ganz offensichtlich. Er selbst hatte sie als Dekan des Kardinalskollegiums auf den Begriff gebracht, als er in seiner Rede zur Eröffnung des Konklaves (am 18. April 2005) die Kirche vor einer »Diktatur des Relativismus« warnte. [ FOCUS (2) Körperhaltung] Jetzt ließ der ansonsten – in dogmatischen Fragen – so hyperkorrekte Deutsche die Fristen für kirchliche Heiligsprechungen einfach unter den Tisch fallen: Benedikt XVI. wartete die vorgeschriebenen fünf Jahre nicht ab, welche eigentlich nach dem Tod eines im »Geruch der Heiligkeit« stehenden Menschen verstreichen müssen, bevor ein Kanonisierungsverfahrens überhaupt eröffnet werden darf. Nur einen Monat nach Karol Wojtyłas Tod startete Papst Ratzinger das Verfahren zu dessen Heiligsprechung – und bereits fünf Jahre später sprach er seinen Vorgänger selig! Die Santo-subito!-Bewegung hatte erfolgreich aufs Tempo gedrückt.5

Kritische Erwähnung verdient leider eine der fragwürdigsten Nebenfolgen dieses (auch in der Kurie nicht unumstrittenen) kurzen Prozesses – es handelt sich um ein Nichtereignis: Fragen zu den seit einigen Jahren ans Tageslicht und in einigen Staaten vor die Gerichte drängenden sexuellen Missbrauchsaffären von allerhöchsten Würdenträgern der katholischen Kirche unter Papst Johannes Paul II. spielten in seinem Santo-subito-Verfahren praktisch keine Rolle. [ Kapitel XXIII. Missbrauchte Reinheit] Wenn sie am Rande zur Sprache kamen, so nur, um sogleich beiseitegewischt zu werden. Nein, es sei »keinerlei persönliche Verwicklung des Dieners Gottes [sc. Johannes Pauls II.] in das Verfahren gegen Pater Marcial Maciel bekannt«, erklärte Ratzingers Nachfolger als Präfekt der Glaubenskongregation, William Levada, im Seligsprechungsverfahren.6 Wie aber war es möglich, dass während Wojtyłas Pontifikat serielle...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2024
Sprache deutsch
ISBN-10 3-7518-2031-0 / 3751820310
ISBN-13 978-3-7518-2031-8 / 9783751820318
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